J. Matthäus u.a. (Hrsg.): Alfred Rosenberg

Cover
Titel
Alfred Rosenberg. Die Tagebücher von 1934 bis 1944


Herausgeber
Matthäus, Jürgen; Bajohr, Frank
Erschienen
Frankfurt am Main 2015: S. Fischer
Anzahl Seiten
650 S.
Preis
€ 26,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfram Meyer zu Uptrup, Ministerium für Bildung, Jugend und Sport, Potsdam

Der Verlag verspricht: „Ein Schlüsseldokument zur Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust.“ Diese Vermutung ist für jeden, der sich intensiver mit der Geschichte des Nationalsozialismus befasst, naheliegend. Doch hält das Buch, was der Verlag verspricht?

Nachdem die Tagebücher Rosenbergs 1945 hinter einer falschen Wand in einem Schloss in Bayern gefunden worden waren, lagen sie dem Internationalen Militärtribunal (IMT) in Nürnberg als Beweismittel vor. Doch schon während des Prozesses kam es zu Verlusten von Dokumenten, wovon auch diese Tagebücher betroffen waren. Einige Zeit später befand sich ein Teil des Tagebuches im US-Nationalarchiv, weitere Teile im Privatbesitz von Robert Kempner, der bei der IMT-Anklagevertretung arbeitete. Kempner hätte die Tagebücher schon im August 1945 der Verteidigung Rosenbergs zur Einsichtnahme aushändigen sollen, was aber nicht geschah. Nun, nach Teilveröffentlichungen durch Kempner und durch Rosenberg-Adepten, liegt endlich eine Gesamtausgabe aller bekannten Fragmente der Rosenberg’schen Tagebücher vor. Es ist nicht zu ermitteln, ob es weitere Teile gibt, die verloren gegangen sind. Die auffälligen Lücken könnten auch mit anderem, etwa Arbeitsbelastung oder Schreibfaulheit, erklärt werden.

Die Herausgeber stellen dem Text der Tagebücher eine knapp 90-seitige Einleitung voran, in der biographische Informationen, die Textgeschichte und die heute interessierenden zentralen Themen „Judenverfolgung“ und „Lebensraumkrieg im Osten“ erörtert werden. Dem rund 500 Druckseiten umfassenden Tagebuchtext folgen 23 ergänzende Dokumente mit Auszügen aus Schriften und Reden Rosenbergs sowie Protokollen.

Biographisch geht die Einleitung nicht über die Informationen hinaus, die Ernst Piper in seiner Biographie bereits vor einiger Zeit vorlegte.1 Auch Pipers Grundthese, dass der ideologische Einfluss Rosenbergs auf Hitlers Denken und die nationalsozialistische Ideologie in der Forschung systematisch unterschätzt werde, wird von Matthäus und Bajohr bestätigt. Was aber an allen drei Autoren verwundert, ist die nur partielle Aufnahme von Ergebnissen der Antisemitismusforschung, die für eine Analyse und ein Verständnis der Rosenberg’schen Politikkonzeption hilfreich sein könnten. Die Feststellung, Alfred Rosenberg habe an eine allumfassende jüdische Weltverschwörung geglaubt, bleibt viel zu sehr an der Oberfläche (S. 40ff., vgl. Tagebuch, S. 201 u. S. 213). Natürlich sind die Nazi-Schriften heute schon deswegen unerträglich und schwer zu lesen, weil wir wissen, zu wie viel Menschenverachtung und zu welchen Verbrechen das darin entfaltete Denken führte. Doch wäre es durchaus lohnend gewesen, die im Anhang publizierten ergänzenden Dokumente für eine systematische Analyse von Rosenbergs Denken auszuwerten. Somit würden auch die engen Verbindungen zwischen einzelnen Ideologemen und dem politischen Handeln nach 1933 besser sichtbar. Auch vermisst man in der Einleitung analytische Bezüge darauf, dass Rosenberg hinter jeder anti-deutschen politischen Regung in Geschichte und Gegenwart die „Juden“ sah, die alle nichtjüdischen Völker beherrschen wollten. Wenn man die Vielzahl weiterer Artikel und Schriften Rosenbergs heranzieht, bestätigt sich diese ideologische Fixierung, die in fast jede seiner tagespolitischen Äußerungen hineinwirkte.

Als Beispiel mag Rosenbergs Rolle im Prozess der Judenvernichtung angeführt werden, die sicher bedeutender war, als dies im Vorwort dargestellt wurde: Von März bis Mai 1941 führten Hitler, Rosenberg, Göring, Keitel und andere mehr Gespräche über unterschiedlichste Aspekte des geplanten „Rußlandfeldzuges“, also des Vernichtungskrieges im Osten. Rosenberg nahm daran teil mit grundsätzlichen Überlegungen und mit Planungen für die Arbeit seines Reichsministeriums für die besetzten Ostgebiete. Im Zuge dieser Beratungen fertigte Rosenberg unter anderem zwei Denkschriften an, die sich mit Verwaltungs- und Personalfragen beschäftigen sowie die politischen Aufgaben in dem Gebiet beschreiben, das im Zuge des „Eventualfalles“, des Überfalls auf die Sowjetunion, von ihm beherrscht werden sollte. Von den Juden war dabei nur wenig die Rede, sie sollten „entfernt“ werden: Die Planungen gehen interessanterweise davon aus, dass die Bevölkerungsgruppe der Juden keine Rolle spielen würde. Vom Kampf gegen den Bolschewismus ist häufiger die Rede. Das sollte aber nicht dazu verleiten, die Texte als antisemitismusfrei anzusehen. Rosenberg hatte bereits in vielen Variationen über Jahre hinweg eine Lösung der Judenfrage gefordert, von der wir wissen, dass sie eine ideologisch konstruierte, real nicht existente Frage war. Kern der Vorstellung von Rosenberg und anderen Nazis war eine Herrschaftskonkurrenz auf nationaler und internationaler Ebene zwischen Juden und Nichtjuden. Wer die Sprache Rosenbergs und anderer führender Nationalsozialisten kennt, weiß, dass bestimmte Begriffe in den meisten Redekontexten antisemitische Gehalte mit transportierten, die nicht mehr expliziert werden mussten. Den nationalsozialistischen double speak in Rechnung gestellt, kann man die antisemitischen Gehalte entdecken, die jenseits der realpolitischen Ebene mit kommuniziert werden. Das bedeutet, dass das im Tagebuch reflektierte Handeln und die in der Einleitung skizzierte Handlungsebene nicht neben der Ebene ideologischer Ungeheuerlichkeiten stand, sondern beide miteinander untrennbar verwoben waren. Vielleicht wäre es sinnvoll, über die Darstellung der Ereignisse hinaus mehr Wert auf das Erklären von Zusammenhängen und Ursachen zu legen?

Mitunter bleibt es offen, wie weit die Judenvernichtung tatsächlich Gegenstand von Unterredungen war, wie bei Rosenbergs Notiz vom 2. April 1941: „... was ich heute nicht niederschreiben will“. Sie kann sich darauf beziehen, ähnlich den Andeutungen im Tagebuch von Goebbels. Zeiten, in denen sich die Judenverfolgung verschärfte, wie im November 1938 oder im Sommer 1941 (Beginn der Erschießungen im Rahmen der „Endlösung“), bilden auffällige Lücken im Tagebuch. Bezeichnend ist nur, dass sowohl Rosenberg, wie auch Goebbels und Himmler, sich recht wortkarg gaben, wenn es um die konkrete Beschreibung der von ihnen seit den 1920er-Jahren so deutlich geforderten Entfernung oder Vernichtung der Juden ging. Hier trägt also das Tagebuch wenig bei, wenn es auch einige Hinweise dafür liefert, dass Hitler die Maßnahmen gegen politische Gegner auch im Detail persönlich anordnete (vgl. S. 139), ein Argument gegen alle Interpretationen, die Hitler als „schwachen Diktator“ im Chaos konkurrierender Institutionen sahen.

Natürlich finden sich viele Details, die Rosenberg und sein Verhältnis zu anderen NS-Funktionären charakterisieren. So sind die verächtlichen Kommentare zu Goebbels kaum zu zählen, dem er immer wieder eine opportunistische Verfremdung der wahren NS-Weltanschauung vorwarf. Auch wurde jeder Fehltritt und jede Niederlage Ribbentrops, der ihm bei der Verteilung staatlicher, mit exekutiver Gewalt ausgestatteter Ämter vorgezogen wurde, peinlich notiert. Emotionen werden spürbar, wenn Rosenberg die lange ersehnte Bestätigung durch Hitler erfährt, der ihn als „Kirchenvater des Nationalsozialismus“ bezeichnete (S. 190), was Rosenberg, dem jedwede Ironie offenbar fremd war, als großes Lob verstand. Er war durchaus stolz über geraubte Kunstschätze in Paris im Wert von 1 Mrd. Reichsmark (S. 356). Richtig ausführlich und schwungvoll wird Rosenbergs Tagebuch vor allem dort, wo er mit Hitler reden konnte und von ihm Bestätigung erfuhr – ein deutliches Zeichen für seine Abhängigkeit vom „Führer“.

Das Tagebuch sollte Anlass geben, über die Rolle Rosenberg neu nachzudenken. Nach Hitler war er wohl derjenige, der die politisch-thematische Ausrichtung der Weltanschauung entscheidend beeinflusste und der für jeden politischen Schritt die entsprechende Begründung formulieren konnte, mit Ausnahme des Ribbentrop-Molotow-Paktes: „Ich habe das Gefühl als ob sich dieser Moskau-Pakt irgendwann am Nationalsozialismus rächen wird“ (S. 284). Die zentrale Rolle Rosenbergs in der Dissemination politischer, auf das aktuelle Geschehen bezogener Ideologeme, die die Presse und die vielen Tausenden Parteiredner reproduzierten, wird im Tagebuch sichtbar, selbst dann, wenn man in mancher Selbstdarstellung eine Portion Eitelkeit als „gefährlichster Mitarbeiter“ Hitlers (S. 171) berücksichtigt. Rosenbergs Einfluss in all seiner ideologischen Bedeutung wurde auch deutlich in der Initiative zur Einführung eines weltanschaulichen Offiziers in Einheiten der Wehrmacht, der von ihm schon im Dezember 1940 geplant, erst drei Jahre später als Nationalsozialistischer Führungsoffizier eingeführt wurde (S. 355). Immerhin gab es von diesen NSFO Ende 1944 rund 47.000 nebenamtliche und 1.100 hauptamtliche, die in der Wehrmacht für die weltanschauliche Begründung und Motivierung zu sorgen hatten.

Die Spuren der Einwirkung Rosenbergs auf die Judenverfolgung sollten genauer vermessen werden. Schließlich hat er jahrelang politische Maßnahmen gegen Juden gefordert, die dann später in einem breiten Konsens der Handelnden umgesetzt worden sind. Er hat durchaus die Planungen für den Überfall auf die Sowjetunion mit bestimmt und versuchte als Reichsminister für die besetzten Ostgebiete mit einer Politik des divide et impera die nicht-russischen Völker zu gewinnen – was von seinen Gegenspielern durch deren Praxis von Mord und Brand konterkariert wurde. Doch selbst die Rosenberg’sche Form einer Besatzungspolitik im Osten hätte die Vernichtung der dort lebenden Juden mit sich gebracht, da sie – und selbst jene, die in galizischen Schtetln darbten – ein Teil der von Rosenberg und allen anderen Nazis antizipierten Konkurrenz um die Weltherrschaft waren.

Die Herausgeber kommentieren den Tagebuchtext äußerst sparsam. Die auftauchenden Personen werden in der Regel kurz charakterisiert. Die Sachverhalte, auf die sich die Notizen beziehen, werden nicht weiter erklärt, hier ist der Leser auf sein Vorwissen zurückgeworfen. Dass Rosenberg gegen Ende des Krieges die nationalsozialistische Herrschaftspraxis als Abfall vom Ideal kritisierte, zeigt erneut seine ideologische Fixierung. Doch bietet er ein erstaunlich geringes Maß an intellektueller Reflexion in seinem Tagebuch, auch werden entscheidende Ereignisse von ihm oft nur gestreift. Die Momente der Häme gegen seine Konkurrenten im Machtspiel und das penible Notieren der Momente einer Bestätigung seiner Bedeutung zeigen, dass bei Rosenberg Hybris und Eitelkeit die Feder führten.

Anmerkung:
1 Ernst Piper, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005.

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