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Titel
Visualisierte Gegenseitigkeit. Prekarien und Teilurkunden in Lotharingien im 10. und 11. Jahrhundert (Trier, Metz, Toul, Verdun, Lüttich)


Autor(en)
Groß, Katharina Anna
Reihe
Monumenta Germaniae Historica Schriften 69
Erschienen
Wiesbaden 2015: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
LXIV, 388 S.
Preis
€ 55,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andrea Stieldorf, Institut für Geschichtswissenschaft, Abt. Historische Hilfswissenschaften und Archivkunde, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Ausgehend von der Beobachtung, dass im Lotharingien des 10. und 11. Jahrhunderts nicht nur besonders frühe Teilurkunden zu beobachten sind, sondern dass diese zudem häufig Prekarien, welche in Lotharingien weit verbreitet waren, betreffen, will die Saarbrücker und zugleich Pariser Dissertationsschrift klären, wann, wo, wie und warum sich beide Phänomene berührten (S. 7), ob dabei stärker Veränderungen der sozialen Praxis im Vordergrund standen oder eher „verwaltungstechnische“ Prozesse (S. 39f.). Die Arbeit gliedert sich in einen systematischen Teil (S. 43–263), in dem zunächst auf die Urkundenproduktion in den lothringischen Bistümern und Klöstern eingegangen wird, bevor die Entwicklung der Prekarien zwischen 900 und 1121 vorgestellt wird, um abschließend die Teilurkunden selbst in den Blick zu nehmen. In einem als „Synthese: Geschichte einer Begegnung“ (S. 264–303) bezeichneten Abschnitt wird das Phänomen der Teilurkunden in seiner sozialen Praxis kontextualisiert.

Grundlage der Untersuchung sind 198 Prekarien der Zeit, von denen 47 als Teilurkunde ausgefertigt wurden, wobei vor allem Toul und Trier aus den anderen ausstellenden Institutionen hervorragen. Groß geht von der Überlegung aus, dass sich die Zweiseitigkeit des Rechtsgeschäftes, durch das dauerhafte Beziehungen zwischen den Vertragspartnern hergestellt wurde, mittels der Teilurkunden gut visualisieren ließ, wobei sie dem 10. bis 11. Jahrhundert mit der jüngeren Forschung1 den Charakter einer eigenen Epoche, die sich durch große Experimentierfreude auszeichne (S. 9–16), zubilligt. Konkret lenkt Groß den Blick auf die Urkundenproduktion im Umfeld der Bischöfe bzw. der Klöster und rückt für ihre konkrete Fragestellung insbesondere die Erzbischöfe von Trier und Bischöfe von Toul ins Zentrum, bei denen sie teilweise ein direktes Einwirken vermutet. Dies spiegele zum einen ihre urkundliche Schulung, zum anderen aber die zunehmende Bedeutung der Herrschaftsgewalt der lothringischen Bischöfe, die seit dem 10. Jahrhundert ihre Machtbereiche immer stärker durchdrangen (S. 305).

Dabei geht sie mit überzeugenden Argumenten von einer eigenständigen Entwicklung der Teilurkunden in Lothringen aus, die aus den vormals eher üblichen Doppelausfertigungen bei Prekarien hervorgegangen seien und auf soziale Veränderungen (neben die Bischofsherrschaften trat ein politisch und zeremoniell bedeutende Adelsmacht, im 11. Jahrhundert kamen weitere Gruppen von Adeligen hinzu, die integriert werden mussten) ebenso wie solche bezüglich der Bodenleihe reagiert hätten. In Bezug darauf interpretiert Groß nicht nur die Analyse der Rechtsinhalte der Chirographen, sondern auch deren Formular sowie ihre äußere Gestaltung. Nicht ganz folgen vermag man ihr freilich, wenn sie den Aspekt der Rechtssicherheit deutlich hinter den der Visualisierung des gleichrangigen Verhältnisses der Parteien beim Rechtsgeschäft zurückstellen möchte, die hinsichtlich ihrer Interessen einen Kompromiss ausgehandelt hatten.

Etwas bedauerlich ist, dass Groß nicht weiter nach den Urkunden als Objekten fragt, die sogar zu handelnden Subjekten werden können, wie es ihr Eingangszitat aus einer Urkunde Bischof Brunos von Toul nahelegt, wo die Urkunde selbst als mediatrix der als Chirograph bezeichneten Rechtshandlung genannt wird, worin Groß zurecht einen Ausdruck des inszenierten Kompromisses sieht, der überdies auch unter den gewandelten sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen des 11. Jahrhunderts eingesetzt werden konnte (S. 253–261). Möglicherweise hätten sich hier vor dem Hintergrund der konkreten Rechtsgeschäfte jedoch weitere Anhaltspunkte gefunden, warum bei Prekarien häufig, aber keineswegs in der Mehrzahl der Fälle auf Teilurkunden zurückgegriffen wurde. Dieser Aspekt kommt in der Untersuchung jedoch zu kurz, ebenso wie die weitgehende Ablösung der Teilurkunden im 12. Jahrhundert, insbesondere durch von den Vertragsparteien besiegelte Urkunden.

Auch wenn nicht alle Fragen geklärt werden, liegt mit dieser Studie eine sorgfältige Studie zu den lothringischen Teilurkunden vor, die neben klassisch diplomatischen Fragestellungen ganz unterschiedliche Forschungsansätze, etwa aus dem Umfeld der pragmatischen Schriftlichkeit, des Gabenaustauschs usw., heranzieht, um so den Untersuchungsgegenstand aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten. Erfreulicherweise wird dabei die Theoriebindung nicht zum Selbstzweck. Die Untersuchung zeichnet sich durch eine große Quellennähe aus, die zu zahlreichen neuen Erkenntnissen in Bezug auf die Chirographen führt. Hilfreich ist zudem der Anhang (S. 311–336), der neben einem Katalog der Teilurkunden auch eine Übersicht über die behandelten Prekarien und Leiheverhältnisse bietet sowie zwei bislang ungedruckte Teilurkunden des 11. Jahrhunderts ediert. Der umfangeiche Abbildungsteil weist nicht nur Abbildungen von Teilurkunden usw. auf, sondern auch den Text begleitende Tabellen, z.B. zur Verbreitung der drei Prekarienformen oder der Laufzeit der Verträge.

Anmerkung:
1 Vgl. z.B. Dominique Barthélemy, La société dans le comté de Vendôme de l’an mil au XIVe siècle, Paris 1993; Olivier Guyotjeannin, „Penuria scriptorum“. Le mythe de l’anarchie documentaire dans la France du Nord (Xe-première moitié du XIe siècle), in: Bibliothèque de l’École de Chartes 155 (1997), S. 11–44; Hans-Werner Goetz, Gesellschaftliche Neuformierungen um die erste Jahrtausendwende? Zum Streit um die „mutation de l’an mil“, in: Achim Hubel / Bernd Schneidmüller (Hrsg.), Aufbruch ins zweite Jahrtausend. Innovation und Kontinuität in der Mitte des Mittelalters, Ostfildern 2004, S. 31–50.

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