Cover
Titel
Faktor Öl. Die Mineralölwirtschaft in Deutschland 1859-1974


Autor(en)
Karlsch, Rainer; Stokes, Raymond G.
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
460 S., 48 Abb.
Preis
€ 35,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Bührer, Institut für Sozialwissenschaften, Technische Universität München

Die Autoren dieses äußerst apart aufgemachten Buches – Umschlag und Einband wurden dem Gegenstand farblich nachempfunden – versprechen nicht mehr und nicht weniger als einen „definitiven Überblick über die Entwicklung der Ölindustrie in Deutschland zwischen 1859 und 1974“ (S. 12). Da trifft es sich gut, dass sie die LeserInnen weder stilistisch – kurze, oft kaum zwei Buchzeilen lange Sätze überwiegen zumindest im ersten Teil – noch inhaltlich – auch komplizierte technische oder ökonomische Sachverhalte werden meist allgemeinverständlich erklärt – überfordern. Und über den Zeitraum von 1975 bis zur Gegenwart darf ja auch noch geforscht werden.

Karlsch und Stokes, beide als Wirtschafts- bzw. Unternehmenshistoriker ausgewiesen, haben sich die Arbeit geteilt. Karlsch hat den auch an Seitenzahlen längeren Teil von 1859 bis 1945 übernommen. Die Darstellung setzt ein mit den Anfängen der globalen Mineralölwirtschaft – in Deutschland waren dies bis zur Jahrhundertwende allerdings im Wesentlichen einige wenige Händler, Bohrgesellschaften und teerverarbeitende Betriebe. Die Geburt der „modernen Erdölindustrie“ datiert er auf das Jahr 1859, als im amerikanischen Titusville eine erste erfolgreiche Ölbohrung niedergebracht wurde, der in kurzem Abstand „Hunderte weitere“ folgten (S. 29). Schon 1860 gelangten die ersten Petroleumlieferungen nach Europa, Hamburger und Bremer Kaufleute taten sich als Pioniere im Handel mit dieser neuen, nicht ungefährlichen Ware hervor, und profitierten seit Mitte der 1880er-Jahre von der Umstellung des Transports von Segelschiffen auf Tankdampfer. Das hoch industrialisierte Kaiserreich entwickelte sich rasch zum „größten europäischen Petroleummarkt“ (S. 47). Die heimische Erdölförderung kam dagegen, ungeachtet beachtlicher Leistungen deutscher Wissenschaftler und Techniker, mangels ergiebiger Vorkommen nur langsam voran und blieb im internationalen Vergleich gänzlich unbedeutend. Die Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg sieht Karlsch vor allem durch zwei Tendenzen gekennzeichnet: durch die Dominanz ausländischer Konzerne, allen voran die Standard Oil Company, auf dem deutschen Markt mit der Folge heftiger Preiskämpfe sowie durch einen Bedeutungsverlust des Petroleums, des „Lichts des armen Mannes“, zugunsten von Schmierstoffen und Benzin.

Der Krieg stellte das Deutsche Reich, das seinen Mineralölverbrauch zu 90 Prozent durch Importe deckte, vor enorme Probleme, zumal hierzulande die „Bedeutung des Erdöls für die moderne Kriegführung zwar nicht negiert, aber wohl doch unterschätzt wurde“ (S. 95). Staat, Militär und Wirtschaft reagierten auf die Unterbindung überseeischer Erdöllieferungen mit Bewirtschaftungsmaßnahmen und der Suche nach Ersatzprodukten. Hoffnungen weckte insbesondere die von der BASF entwickelte und seit 1925 von der IG Farbenindustrie in großem Stil betriebene Kohlehydrierung, die jedoch angesichts sinkender Weltmarktpreise für Benzin zu keinem Zeitpunkt Wirtschaftlichkeitskriterien genügte. Dass die nationalsozialistische Regierung dennoch die Mineralölsynthese förderte, resultierte aus dem Mangel an Devisen, der Hoffnung auf positive Arbeitsmarkteffekte und militärstrategischen Überlegungen. Obwohl die Reichsregierung zusätzlich mittels eines „Reichsbohrprogramms“ die Erschließung heimischer Vorkommen vorantrieb, konnte eine vollständige Autarkie nicht erreicht werden. Deshalb sollte, so das Kalkül der NS-Führung, die Produktion von synthetischem Benzin und die Ausbeutung deutscher Erdölvorkommen „die Handlungsfähigkeit der Wehrmacht bis zur erwarteten Eroberung großer Erdölressourcen im Kaukasus und im Nahen Osten sichern“. Dieses Kalkül ging zwar auf – doch als die Eroberungspläne scheiterten und die Alliierten im Mai 1944 ihre Angriffe auf die deutschen Hydrierwerke begannen, waren der „Zusammenbruch der deutschen Treibstoffversorgung und damit das Ende des Krieges absehbar“ (S. 243).

Die drei Jahrzehnte zwischen Kriegsende und Ölpreiskrise handelt Stokes auf etwa 150 Seiten ab. Zunächst analysiert er die Entwicklung der westdeutschen Mineralölwirtschaft zwischen „Restauration und Neuorientierung“ in dem Zeitraum von 1945 bis 1951 und konstatiert einen deutlichen Strukturwandel, der sich insbesondere in einem „raschen Ausbau der Verarbeitungskapazitäten“ und einem entsprechenden Anstieg der Rohölimporte sowie in einer ebenso „raschen Expansion der heimischen Erdölförderung“ bemerkbar machte (S. 275). Der enorme Anstieg der Förderung war „in nicht geringem Maße auf die Erschließung von Ölfeldern zurückzuführen, die in der späten Kriegszeit entdeckt worden waren“ (S. 256); man rechnete sogar damit, in absehbarer Zeit den Bedarf zu 30 Prozent aus eigenen Ressourcen decken zu können. Auf die Suez-Krise regierte die Bundesregierung angesichts von Vorräten, mit denen man sechs bis acht Wochen auszukommen hoffte, nicht zuletzt deshalb erstaunlich gelassen, d.h. ohne größere Abweichungen vom liberalen „Pfad der Tugend“. Diesen Kurs setzte sie auch nach dem Ende der Krise bis Mitte der 1960er-Jahre fort. Die Hoffnungen, den Bedarf in nennenswertem Maße aus eigenen Quellen befriedigen zu können, erfüllten sich jedoch nicht: Während die einheimische Förderung immerhin um das Fünffache stieg, wuchsen die Rohölimporte um das Zehnfache. Und auch die Versuche deutscher Ölproduzenten, die Versorgung mit Hilfe ausländischer Konzession zu sichern, schlugen fehl. Das letzte Kapitel des Buches befasst sich mit den Jahren 1964 bis 1974 und steht unter die Überschrift „Wettbewerb, Reorganisation und Anpassung“. Der Anteil des Mineralöls am Energieverbrauch war unterdessen weiter gestiegen und übertraf 1972 die 55-Prozent-Marke. So verwundert es nicht, dass die Bundesregierung versuchte, die Position der einheimischen Unternehmen zu stärken. Die Gründung einer „nationalen Ölgesellschaft“, welche der Bund mit beachtlichen Mitteln unterstützte, erfolgte jedoch zu spät und brachte nicht den erhofften Erfolg. Die DEMINEX wurde von den beteiligten Firmen in erster Linie dazu benutzt, „finanzielle Hilfen vom Staat zu erhalten“ (S. 362). Das „Hauptproblem“ der deutschen Mineralölwirtschaft, das sie nicht über nennenswerte eigene Rohölquellen verfügte, ließ sich dadurch ohnehin nicht beseitigen. Unter diesem Problem litt die DDR, der Stokes ein eigenes Kapitel widmet, allerdings in noch weit höherem Maße: Trotz geradezu „übermenschlicher Leistungen“ (S. 344) beim Aufbau einer eigenen Mineralölindustrie blieb den Ostdeutschen am Ende nur der Rückzug auf die Braunkohle.

Karlsch und Stokes haben ohne Zweifel eine verdienstvolle Studie über eine Branche vorgelegt, die in der hiesigen Wirtschaftsgeschichtsschreibung bislang eher vernachlässigt worden ist. Man mag bedauern, dass manche Aspekte – etwa die Beziehungen zwischen „Kapital“ und „Arbeit“, Fragen der Unternehmenskultur oder der Fördertechniken – zu kurz kommen; hier forderte der gewaltige Untersuchungszeitraum zwangsläufig seinen Tribut. Auch unterlaufen den Autoren gelegentlich kleinere Fehler, etwa wenn sie behaupten (S. 259), schon 1947 hätten die Marshallplan-Gelder zu fließen begonnen. Schließlich vermag auch das Lob für die „liberale“ Politik der Bundesregierung angesichts der zuweilen recht massiven staatlichen Subventionen nicht so recht zu überzeugen. Solche Mängel werden indes mehr als aufgewogen dadurch, dass die Arbeit zu einem nicht unbeträchtlichen Teil auf Archivalien – beispielsweise aus dem Bundesarchiv und zahlreichen Firmenarchiven, aber auch aus amerikanischen, britischen und sogar russischen Archiven – beruht. Außerdem gelingt es Karlsch und Stokes, die Geschichte der Branche im Kontext der allgemeinen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung darzustellen und zu analysieren. Wer sich zuverlässig und kompetent über Entstehung und Wandel der deutschen Mineralölwirtschaft informieren möchte, wird dieses Buch jedenfalls mit Gewinn lesen.

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