Titel
Atatürk in the Nazi Imagination.


Autor(en)
Ihrig, Stefan
Erschienen
Cambridge, MA 2014: Belknap Press
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 28,66
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Klaus Kreiser, Berlin

Wer immer sich mit der jüngeren Geschichte der Türkei befasst, wird auf türkische Bewunderer Adolf Hitlers stoßen. Dass umgekehrt führende Nationalsozialisten Mustafa Kemal Atatürk wertschätzten, ja seine Wirksamkeit als Modell für ihren eigenen Aufstieg sahen, dürfte – jedenfalls in dem von Stefan Ihrig nachgewiesenen Ausmaß – auch Kenner der Epoche überraschen.

Als Hitler am 20. April 1939 eine türkische Delegation zur Feier seines Geburtstags empfing, soll er erklärte haben: „ […] unser Vorbild war die Türkei“. Diese Worte waren, auch wenn sie nicht wörtlich gefallen sind1, keine Höflichkeitsformel, sondern wurden aus dem Wissen vorgetragen, dass die kemalistische Türkei mehr als ein Jahrzehnt vor dem Deutschen Reich die Fesseln der Pariser Vorortverträge abgeworfen hatte.

Stefan Ihrigs Monographie will als ein Beitrag zur Ideengeschichte des Nationalsozialismus gelesen werden, als eine „a history of perceptions and discourses about Turkey“ (S. 7). Sein Buch ist nach der nicht mehr berücksichtigten, an der Universität Mersin entstandenen Dissertation von Ahmet Asker über „Ansichten aus Nazi-Deutschland auf die Kemalistische Türkei“2 die erste umfassende Studie zum Thema. Sie befasst sich nicht mit dem Komplex „Nationalsozialismus im Kemalismus“, also auch nicht mit einer Klärung des immer wieder geäußerten „Faschismus-Verdachts“ in der kemalistischen Türkei, sondern umgekehrt mit der Vorbildhaftigkeit des türkischen Wegs unter Mustafa Kemal für den Nationalsozialismus. Zwar hätten sich die Nationalsozialisten auch positiv auf andere Führer samt ihrer Nationalbewegungen bezogen, wie beispielsweise auf Pilsudski, dies sei aber von der Begeisterung für Atatürk und seine Neue Türkei weit in den Schatten gestellt worden. Aus deutscher Sicht habe die Türkei mehr erreicht, und sei dem Weg völkischen Wiederaufbaus und Modernisierung stets treu geblieben (S. 206).

In einem Prolog zum Thema „Enverland“ skizziert Ihrig die Rezeption der Figur von Atatürks Antagonisten Enver Paşa, der in den Jahren vor 1914 unter den deutschen Türkei-Freunden außerordentliche Popularität genoss.

Im ersten, vielleicht wichtigsten Kapitel, zeigt er, welche Rolle das Thema Türkei in der „Kampfzeit“ für Hitler und seine Mitstreiter gespielt hat. Die Faszination vieler deutscher Zeitungsleser ging zunächst von dem aus einfachen Verhältnissen, an der Peripherie des zerfallenden Reiches aufgewachsenen Soldaten Mustafa Kemal aus und übertrug sich dann auf die kollektive Leistung der anatolischen Bauernarmeen. Sie kulminierte in der Bewunderung des republikanischen Aufbauwerks und seiner modernen Kapitale.

In Abschnitt „Turkish Lessons for Germany“ stellt Ihrig den türkischen Unabhängigkeitskrieg (1919–1923) als „Major Weimar Media Event“ vor, und man muss ihm angesichts beigebrachter Hinweise auf Hunderte und Tausende von Meldungen und Kommentaren zum Thema Recht geben. Die vielfarbige Weimarer Presselandschaft applaudierte einmütig den Türken angesichts der Revision des Friedensvertrags von Sèvres. Eine Karikatur aus einer Nummer des „Kladderadatsch“ aus dem Jahr 1922 macht das augenfällig: Ein alttürkisch kostümierter Kämpfer zerteilt mit seinem Krummsäbel die von den westlichen Diplomaten vorgelegten Vertragspapiere.

Der Abschnitt „Turkey as a Role Model“ (S. 41–63) enthält die meines Erachtens wichtigsten Ergebnisse. Das kemalistische Vorbild hatte für die deutsche Rechte ein größeres Gewicht als der Faschismus Mussolinis. Konkreter: Hitlers Putsch war viel stärker durch Mustafa Kemal und die Ereignisse in Anatolien inspiriert als durch den Marsch nach Rom des Duce. Nachvollziehbar ist das für Leser von Hans Tröbsts Beiträgen für das Wochenblatt „Heimatland“, dem Organ des Deutschen Kampfbundes. Der Autor dieser Folge war nach mehrjährigem Kriegsdienst als (einziger) deutscher Söldner für die Kemalisten aus Anatolien zurückgekehrt und nahm bald danach aktiv am Münchener Putsch teil. Am 27. Oktober 1923 lautet die Schlagzeile von „Heimatland“: „Her die Angora-Regierung!“. Diese „iconic expression“ (S. 88) war so wirksam, weil jedermann wusste, was die Ankara-Regierung erreicht hatte.

Zeitgenössische Buchveröffentlichungen nehmen in den Belegen zu Kapitel 4 „The Turkish Führer: Nazi Hagiography and National Education“ einen etwas größeren Raum ein als die zuvor dominanten Zitate aus der Presse. Die Totenfeier für Atatürk am 21. November 1938 unter sichtbarer Beteiligung deutscher politischer und militärischer Prominenz bildete den vorläufigen Schlusspunkt dieser nach Beginn des Zweiten Weltkriegs rasch erkaltenden Beziehung. Allen deutschen Beobachtern (auch seinem Bewunderer Goebbels) war freilich schon lange klar, dass Mustafa Kemal schon zu Beginn seiner militärischen Laufbahn auf Distanz zu einem Deutschland gegangen war, dessen „pangermanische“ Ambitionen er mit dem von Russland verkörperten Panslavismus gleichsetzte.

Das im Schlusskapitel „The Second World War and Turkey“ behandelte Thema der „Turkish-German Turanist flitration“ (S. 217) kann als Epilog dieser inhalts- und ideenreichen Studie gelesen werden, gehört aber im Grunde zu einer ganz anderen Geschichte.

Ihrigs gut geschriebenes und ergebnisreiches Buch vernachlässigt fast vollständig die Produzenten seiner Quellentexte, ihre persönlichen und politischen Profile und Verbindungen untereinander. Die im Hauptteil und vor allem in den dichten Endnoten genannten Autoren bleiben mit Ausnahme des erwähnten Hans Troebst, blass und zusammenhanglos. Die Trennungslinie zwischen den „Nazi“ Hagiographen und anderen Publizisten ist nicht leicht zu ziehen, sollte aber vielleicht thematisiert werden. Sicher übertraf die deutsche Literatur zu türkischen Themen die in anderen Sprachen, ganz abgesehen von Übersetzungen aus dem Deutschen.3 Der Faszination für die Diktatoren der Epoche erlagen aber bekanntlich auch viele nicht-deutsche Autoren.4

Es fällt auf, dass sich nach 1923 abgesehen von der Memoiren-Literatur alter „Asien-Kämpfer“ keiner der wirklichen Landeskenner an der Produktion der von Ihrig so genannten „Hagiographie“ beteiligt. Melzig war ein halb-gebildeter Scharlatan, Rössler ein NS-Funktionär, der noch nach 1945 eine unrühmliche Rolle spielen sollte, Froembgen ein „free lance“ arbeitender unauffälliger Autor von Geschichtsromanen und geopolitischen Fantasien. Kaum einer der Autoren von Biographien und allgemeinen Türkei-Werken der Jahre zwischen 1933 und 1945 hatte ausreichende Sprachkenntnisse. Das gilt auch für die meisten Türkei-Berichterstatter wie die Redakteure der „Türkischen Post“ und den DAZ-Mitarbeiter Martin Bethke.

Schließlich sollte man nicht vergessen, dass der Anteil der offiziellen Türkei an der Herstellung des deutschen Bildes vom Land und seinem Führer beträchtlich war. Neben einer Anzahl von türkisch-deutschen Gemeinschaftsveröffentlichungen sorgte die Generaldirektion für das Pressewesen für die Bebilderung zahlreicher im Ausland erschienener Türkei-Werke. Die Aufnahmen des österreichischen Fotografen Otmar Pferschy im Dienst der Republik Türkei erschienen in zahlreichen vom türkischen Presseamt „unterstützten“ Publikationen des Westens.5

Viele Autoren ließen ihre Manuskripte vor Drucklegung von türkischen Instanzen „durchsehen“. Der Generaldirektor für das Pressewesen Burhan Belge empfahl in einem 1935 in Istanbul gedruckten Buch „Die Türkei in Wort und Bild“, die hier vertretenen deutschen Journalisten als Vorbild. Sie berichteten „korrekt“ und zeigten „allen anderen ausländischen Kollegen, wie von Volk zu Volk die Freundschaft gepflegt werden kann“.

Eine sehr wünschenswerte deutsche Ausgabe von Ihrigs Buch könnte den mehr als lückenhaften Index ergänzen. Sie wäre aber vor allem zu begrüßen, weil eine Monographie mit dem Schwergewicht auf der deutschsprachigen politischen Terminologie in einer Fremdsprache bei allem berechtigten Interesse der anglo-amerikanischen Welt an Naziana nur von begrenztem Nutzen ist.

Anmerkungen:
1 Ihrigs Beleg für den Satz „Turkey was our model“ (S. 116) findet sich in Gotthard Jäschkes Geschichtskalender (nach der türkischen Übersetzung, Ankara 1990). Jäschke nennt zwar keine Quellen, man darf aber annehmen, dass der in Berlin anwesende „Ulus“-Herausgeber Falih Rıfkı Atay der Überlieferer des Satzes ist.
2 Zusammengefasst: Ahmet Asker, Nazi Almanyası’ndan Kemalist Türkiye’ye Bakışlar, in: Ankara Üniversitesi Türk Inkılap Tarihi Enstitüsü Atatürk Yolu Dergisi 50 (2012), S. 265–298, <http://dergiler.ankara.edu.tr/dergiler/45/1774/18763.pdf> (06.07.2015).
3 Dagobert von Mikuschs Atatürk-Buch erschien in sieben Sprachen.
4 Für einen ersten vorläufigen Versuch, die internationale Atatürk-Literatur zu ordnen, vgl. Klaus Kreiser, Modern Avrupa tarihi içinde Atatürk [Atatürk in der modernen europäischen Geschichtsschreibung], in: Çağdaş düşünce ışığında Atatürk, Istanbul 1983, S. 517–556. [Nachdrucke 1989, 2004].
5 Ihrig verbindet die Aufnahmen irrtümlich mit dem Hitler-Photographen Heinrich Hoffmann, weil sie sich in dessen Archiv auf der Bayerischen Staatsbibliothek finden. Die Darstellung der „hypermodern Turkey“ geschah aber nicht durch die Linse von Hoffmann, sondern war eine türkische Auftragsarbeit.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/