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Titel
Urbanität durch Dichte?. Geschichte und Gegenwart der Großwohnkomplexe der 1970er Jahre


Autor(en)
Beckmann, Karen
Reihe
Architekturen 29
Anzahl Seiten
496 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christiane Reinecke, Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig

Ob in Ausstellungen, Medien oder wissenschaftlichen Studien: Bei der Auseinandersetzung mit städtischen Entwicklungen ist in den letzten Jahren ein neues Interesse am architektonischen Erbe der 1950er- bis 1970er-Jahre zu beobachten. Im Zentrum steht dabei nicht mehr so sehr die Klage über die Jahrzehnte des Betons und die Vergehen der urbanen Moderne. Vielmehr bemühen sich Forschende wie Ausstellungsmacher um eine differenziertere Sicht auf die mit der Umstrukturierung der Städte verknüpften Leitbilder sowie auf die Handlungsmacht der Bewohnerinnen und Bewohner.

Die Studie der Architektin Karen Beckmann zur Geschichte und Gegenwart urbaner Großwohnkomplexe, eine an der Universität Hannover entstandene Dissertation, fügt sich in diesen Trend ein. Ausgehend von westdeutschen Beispielen, die sie durch andere westeuropäische Fallbeispiele ergänzt, deutet die Autorin das architektonische Erbe der 1960er- und 1970er-Jahre nicht als Ausdruck eines planerischen Versagens. Sie versucht vielmehr explizit, einen bestimmten Typus von innerstädtischem Wohnungsbau zu rehabilitieren und dessen Potenziale für die aktuelle Stadtentwicklung hervorzuheben. Ihr geht es dabei um innerstädtische, verdichtete Wohnkomplexe aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die fußläufig zu erschließen waren und in denen Wohnräume mit Ladenzeilen, Büroräumen und öffentlichen Freiräumen kombiniert wurden, wie im Fall des Ihme-Zentrums in Hannover oder des Olympischen Dorfs in München. Zu den zentralen Zielen der Autorin gehört es, diese innerstädtischen Großwohnkomplexe als eigene architektonische Form zu beschreiben und sie von anderen Bautypen abzugrenzen. Sie spricht in diesem Zusammenhang von „spezifischen Stadtbausteinen“. Im Mittelpunkt stehen damit gerade nicht jene Satellitenstädte und peripheren Großsiedlungen, die seit den 1950er-Jahren an den Rändern zahlreicher westeuropäischer Großstädte entstanden und die oftmals als Inbegriff des modernen Bauens galten und gelten.

Historisch geht die Verfasserin von einem Bruch innerhalb der urbanen Moderne und ihrer städtebaulichen Leitbilder aus. Gegenüber der zuvor dominierenden Forderung nach einer räumlichen Trennung von Wohnen, Arbeiten und Einkaufen gewann demzufolge seit den frühen 1960er-Jahren das Plädoyer für eine funktionale Durchmischung an Einfluss. Auch wirkte sich die – im Anschluss an den Soziologen Edgar Salin und andere – immer häufiger geäußerte Forderung nach mehr Urbanität, mehr Partizipation und mehr städtischer Öffentlichkeit auf gängige Planungspraktiken aus. Die nun von zahlreichen Architektinnen und Architekten propagierte Devise einer „Urbanität“, die „durch Dichte“ erreicht werden sollte, bündelte beide Entwicklungen: Zum einen schlug sich darin die Abkehr vom zuvor angestrebten Ideal einer aufgelockerten, funktional gegliederten, in die Breite strebenden Stadt nieder. Zum anderen kam darin zum Ausdruck, dass urbane Experten sich verstärkt für das Miteinander interessierten, das Stadträume im Privaten wie im Öffentlichen ermöglichten. Dass ein solcher Wandel „von der Funktionalität zur Urbanität“ stattfand, hat auch die bisherige Forschung nicht bestritten. Kennzeichnend für Beckmanns Studie ist es, dass sie diese Hinwendung zu neuen Leitbildern primär in den Reihen der Stadtplanerinnen und -planer selbst festmacht und sie weniger auf die Einflüsse externer Akteure zurückführt. Die Entstehung der innerstädtischen Großwohnkomplexe deutet sie dementsprechend als eine erste Reaktion auf die Verschiebungen in den städtebaulichen Leitbildern.

Die Autorin kombiniert die materialreiche Analyse zeitgenössischer Planungsdebatten mit individuellen Fallstudien. Ihre Analyse von Planungs- und Stadtdiskursen im Hauptteil der Studie ergänzt sie anschließend durch eine Reihe von Beispielen sowie die ausführliche Beschreibung des Olympischen Dorfs in München, des Brunswick Centre in London und der Grazer Terrassenhaussiedlung St. Peter. An diesen innerstädtischen Großwohnkomplexen interessiert Beckmann in erster Linie, wie die zuvor beschriebenen neuen Planungsideale baulich ausgestaltet wurden. Sie zeigt das Bemühen um die Schaffung halböffentlicher und öffentlicher Freiräume innerhalb der Komplexe und unterstreicht die Bedeutung von deren fußläufiger Erschließung, verweist aber auch auf deren je unterschiedliche Einbettung in das städtische Gesamtgefüge. Wichtig erscheinen ihr die baulich-typologischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede der betrachteten Siedlungen dabei vor allem im Hinblick auf die Wohnqualität, die sie heute ermöglichen; ihr Vergleich dient nicht der historischen Analyse.

Indes droht der Verfasserin die eigene Argumentation wiederholt zu entgleiten, indem sie immer neue Beispiele, Exkurse und textinterne Verweise in die Untersuchung einflicht. Darüber hinaus hätte die Studie gewonnen, wenn Beckmann ausführlicher erörtert hätte, welche Implikationen ihre Ergebnisse für die historische Erforschung des Nahraums Stadt seit den 1960er-Jahren haben. Wie sich die Abkehr von modernen Planungsidealen und den damit verknüpften Leitbildern des urbanen Lebens genau vollzog, wie sie zu erklären ist – und inwiefern es beispielsweise die maßgeblich von Beckmann behandelten urbanen Experten oder die von ihr weitgehend ausgeblendeten sozialen Bewegungen waren, die zu diesem Wandel beitrugen: Solche Fragen hätte die Autorin systematischer diskutieren können. Schließlich eröffnet die ihren Ausführungen implizite, aber nicht ausbuchstabierte These, dass der Wandel in den städtebaulichen Leitbildern und in den damit verknüpften Ordnungsvorstellungen sich zunächst innerhalb von Expertenkreisen vollzog, durchaus interessante Perspektiven auf die Abkehr von sozialtechnologischen Vorstellungen, wie sie in der zeithistorischen Debatte gemeinhin mit den 1970er-Jahren in Verbindung gebracht wird.1

Allerdings ist Beckmanns zentrales Ziel auch ein anderes: Selbst Architektin, versucht sie, über die detaillierte Beschreibung der Großwohnkomplexe zu Entwurfsbausteinen zu gelangen, die künftig eine sinnvollere Nutzung der Siedlungen erlauben sollen. In vielen Fällen genießen die Bauten in der Öffentlichkeit einen schlechten Ruf, obwohl ihre Bewohnerinnen und Bewohner sich in Umfragen oft vergleichsweise zufrieden mit den dortigen Wohnbedingungen zeigen. Insofern dürfte die Verfasserin Recht haben, wenn sie auf die Potenziale der innerstädtischen Großwohnkomplexe verweist – zumal mit Blick auf den aktuell in vielen Städten wachsenden Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Produktiv für die historische Forschung ist daran, dass Beckmann den Blick für architektonische Details schärft: für die Offenheit oder Geschlossenheit der Bauten und deren Positionierung im Stadtraum etwa, oder für Wegführungen und deren Einfluss auf die Nutzung der Außenräume. Wie die Bewohnerinnen und Bewohner sich in und zu ihrer direkten urbanen Umgebung verhalten, hängt demnach unter anderem auch damit zusammen, wie dort öffentliche und zumal halböffentliche Räume geschaffen wurden. Damit weist Beckmann auf Zusammenhänge hin, die auch aus historischer Sicht interessant sind, mit Blick auf das Wechselverhältnis von materiellem Stadtraum und sozialer Praxis. Denn um sich dem architektonischen Erbe der urbanen Moderne tatsächlich angemessen widmen zu können, bedarf es historischer Analysen, die über die reine Planungsgeschichte hinausgehen und die sich der Aneignung und dem permanenten Wandel dieses Erbes zuwenden.

Anmerkung:
1 Siehe dazu etwa Cupers, der sich auf die Hinwendung zu partizipativeren Planungsformen innerhalb der französischen Stadtplanung bezieht: Kenny Cupers, The Expertise of Participation: Mass Housing and Urban Planning in Post-War France, in: Planning Perspectives 26 (2011), S. 29–53.