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Titel
Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter.


Herausgeber
Moraw, Peter
Reihe
Vorträge und Forschungen 48
Erschienen
Stuttgart 2002: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
X + 613 S., Karten
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gabriele Annas, Historisches Seminar, Johann-Wolfgang-Goethe-Universität

Beginnen wir zunächst mit dem Ende – mit einer vorzüglichen Zusammenfassung der Beiträge und Diskussionsschwerpunkte zweier Tagungen des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte, die sich vom 6. bis 9. Oktober 1992 sowie vom 30. März bis 2. April 1993 dem „Deutschen Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter” widmeten und deren Ergebnisse nun in dem hier anzuzeigenden Sammelband in schriftlicher Form vorgelegt wurden. Den beiden Autoren, Joachim Ehlers und Bernd Schneidmüller, ist es dabei überzeugend gelungen, das methodisch-perspektivisch breit angelegte Spektrum der insgesamt 17 Beiträge – 10 zum deutschen Königshof des 12. bis 15. Jahrhunderts, 7 zu den Hoftagen und Reichstagen (begrifflich besser: zu den Reichsversammlungen) 1 des gleichen Zeitraumes – thematisch-strukturell anschaulich zu bündeln und zugleich nach einzelnen inhaltlichen Schwerpunkten differenzierend aufzufächern. Dass die beiden Tagungen insgesamt – wie Peter Moraw bereits einleitend vermerkt – „in erster Linie verfassungsgeschichtlich und sodann auch sozialgeschichtlich, nur zum viel kleineren Teil literatur- und kulturgeschichtlich orientiert waren” (S. VII), mag man angesichts der in den letzten Jahren verstärkt in den Vordergrund tretenden innovativen Forschungen zu den symbolischen Dimensionen politischen Handelns im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit 2 vielleicht etwas bedauern. Zum Heroldswesen in der spätmittelalterlichen Welt des Adels, der Höfe und der Fürsten (S. 291-321) werden entsprechende Fragestellungen zur „Präsenz des Symbolischen“ (S. 292) und der „gesteigerte[n] Zeremonialisierung des höfischen und öffentlichen Lebens“ (S. 293) indes durchaus thematisiert.

Entsprechend dem thematischen Aufbau der beiden Tagungen wird im ersten, von Joachim Ehlers verantworteten Teil der Zusammenfassung zunächst den von den einzelnen Referenten präsentierten literatur- und geschichtswissenschaftlichen Möglichkeiten nachgegangen, sich der „unfaßliche[n] Erscheinung”3 des hoch- und spätmittelalterlichen Königshofes auf je eigenen Wegen anzunähern: (1) über das Selbstverständnis des Hofes, das sich – da quellenmäßig kaum fassbar – der Forschung allerdings nur ansatzweise, auf der Grundlage von Einzelbeobachtungen, erschließt; (2) über die funktionale, räumliche, personelle und institutionale Gestaltung des Hofes als Herrschafts- und Gesellschaftszentrum des Reichs, die eng mit der Frage nach den Rahmenbedingungen politischer Entscheidungsprozesse im Spannungsfeld von herrscherlicher Alleinentscheidung und konsensualer Mitwirkung der Großen des Reichs verknüpft ist; (3) über die Bedeutung des Hofes als politischem Handlungsmittelpunkt, die unter dem Aspekt höfischer Außenbeziehungen sowohl die Außenwirkung des Herrschers und seiner Umgebung (mit dem Radius des potenziellen Einflusskreises) als auch die vielgestaltige Einflussnahme der Außenwelt auf den Königshof berücksichtigt; endlich – und hier schließt sich der Kreis – (4) über die Beurteilung des Hofes durch Außenstehende, die zeitgenössische Erwartungen an die politisch-rechtlichen, gesellschaftlichen und kommunikativen Qualitäten des Hofes mit konkreten Erfahrungen konfrontiert. Nicht zuletzt entsteht auf diese Weise eine stimmige Zusammenschau grundlegender Problemstellungen und Tendenzen der jüngeren Hofforschung, die zugleich die zentrale Bedeutung des Königtums als verfassungspolitisch alternativlose Legitimationsinstanz und Ordnungskraft des spätmittelalterlichen Reichs, als „personale Mitte des wenig strukturierten Ganzen”4, dokumentiert – im Übrigen ein Grundgedanke, der den hier anzuzeigenden Sammelband insgesamt durchzieht.

Es fällt entsprechend schwer, aus der Fülle fundierter Beiträge einzelne hervorzuheben. Zumindest erwähnt seien die Ausführungen von Karl-Heinz Spieß und Theo Kölzer zum Hof Kaiser Friedrichs I., die sich dem Sozialkörper ‚Hof’ mit je eigenen Akzentsetzungen widmen – sei es unter besonderer Berücksichtigung der personellen Zusammensetzung des königlichen Gefolges (Karl-Heinz Spieß, Der Hof Kaiser Barbarossas und die politische Landschaft am Mittelrhein, S. 49-76, der in diesem Zusammenhang nicht zuletzt auf das Phänomen des so genannten ‚Sekundärgefolges’ hinweist, das im Unterschied zum königlichen Gefolge jene Personen bezeichnet, die sich im Gefolge eines weltlichen oder geistlichen Fürsten an den herrscherlichen Hof begeben hatten), sei es im Hinblick auf das Zusammenwirken von Königtum und Reichsfürsten (Theo Kölzer, Der Hof Kaiser Barbarossas und die Reichsfürsten, S. 3-47). Die Ergebnisse seiner Untersuchungen zusammenfassend vermerkt Theo Kölzer: „Insgesamt ist der Sozialkörper ‚Hof’ in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhundert ein amöbenhaftes Gebilde, das als politisches Leitungsorgan mit mehr oder weniger zufällig sich ergebenden Besetzungen arbeitete, ohne grundsätzlich an Forderungen wie Mindestrepräsentanz oder Quorum gebunden zu sein“ (S. 42).

Einen vorzüglichen Überblick über die Entwicklung der „Erz- und Erbämter am hoch- und spätmittelalterlichen Königshof“ (S. 191-237) bietet Ernst Schubert, der mit Blick auf die Frage nach gewachsener, rezipierter und inszenierter Tradition die verfassungspolitische Rolle und Funktion der Erbämter und Erzämter im Spannungsfeld von Hofamt und Reichsdignität, von höfischem officium und einer vom Königshof emanzipierten, auf das Reich bezogenen Würde, nachzeichnet. Mit dem Scheitern der in der Goldenen Bulle Kaiser Karls IV. (1356) manifesten Konzeption einer Reichsintegration der kurfürstlichen Erzämter und deren Rückbindung an den königlichen Hof kündigt sich schließlich der Bedeutungsverlust des Herrscherhofes als ‚Verfassungsmitte’ des Reichs an, der die Herausformung des frühneuzeitlichen Reichstags begleiten sollte. Auf die königliche Hofgerichtsbarkeit als integralen Bestandteil der curia regalis richtet sich demgegenüber die Aufmerksamkeit von J. Friedrich Battenberg, der Amt, Person und Funktion der „königlichen Hofrichter vom 13. bis 15. Jahrhundert“ (S. 239-290) im Kontext eines langsam sich entfaltenden judikativen Emanzipationsprozesses untersucht, in dessen Verlauf königliche Administration (consilium) und Hofgerichtsbarkeit (iudicium) institutionell auseinander traten und sich zu zwei selbständigen, allerdings auch weiterhin durch den Königshof verklammerten ‚Schaltstellen’ des Reichs entwickelten. Im Hinblick auf die Frage nach den strukturellen Wandlungen der spätmittelalterlichen Reichsversammlungen (und deren zeitlicher Verortung) ist dabei die Beobachtung bemerkenswert, dass das Hofgericht, das mit seiner Beschränkung auf ‚außeralltägliche’ Gerichtsbarkeit zunächst bevorzugt im Rahmen von Hoftagen zusammentrat, sich offenbar namentlich in der Zeit Kaiser Karls IV. zu einem ‚alltäglichen’ rechtsprechenden Gremium entwickelte, die enge Verbindung von Gerichtssitzung und Hoftag sich Mitte des 14. Jahrhunderts mithin zu lockern begann.

Ist der erste Teil der Zusammenfassung vor allem auf eine synthetisierende Zusammenschau der einzelnen Beiträge gerichtet, so widmet sich demgegenüber der zweite, von Bernd Schneidmüller verantwortete Abschnitt zunächst den hochmittelalterlichen Voraussetzungen, die ein angemessenes Verständnis der vielschichtigen Zusammenhänge zwischen Königshof, Hoftag und späterem Reichstag erst ermöglichen. Entsprechend wird hier nochmals das im Übrigen den gesamten Sammelband auszeichnende Bemühen um eine streng genetisch-mediävistische Perspektive deutlich, die unter Verzicht auf modernisierende, retrospektiv argumentierende ‚parlamentarische’ Vorstellungen „den Weg vom Königshof als Handlungsmittelpunkt zum offenen Miteinander von Königshof, Hoftag und Reichstag“ (S. 596) nachzuzeichnen sucht. In den nachfolgenden Darlegungen werden schließlich die in den einzelnen Beiträgen thematisierten Forschungen aufgenommen, die sich von den Hoftagen Friedrichs I. (Werner Rösener, S. 359-386), Rudolfs von Habsburg (Egon Boshof, S. 387-415), Ludwigs des Bayern (Alois Schmid, S. 417-449) und Karls IV. (Bernd-Ulrich Hergemöller, S. 451-476) bis zu den Reichsversammlungen Friedrichs III. (Reinhard Seyboth, S. 519-545) spannen. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang – neben jenen Aufsätzen, die sich den Hoftagen des 12. bis 14. Jahrhunderts als Begegnungsraum von Königtum und Reich widmen – vor allem die Darlegungen von Johannes Helmrath, Reinhard Seyboth und Eberhard Isenmann zur Phänomenologie jenes schwerpunktmäßig im 15. Jahrhundert anzusetzenden verfassungshistorischen Transformationsprozesses, der den Übergang vom hochmittelalterlichen Hoftag als einer ‚Institution’ des Königtums zum ständisch-korporativ orientierten Reichstag der Frühen Neuzeit markiert. Entsprechend hat Johannes Helmrath, ,Geistlich und werntlich’. Zur Beziehung von Konzilien und Reichsversammlungen im 15. Jahrhundert (S. 477-517) das in der Forschung bislang noch allzu selten thematisierte Verhältnis von geistlichen und weltlichen Versammlungen einer genaueren Betrachtung unterzogen und ist dabei – mit Blick auf die Formierung des späteren Reichstags – vor allem Hinweisen auf einen ideellen und praktischen Transfer zwischen Konzilien und Tagen nachgegangen. Eng damit gekoppelt ist zugleich die Frage nach den Gründen für das Fehlen eines deutschen Nationalkonzils (im Unterschied beispielsweise zu den nationalen Klerusversammlungen in England und Frankreich), die wohl nicht zuletzt in der spezifischen verfassungsrechtlichen Struktur des Reichs (mit dem geistlich-weltlich zusammengesetzten Kurfürstenkolleg und der europaweit singulären reichsfürstlichen Stellung der Bischöfe) zu suchen sind. Die Darlegungen Reinhard Seyboths („Die Reichstage der 1480er Jahre“, S. 519-545) verweisen demgegenüber auf die entscheidende Bedeutung des Jahrzehnts zwischen 1480 und 1490 für jene Beschleunigungs- bzw. Verdichtungsphase der spätmittelalterlichen Reichsverfassung, die bereits mit dem ‚Großen Christentag’ zu Regensburg 1471 eingesetzt hatte und nun mit der Frankfurter Reichsversammlung von 1486 (und dem programmatischen Eingreifen des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg in die Reichspolitik) eine entscheidende Ausrichtung erfahren sollte. Ungeachtet einer auch für die Tage nach 1486 zunächst noch zu konstatierenden Gemengelage von älteren, traditionalen Verfassungsformen und jüngeren, ‚modernen’ Elementen ist seit dieser Zeit eine verstärkte Polarisierung monarchischer und ständischer Verfassungspositionen zu beobachten, die die Ausgestaltung des späteren Reichstags nachdrücklich vorantreiben sollte. Eberhard Isenmann schließlich ist es mit seinen Ausführungen über „die Städte auf den Reichstagen im ausgehenden Mittelalter“ (S. 547-577) anschaulich und überzeugend gelungen, epochenübergreifend eine Brücke von den spezifischen verfassungsrechtlichen Problemstellungen des 15. Jahrhunderts – hier der Frage nach der Reichsstandschaft der Städte und den daraus abzuleitenden politischen Mitwirkungsrechten der Kommunen – zu der von städtischen Politikern und Juristen geführten historischen Diskussion des 16. Jahrhunderts zu schlagen, die auf der Grundlage einer juristisch präzisierten Begrifflichkeit und Argumentationsführung die politisch-rechtliche Situation der Reichsstädte im 15. Jahrhundert zu klären suchte; in der Konfrontation mit den Erkenntnissen der modernen rechts- und verfassungshistorischen Forschung werden dabei zugleich bemerkenswerte historische Brechungen zwischen den verschiedenen Betrachtungsebenen erkennbar.

Mit Blick auf die von Bernd Schneidmüller abschließend angesprochenen kritischen Fragen und Anregungen für eine zukünftige Forschungsdiskussion (Genese des späteren Reichstags, Reich und Reichstag im Spannungsfeld von Beharrung und Modernisierung, die soziopolitische Bedeutung von Zeremoniell und Herrschaftsostentation) seien hier zumindest ansatzweise zwei markante verfassungshistorische Problemstellungen thematisiert, die gleichsam leitmotivisch die Ausführungen der einzelnen Autoren begleiten.

(1) Was ist der ‚Hof’ – eine für die Diskussion grundlegende Frage, die bereits Walter Map, der bekannte Hofkritiker des 12. Jahrhunderts, mit der Einsicht beantwortete, dass er zwar am Hof lebe und über den Hof spreche, aber nicht verstehe, was der Hof eigentlich sei.5 Und mit Blick auf die verfassungshistorische Forschung und das augenscheinliche Fehlen einer konsensfähigen Definition konstatiert Joachim Ehlers: „Es gibt, und das erwies sich am Ende als Leitmotiv der Tagung und zugleich als ihre Rechtfertigung, keinen Konsens über das, was ein Hof sei.“ (S. 583) Dennoch bietet der Sammelband hier wichtige Ansatzpunkte, die es mit analog vorgelegten Hof-Analysen zu korrelieren gilt. Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang neben den Überlegungen Peter Moraws („Über den Hof Kaiser Karls IV.“, S. 79: der Hof als „das Haus des Herrn mit dem ganzen wohlbekannten Gewicht der ‚Haus’problematik“) vor allem auf die Ausführungen Theo Kölzers, der den Hof des Herrschers umfassend als „den jeweiligen Aufenthaltsort des Königs und der Personen seiner Umgebung, den so sich bildenden Personenverband überhaupt, damit zugleich die Bühne königlichen Handels und der Interaktion mit den das Königtum tragenden Großen, das Zentrum königlicher Herrschaft und Verwaltung, kurz: den Mittelpunkt des Reiches“ (S. 5) beschreibt. Mögliche Anknüpfungspunkte ergeben sich dabei nicht zuletzt zu den Untersuchungen Aloys Winterlings, der 1997 den „Versuch einer idealtypischen Bestimmung“ des mittelalterlichen und frühneuzeitliches Hofes vorgelegt hatte. Ausgehend vom semantischen Befund unterscheidet er zwischen sachlichen und lokalen, sozialen, zeitlichen, kommunikativen und politischen Bedeutungen des Wortfeldes ‚Hof’ und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass „sich ‘Hof’ definieren [lässt] als das erweiterte ‘Haus’ eines Monarchen. Dabei meint ‘Haus’ eine räumlich-sachliche, soziale, wirtschaftliche und herrschaftliche Einheit im Sinne von Otto Brunners ‘ganzem Haus’”.6

(2) Was ist der ‚Hoftag’ (bzw. – nach älterer Diktion – Reichstag)? Schon die ersten Bearbeiter der „Deutschen Reichstagsakten” hatten die Schwierigkeiten erkannt, die mit den Bemühungen um eine angemessene Definition des breiten Spektrums (spät-)mittelalterlicher Versammlungen als ‘Reichstage’ (bzw. ‚Hoftage’) verbunden waren. Nicht ohne eine gewisse Verlegenheit bekennt denn auch Julius Weizsäcker im Vorwort zum ersten Band der „Deutschen Reichstagsakten“ (1867): „Eine Sammlung der Reichstagsakten soll gegeben werden. Aber es ist schon von vornherein sehr schwer, wo nicht unmöglich, zu sagen, was in der Zeit, um die es sich zunächst handelt und in der kaum der Name für diese Sache vorkommt, ein Reichstag ist.”7 Dennoch hatte Julius Weizsäcker die editorisch notwendige Aufgabe übernommen, einige allgemeine Kriterien aufzustellen, zu denen die Beschäftigung mit Reichssachen, die Einberufung durch den Herrscher sowie die Teilnahme von Fürsten und städtischen Gesandtschaften gehörten. In der jüngeren verfassungshistorischen Forschung ist dieser ‚weite’ Reichstagsbegriff und dessen Handhabung durch die Editoren durchaus zu Recht in die Kritik geraten.8 Entsprechend bezieht sich Alois Schmid bei der Untersuchung der „Hoftage Kaiser Ludwigs des Bayern“ (S. 417-449), auf eine bereits von Thomas M. Martin vorgenommene definitorische Engführung, die für den Zeitraum von 1314 bis 1347 insgesamt nur 10 Hoftage des Herrschers benennt. Bernd-Ulrich Hergemöller, Die solempnis curia als Element der Herrschaftsausübung in der Spätphase Karls IV. (1360 bis 1376) (S. 451-476) unternimmt darüber hinaus den Versuch, in der Kombination von Quellensprache und Kriterienbündel eine Typologie feierlicher Zusammenkünfte in karolinischer Zeit zu entwickeln. Bei aller notwendigen Reduktion der in der deutschen Reichstagsaktenforschung benannten Fülle so genannter Reichstage mag jedoch mit einer vielleicht allzu starken Konzentration auf wenige, genuin als Hoftage bzw. ‚feierliche Höfe’ bezeichnete Versammlungen der Blick auf das tatsächlich vielfältige Spektrum politischer Tagsatzungen verstellt werden, die im Gefüge einer strukturell ja gerade noch offenen spätmittelalterlichen Reichsverfassung je eigene politisch-administrative Funktionen übernahmen. Damit verbunden sind naturgemäß entsprechende Konsequenzen auch und vor allem für die Frage nach der Genese des frühneuzeitlichen Reichstags.

Der Benutzer dieses vorzüglichen Sammelbandes hat allerdings zu berücksichtigen, dass die zeitliche Verzögerung der Drucklegung von den einzelnen Autoren in durchaus unterschiedlicher Weise aufgefangen wurde: durch bibliografische Nachträge, aktuelle Nachbemerkungen, aber auch durch nochmalige Überarbeitung des Manuskripts und Aktualisierung des Anmerkungsapparates. Manches Anfang der 1990er-Jahre als neuartig und noch thesenhaft Formulierte hat zehn Jahre später durch weiterführende Forschungen weitreichende Bestätigung (oder auch Widerspruch) erfahren, einzelne damals thematisierte Fragestellungen haben bis heute keine hinreichende Antwort erfahren, sind aktueller denn je. Insofern bietet der durch die Qualität der einzelnen Beiträge insgesamt herausragende Sammelband – wenn auch eher unfreiwillig – nicht einen Forschungsstand, sondern zeitlich fluktuierende Forschungsstände.

Anmerkungen:
1 Leider ist die in den vergangenen zwanzig Jahren wiederholt aufgenommene Diskussion um die begriffliche Differenzierung zwischen dem institutionell-strukturell noch offenen mittelalterlichen ‘Hoftag’ und dem sich erst seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert verfassungsrechtlich verfestigenden ‘Reichstag’ im Rahmen dieses Sammelbandes nicht näher thematisiert worden. So wird namentlich für die Versammlungen des 15. Jahrhunderts verschiedentlich die Formulierung ‚Hoftage und Reichstage’ bzw. ‚Hoftag/Reichstag’ verwendet und damit zugleich eine zeitliche Koexistenz beider Tagungstypen suggeriert – eine vor allem in der älteren Literatur verschiedentlich nachweisbare Vorstellung, die allerdings in den vergangenen Jahren einem chronologisch-genetischen Entwicklungsmodell (vom hochmittelalterlichen Hoftag zum frühneuzeitlichen Reichstag) gewichen ist. Vgl. Moraw, Peter, Versuch über die Entstehung des Reichstags, in: Weber, Hermann (Hg.), Politische Ordnungen und soziale Kräfte im Alten Reich, Wiesbaden 1980, S. 1-36; Annas, Gabriele, Hoftag – Gemeiner Tag – Reichstag. Studien zur strukturellen Entwicklung deutscher Reichsversammlungen des späten Mittelalters (1349-1471), 2 Bde., Göttingen 2004, Bd. 1, S. 73-76, 98-136. Vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-190>.
2 Hierzu in einer kleinen Auswahl: Helmrath, Johannes, Sitz und Geschichte. Köln im Rangstreit mit Aachen auf den Reichstagen des 15. Jahrhunderts, in: Vollrath, Hanna; Weinfurter, Stefan (Hgg.), Köln. Stadt und Bistum in Kirche und Reich des Mittelalters. Festschrift für Odilo Engels zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 719-760; Paravicini, Werner (Hg.), Zeremoniell und Raum. 4. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen veranstaltet gemeinsam mit dem Deutschen Historischen Institut Paris und dem Historischen Institut der Universität Potsdam, Potsdam, 25. bis 27. September 1994, Sigmaringen 1997 (hier vor allem der Beitrag von Karl-Heinz Spieß, Rangdenken und Rangstreit im Mittelalter, S. 39-61); Stollberg-Rilinger, Barbara, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Kunisch, Johannes (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte, Berlin 1997, S. 91-132; Schenk, Gerrit Jasper, Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich, Köln 2003. Vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2003-2-072>.
3 Paravicini, Werner, Die ritterlich-höfische Kultur des Mittelalters, München, 1999, S. 65.
4 Martin, Thomas M., Auf dem Weg zum Reichstag. Studien zum Wandel der deutschen Zentralgewalt 1314-1410, Göttingen 1993, S. 39.
5 Walter Map, De nugis curialium, ed. and transl. by M. R. James, revised by C.N.L. Brooke; R. A. B. Mynors, Oxford 1983, Dist. V, c. 7, S. 498, 500.
6 Vgl. Winterling, Aloys, „Hof”. Versuch einer idealtypischen Bestimmung anhand der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte, in: Ders. (Hg.), Zwischen „Haus” und „Staat”. Antike Höfe im Vergleich, München 1997, S. 11-25, hier S. 13f. (Zitat: S. 14).
7 Weizsäcker, Julius, Vorwort, in: Deutsche Reichstagsakten unter König Wenzel. 1. Abtheilung. 1376-1387, hg. von Dems., München 1867 (ND Göttingen 1956), S. LIII.
8 Vgl. Moraw (wie Anm. 1) S. 3-5, 13f. – Martin (wie Anm. 4) S. 16-21, 30-34.

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