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Titel
Individuum und Masse. Zur Vermittlung des Holocaust in deutschen Gedenkstättenausstellungen


Autor(en)
Geißler, Cornelia
Reihe
Histoire 71
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 36,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ruth Preusse, Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin

Cornelia Geißler hat ihre politikwissenschaftliche Dissertation einer spannenden Frage gewidmet: Sie wollte wissen, ob und wie die in Gedenkstättenausstellungen heute vorherrschende personalisierte Darstellung von Opfern des Holocaust funktioniert, wenn man im Ergebnis beim (jugendlichen) Besucher eine Verunsicherung hervorrufen will, Primo Levis Diktum folgend: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen […].“ Dazu hat sie Dauerausstellungen an drei sehr unterschiedlichen mit dem Thema verbundenen Orten untersucht, die rund um das Gedenkjahr 2005 entstanden sind: den „Ort der Information“ des Denkmals für die ermordeten Juden Europas in Berlin-Mitte, die Ausstellung „Zeitspuren. Das KZ Neuengamme 1938–1945 und seine Nachgeschichte“ in Hamburg-Bergedorf sowie die Ausstellung „Die Wannsee-Konferenz und der Völkermord an den europäischen Juden“ in Berlin-Wannsee. Die Autorin interessiert sich vor allem dafür, wie Jugendliche, die im Klassenverband die Gedenkorte besuchen, die jeweiligen Präsentationen rezipieren, und hat dazu Einzelinterviews und Gruppendiskussionen geführt.

In der Einleitung zeichnet Geißler den gesellschaftspolitischen Umgang mit Erinnerungsorten zu Nationalsozialismus und Holocaust in den letzten Jahrzehnten nach und beleuchtet die veränderten Bedingungen der dort stattfindenden pädagogischen Arbeit. Dabei werden die Fallstricke der heute zu konstatierenden „Pädagogisierung, Nationalisierung und Musealisierung“ (S. 11) des Massenmords an den europäischen Juden unter Einbeziehung der einschlägigen Forschung bis 2012 herausgestellt (2013 wurde die Dissertation an der Freien Universität Berlin eingereicht).1 Ihre Befürchtungen macht die Autorin sehr deutlich: Werden NS-Gedenkstätten zu reinen Geschichtsmuseen? Wird in den Gedenkstätten überhaupt noch um der Opfer willen erinnert, oder sind diese Orte nicht vielmehr Aushängeschilder eines mit der Aufarbeitung seiner Vergangenheit zufriedenen Deutschlands? Und werden die Ermordeten, die in heutigen Darstellungen zwar nicht mehr in einer anonymen Masse verschwinden, sondern als Einzelpersonen mit ihrem Leben vor der Verfolgung präsentiert werden, nicht doch wieder „de-personalisiert“, indem sie innerhalb der Ausstellungskonzeption beispielhaft für ein bestimmtes Schicksal stehen? Auf diese Gefahr kommt Geißler in ihrer Studie wiederholt zu sprechen. Ausstellungsmacher stehen hier jedoch vor einem unlösbaren Dilemma innerhalb einer ohnehin komplexen Aufgabe: Natürlich soll ein breites Spektrum von Lebenswegen gezeigt werden, geografisch und bezogen auf die Verfolgungsgeschichte. Schon dadurch ist eine Auswahl zwingend. Hinzu kommt, dass biografische Zugänge, die heute die Schreckensbilder anonymer Leichenhaufen weitgehend ersetzt haben, nicht dazu geeignet sind, Entwicklungen und Strukturen des Nationalsozialismus, die zum Völkermord führten, zu vermitteln. Die Biografien müssen also ergänzt und kommentiert werden, will man das große Ganze verstehen, und werden dadurch exemplarisch.

Geißlers Beobachtungen stammen im Wesentlichen aus dem Jahr 2008. Die seitdem an den Ausstellungen vorgenommenen Überarbeitungen und Neugestaltungen sind in die Studie nicht oder nur im Fußnotenteil eingeflossen. Auffällig ist, dass die Autorin alle drei ausgewählten Orte mit weitgehend gleichen Kategorien untersucht. Die unterschiedlichen thematischen Vorgaben der (historischen) Orte, die für die heutige Vielfalt der Gedenkstätten sorgen, kommen so jedoch kaum zum Tragen.

Zunächst wird jeweils die Vorgeschichte des Gedenkorts dargestellt, was besonders beim Denkmal für die ermordeten Juden Europas verständlicherweise verlockt hat, da die Diskussionen im Vorfeld schon als eigentliches Denkmal aufgefasst worden sind. Insgesamt wird die vor allem aus der Opferperspektive erzählte Ausstellung positiv bewertet – abgesehen vom Ende des Rundgangs: Im „Gedenkstättenportal“ wird über Erinnerungsorte informiert. Für die Autorin fehlen hier die Stimmen der Verfolgten; stattdessen präsentiere man „bunte Aufnahmen ihrer Leidensorte in der Gegenwart“ (S. 110), die für eine „Erfolgsgeschichte“ der Vergangenheitsbewältigung stünden (S. 115). Man kann einwenden, dass Geißler hier die Bedeutung der Sichtbarmachung dieser Orte unterschätzt, die in der Regel auf das Engagement von Überlebenden zurückgeht – tatsächlich also ein Erfolg. Dennoch hat sie hier einen Punkt getroffen. In den letzten Jahren sind die beiden hinteren Foyers des Orts der Information schrittweise umgestaltet worden. Heute befindet sich das Videoarchiv (und damit die Sammlung von Stimmen der Überlebenden) neben den Informationen zu Yad Vashem und der Online-Ausstellung für Jugendliche „du bist anders?“ an prominenter Stelle hinter dem „Gedenkstättenportal“ am Schluss des Rundgangs.

Bei der Beschreibung der Dauerausstellung im Haus der Wannsee-Konferenz äußert die Autorin ebenfalls Kritik: Die Dokumentenfülle und Textlastigkeit verhindere, dass die im ersten Raum vorgestellten Familienbiografien, die die Ausstellung immer wieder aufgreift, vom Besucher durchgängig gesehen würden. Diese Einschätzung wird heute von den Mitarbeiter/innen des Hauses (zu denen auch die Rezensentin gehört) geteilt. In der Entstehungszeit war man vor allem bemüht, die Erfahrungen mit den beiden „Wehrmachtsausstellungen“ des Hamburger Instituts für Sozialforschung (ab 1995/2001) zu berücksichtigen. Ein Jahrzehnt später ist klar, dass den veränderten Seh- und Lerngewohnheiten mehr Rechnung getragen werden muss.

Dass hier nicht, wie im „Ort der Information“, die Opferperspektive vorherrscht, liegt am historischen Ort selbst, der ein „Täterort“ der besonderen Art ist. Hier saßen Vertreter von SS, Partei und Ministerialbürokratie zur Besprechung über die Organisation der „Endlösung“ zusammen und nahmen anschließend ein spätes Frühstück. Die Aufgabe der Gedenk- und Bildungsstätte ist es heute vor allem, über die Beteiligung der öffentlichen Institutionen am Völkermord zu informieren. Insofern geht die Kritik am Vorhandensein vieler Täterdokumente und an der Abwesenheit von Opferstimmen im historischen Konferenzraum am Vermittlungskonzept vorbei.2

Auch hier bemängelt die Autorin den Abschluss des Rundgangs. Im letzten Raum werden Zitate von Angehörigen der nachfolgenden Generation von Täter- und Opferfamilien präsentiert. Jedes Zitat steht für ein Thema der Nachkriegszeit, darunter Trauer, Verantwortung, Wiedergutmachung und Schweigen. Geißler missfällt die Reduzierung des Umgangs mit der Vergangenheit auf den ihrer Meinung nach „privaten“ Bereich (S. 156), während diese Aussagen doch als Möglichkeit gedacht sind, den Besucher mit Denkanstößen aus der Ausstellung zu entlassen, die die Relevanz der Erinnerung auf persönliche Weise und zugleich für die Gesellschaft zeigen.

Der 2005 eröffneten Dauerausstellung in Neuengamme stand erstmals das gesamte historische Gelände zur Verfügung, das zuvor durch die Nutzung als Gefängnis unzugänglich war. Die Präsentation versucht, jeglichen Erwartungen der Besucher an ein „Nachempfinden“ der KZ-Haftbedingungen entgegenzuwirken. Das Ergebnis ist eine moderne, klar strukturierte und trotz ihrer Weitläufigkeit übersichtliche Ausstellung, die viele Selbstzeugnisse von Häftlingen integriert. Der Gefahr, dass eine einzelne präsentierte Biografie gleich exemplarisch für eine ganze Gruppe stehen muss, ist man hier durch den Einsatz sogenannter „Biografie-Bücher“ begegnet.

Geißlers Kritik an dieser Ausstellung bezieht sich vor allem auf die Historisierung des Gegenstands. Der Versuch der Offenlegung verschiedener Zeitebenen – also der Nachnutzung als Internierungslager und als Gefängnis – sei in mehrfacher Hinsicht heikel: Neben Verständnisproblemen und der Unangemessenheit des Nebeneinanders von aus ganz unterschiedlichen Gründen Inhaftierten entstehe eine noch größere Distanz zur Zeit des Nationalsozialismus. Außerdem erscheint es der Autorin fraglich, ob die von ihr als erstrebenswert angesehene „Verunsicherung“ beim Besucher tatsächlich eintritt, denn ungewollt reproduziere diese moderne Ausstellung das Bild des „sauberen“ KZ. In dieser Betrachtungsweise ist ein Blick in die Zukunft von Gedenkstätten allerdings kaum konstruktiv möglich: Die zeitliche Distanz wird immer größer, die Überbleibsel werden immer weniger.

Im letzten Drittel des Buches kommen die befragten Schüler/innen zu Wort. Geißler hat insgesamt sieben Gruppendiskussionen mit je vier bis sechs Teilnehmern und 22 offene Interviews mit Schüler/innen geführt. Bei dieser relativ kleinen Anzahl von Befragten bekommen einzelne Aussagen natürlich viel Gewicht. Die jugendlichen Besucher hatten zuvor an verschiedenen pädagogischen Angeboten teilgenommen, viele an eineinhalbstündigen Führungen, einige aber auch an ganztägigen Formaten. Die Bedingungen für die Wahrnehmung personalisierter historischer Darstellungen waren an diesen drei Orten daher sehr unterschiedlich, zumal am Denkmal gar nicht durch die Ausstellung geführt wird. Auch die Schultypen waren bunt gemischt. Geißler erklärt diese Heterogenität damit, dass ihr Fokus allein darauf lag, wie der Gedenkstättenbesuch als Gruppenerlebnis empfunden wurde und ob personalisierte Darstellungen funktionierten. Zusammen mit der Verschiedenartigkeit der untersuchten Orte – ein Denkmal mit angegliederter Ausstellung, ein sogenannter Täterort, eine KZ-Gedenkstätte – waren die Voraussetzungen für eine auch vergleichende Untersuchung also schwierig.

Die Lektüre dieses letzten Teils der Arbeit ist vor allem für an Gedenkstätten tätige Pädagogen interessant. Man erhält die Bestätigung, dass kurze Bildungsformate in dem meist übervollen Programm einer Klassenfahrt nur sehr eingeschränkt geeignet sind, einen nachhaltigen Eindruck zu hinterlassen und historisches Wissen zu vermitteln; dass eine gute Vor- und Nachbereitung dieser Besuche notwendig ist; dass die Schüler/innen ein Bedürfnis nach Authentizität haben (sie wollen von Zeugnissen aus der NS-Zeit emotional angesprochen werden) – und dass es grundsätzlich ein großes Interesse am Thema gibt. Dass Geißler dennoch zu einem skeptischen Resümee kommt (S. 349), hängt vor allem mit der von ihr an allen drei Orten konstatierten positiven Darstellung der Gegenwart zusammen: die Ausstellungen als Zeichen einer (vorgeblich) erfolgreich abgeschlossenen Aufarbeitung. Die Frage, mit welchen Mitteln sich Gedenkstätten gegen diesen Eindruck wehren – nämlich besonders mit ihren pädagogischen Inhalten –, wäre eine wünschenswerte Fortsetzung dieser Studie.

In der Entstehungszeit der drei Dauerausstellungen bemühte man sich um die Ablösung plakativer Schreckensbilder sowie um die Darstellung der Verfolgten, Ermordeten und Überlebenden als Einzelpersonen. Cornelia Geißler hat bezüglich der Umsetzung kluge Beobachtungen gemacht und kritische Fragen aufgeworfen. Der späten Publikation dieser Arbeit ist es geschuldet, dass die 2005/06 „neuen“ Ausstellungskonzepte im Jahr 2016 nicht mehr als neu empfunden werden, und es wird interessant sein, zu überprüfen, welche hier angesprochenen Kritikpunkte in aktuellen oder künftigen Neukonzeptionen aufgegriffen werden.

Anmerkungen:
1 Seitdem sind diverse in diesem Zusammenhang wichtige Neuerscheinungen herausgekommen, beispielsweise: Gabriele Hammermann / Dirk Riedel (Hrsg.), Sanierung, Rekonstruktion, Neugestaltung. Zum Umgang mit historischen Bauten in Gedenkstätten, Göttingen 2014; KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hrsg.), Gedenkstätten und Geschichtspolitik, Bremen 2015; Verena Haug, Am „authentischen“ Ort. Paradoxien der Gedenkstättenpädagogik, Berlin 2015.
2 Geißler macht bezüglich der Gestaltung dieses Raumes die irritierende Aussage, dass „Authentizitätserwartungen […] hier weniger gebrochen als bedient [werden]“ (S. 31). Es ist jedoch gar nicht bekannt, wie der Raum am 20. Januar 1942 ausgesehen hat, und tatsächlich ist er heute bis auf die Wandtafeln mit den Ausstellungstexten und eine tischförmige Vitrine, in der das Protokoll der Konferenz ausgestellt ist, leer.

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