B. Quinkert: Wir sind die Herren dieses Landes

Titel
Wir sind die Herren dieses Landes. Ursachen, Verlauf und Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion


Herausgeber
Quinkert, Babette
Erschienen
Hamburg 2002: VSA Verlag
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 20,40
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Neumann, Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Im vorletzten Jahr jährte sich der Überfall der deutschen Wehrmacht auf die UdSSR zum 60. Mal. Aus diesem Anlass organisierte die Berliner Gesellschaft für Faschismus- und Weltkriegsforschung und das Deutsch-Russische Museum in Berlin-Karlshorst eine wissenschaftliche Tagung, deren Beiträge nun überarbeitet und erweitert in Buchform vorliegen.

Der erste von vier thematischen Blöcken umfasst „Kriegsbeginn und Kriegsziele“. Dietrich Eichholtz umreißt die wesentlichen Ziele des von der NS-Führung verfolgten „Rassekrieges“ und den Zielen der „alten Eliten“, die sich in wesentlichen Punkten (z.B. territoriale Ostexpansion und Vernichtung der UdSSR) trafen. Eichholtz legt seinen Schwerpunkt auf die ökonomischen Motive, die dem Ostfeldzug zugrunde lagen (u.a. Zwangsarbeiter, Erdöl) und zeigt die dem jeweiligen Kriegsverlauf angepasste Strategie, die Ressourcen des eroberten Landes optimal auszubeuten. Da auch bereits ausführlich behandelte Themen im Rahmen einer solchen Veranstaltung resümiert werden müssen, verwundert es nicht, dass auch die lange Zeit heftig umstrittene „Präventivkriegsthese“ behandelt wird. Oleg Wischlow widerlegt vier zentrale Argumente der Anhänger dieser Aufassung, wobei er vor allem russische Quellen heranzieht, was darüber hinwegsehen lässt, dass einige relevante Literatur zu diesem Themenbereich (etwa die von Bianka Pietrow-Ennker im Jahre 2000 herausgegebene Aufsatzsammlung) nicht einmal in den Fußnoten erwähnt wird. Gewohnt überzeugend schildert im Anschluss Christian Gerlach die operativen Planungen der Wehrmacht für den Vernichtungskrieg, wobei er in Kurzform auf die von ihm schon ausführlich dargelegte Strategie eingeht, die russische Zivilbevölkerung verhungern zu lassen, da die Wehrmacht angesichts von Transport- und Versorgungsschwierigkeiten die vorhandenen Nahrungsmittel für die Versorgung der eigenen Soldaten brauchte.

Die nächsten drei Artikel behandeln die Okkupationspolitik unter den Aspekten der Herrschaftssicherung und Vernichtung. Zuerst schildert Gerhart Haas die deutsche Besatzungspolitik am Beispiel Leningrad: Ausführlich und quellenreich schildert er die Entwicklung der deutschen Vorstellungen, die sich nach dem Ausbleiben eines „Blitzsieges“ ergaben und auf eine Unterstützung durch die einheimische Bevölkerung abzielte – sei es freiwillig oder unter Zwang. Dass letzten Endes nur die Ausbeutung des Landes im Mittelpunkt stand, zeigen die Verschleppungen und Zerstörungen, die auch in Leningrad und Umgebung Hunderttausende von sowjetischen Opfern forderten. Deutlich benennt Haas die Verantwortung der Wehrmacht für diese Opfer und fügt so ein weiteres Mosaiksteinchen in der Diskussion um die Verbrechen der Wehrmacht hinzu. Daran knüpft Peter Klein mit seiner Untersuchung der Folgen der Partisanenbekämpfung für die Zivilbevölkerung in Weißrussland an, indem er differenziert aufzeigt, wie die Bevölkerung zwischen Wehrmacht auf der einen und Partisanen auf der anderen Seite buchstäblich „zwischen die Fronten geriet“, so dass letztendlich über 300.000 weißrussische Opfer im Partisanenkrieg zu beklagen waren. Als dritter Autor behandelt Andrej Angrick die Rolle der deutschen Militärverwaltung im Holocaust. Angrick stellt noch einmal eindringlich dar, dass die Wehrmacht den Einsatzgruppen eben nicht nur logistische Hilfe leistete, sondern auch selbst an Morden beteiligt war oder von sich aus die Initiative ergriff, was er mit mehreren Beispielen belegt (u.a. Kamenez-Podolsk, Mogilev). Aus diesem Grund spricht der Autor von „gleichberechtigter Partnerschaft“ zwischen SS und Heer.

Im dritten großen Themenkomplex drehen sich drei Beiträge um das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter. Zunächst zeigt Reinhard Otto, inwieweit neu erschlossene Quellenbestände – wie etwa die personenbezogenen Bestände der früheren Wehrmachtauskunftstelle im Archiv des Verteidigungsministeriums der Russischen Föderation in Podolsk – neue Fragestellungen und Auswertungsmöglichkeiten eröffnen, da nun sowohl individuelle Schicksale sichtbar als auch präzisere Gruppenbiografien möglich sind, die beispielsweise auch den bisher kaum erforschten Bereich des Widerstandes der sowjetischen Gefangenen erhellen können. Während Pavel Polian eine statistische Übersicht über das Schicksal der verschiedenen Gruppen von sowjetischen Staatsangehörigen während des Zweiten Weltkrieges liefert, konkretisiert Michael Gander die eher abstrakten Zahlen am Beispiel von Osnabrück, indem er das Verhältnis zwischen deutscher Bevölkerung und den sowjetischen Zwangsarbeitern nachzeichnet. Dabei werden noch keine endgültigen Ergebnisse präsentiert, da es sich um ein noch laufendes Forschungsprojekt handelt. Allerdings geben die angeführten Interviewauszüge bereits einen Eindruck von der Bandbreite der zu erwartenden Ergebnisse, die nicht zuletzt Aufschlüsse über mögliche Handlungsspielräume und die Einstellung der deutschen Bevölkerung gegenüber den Gefangenen geben können.

Den größten Themenkomplex nimmt die Rezeptionsgeschichte des Krieges ein. Zunächst schildert Bernd Bonwetsch ausführlich und detailliert die Entwicklung in der UdSSR, die unter Stalin hauptsächlich im Kult um das Staatsoberhaupt bestand und weder andere Helden noch irgendwelche sowjetischen Opfer sehen wollte. In der Ära Chruschtschows kam es dann zwar zu einer Annäherung an eine „realistischere Sichtweise“, doch spätestens unter Breschnew setzte sich der pathetische und staatstragende „Heldenkult“ durch. Besonders interessant ist es, wenn Bonwetsch das wechselvolle Schicksal einzelner Biografien von hohen Militärs wie beispielsweise die Memoiren Marschall Schukovs beschreibt. Die Erinnerung und die Auswirkungen des (wechselnden) Geschichtsbildes auf die Individuen zeigt Sabine Arnold anhand von Interviewauszügen von ehemaligen sowjetischen Soldatinnen und Soldaten. Besonders interessant ist die anschließende Analyse der Literatur in den beiden deutschen Staaten im Hinblick auf den „Ostkrieg“. Leonore Krenzlin zeigt klar und gut strukturiert die unterschiedlichen Stadien der literarischen Verarbeitung in der DDR, die sich zwischen den Polen einer staatlich-volkspädagogischen Beeinflussung und dem Bemühen um eine Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der deutschen Geschichte (z.B. Christa Wolfs „Kindheitsmuster“) bewegten. Peter Jahn dagegen kann in seinem Beitrag darauf verweisen, wie stattdessen in der Literatur – der im Titel angezeigte Bezug auf die bundesdeutsche Gesellschaft im Allgemeinen wird durch den Text nicht erfüllt – der BRD Gedankenmuster und Einstellungen der NS-Zeit konserviert und weiterverbreitet wurden, da im Kalten Krieg der Antikommunismus weiterhin eine der deutschen Leitideologien war. Das rassistische Russlandbild findet sich beispielsweise gerade auch in so erfolgreichen Romanen wie Konsaliks „Arzt von Stalingrad“.

Zum deutschen Überfall auf die UdSSR existieren eine fast nicht mehr zu überschauende Zahl von wissenschaftlichen Publikationen, so dass auch immer nach dem Wert einer Neuerscheinung zu fragen ist. Auch wenn der von Babette Quinkert herausgegebene Sammelband kaum ganz neue Erkenntnisse bietet, sondern im Wesentlichen die bestehenden Forschungen bekräftigt, liefert er dennoch einen ausgezeichneten Überblick über zentrale Aspekte des Themas, was angesichts der meist als Fachleute bekannten Autorinnen und Autoren nicht verwundert. Erfreulich ist außerdem die Zusammenarbeit zwischen deutschen und russischen Historikern, die unterstreicht, dass internationale Konferenzen einen wesentlichen Beitrag zum Erkenntnisgewinn beitragen können. Wie Hans Umbreit in der Einleitung zu Recht ausführt, liefern die einzelnen Beiträge nicht zuletzt auch einen Ausblick auf weitere Forschungen, indem auf Desiderata hingewiesen oder gerade laufende Forschungsprojekte vorgestellt werden, so dass sicherlich in einiger Zeit ein erneutes Fazit zu ziehen sein wird.

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