M. Löhnig u.a. (Hrsg.): Ordnung und Protest

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Titel
Ordnung und Protest. Eine gesamtdeutsche Protestgeschichte von 1949 bis heute


Herausgeber
Löhnig, Martin; Preisner, Mareike; Schlemmer, Thomas
Erschienen
Tübingen 2015: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hanno Balz, Department of History, Johns Hopkins University, Baltimore

Der vorliegende Sammelband verspricht viel, wenn er im Titel eine „gesamtdeutsche Protestgeschichte“ ankündigt. Entstanden ist der Band aus einer Ringvorlesung an der Universität Regensburg, veranstaltet 2013 vom Institut für Zeitgeschichte und dem Regensburger Lehrstuhl für Bürgerliches Recht. Der Anspruch der Herausgeber ist es, die Wechselwirkungen zwischen Protest und rechtlicher Ordnung zu untersuchen und dabei zu fragen, inwieweit a) Protest ein Motor sozialen Wandels ist, oder eher von diesem Wandel bedingt wird (S. 2), und b) in welchem dialektischen Verhältnis Protest sich gegenüber dem rechtlich-normativen Umfeld bewegt – beziehen sich Protesthaltungen in der Geschichte der Bundesrepublik beispielsweise positiv oder ablehnend auf das Grundgesetz? Vorweg: Es ist vor allem letztere Frage, der sich die Autorinnen und Autoren in ihren Aufsätzen widmen.

Dabei wurden im Laufe der vergangenen über 60 Jahre die Grundrechte stetig angepasst und verändert, so dass die Herausgeber als Leitlinie für ihren Band feststellen: „Die historische Entwicklung und Entfaltung der Grundrechte in der Bundesrepublik und ihre jeweilige Konkretisierung durch das geltende einfachgesetzliche Recht sind daher nicht nur Protestgeschichte, sondern zugleich die Geschichte unserer bundesrepublikanischen Ordnung.“ (S. 8) Demgegenüber haben die in der Verfassung der DDR formulierten Grundrechte sich nicht aktiv gesellschaftlich entfalten können; sie waren der Leitlinie der Diktatur des Proletariats und später dem sozialistischen Demokratieverständnis untergeordnet. Ob der diesem Band zugrunde liegende Ordnungsbegriff auf beide Teile Deutschlands anzuwenden ist, bleibt daher fraglich, wird hier doch primär vom Begriff der Rechtsordnung ausgegangen, weniger von anderen Konzepten gesellschaftlicher Ordnung wie beispielsweise denjenigen des Ordoliberalismus, der Ordnung (in) der Moderne1, epistemologischen Ordnungen2, vom „konkreten Ordnungsdenken“ aus der Feder Carl Schmitts3 oder stalinistischen Herrschaftsvorstellungen.4

Zu Beginn des Bandes nimmt Wolfgang Kraushaar die Perspektive der Herausgeber ernst und widmet sich der Reaktion der neu etablierten politischen Ordnung unter Adenauer auf die Herausforderungen durch verschiedene reformorientierte Bewegungen. Kraushaar gibt einen konzisen Überblick zu den wichtigsten politischen Protesten der 1950er-Jahre: vom Kampf des DGB gegen ein Betriebsverfassungsgesetz, das eine wirkliche Mitbestimmung der Betriebsräte nicht vorsah (und bis heute nicht vorsieht), bis zu den Auseinandersetzungen um die „Wiederbewaffnung“ der Bundesrepublik und der folgenden Debatte um die Atombewaffnung. Diese – gemessen an ihren politischen Zielen eher erfolglosen – Bewegungen waren am Ende mitverantwortlich für ein Umschwenken der Gewerkschaften und der SPD weg vom grundlegenden gesellschaftlichen Wandel hin zu Partizipation und Ausgleich. DGB und SPD waren seit dem Godesberger Parteitag 1959 „aus latent systemkritischen Kontrahenten nun [zu] Konkurrenten innerhalb eines gleichermaßen anerkannten Systems politischer Ordnung geworden“ (S. 27). Leider hat der folgende Beitrag von Canan Candemir zu den Protesten gegen Pariser Verträge und Wiederbewaffnung dem Überblick von Kraushaar nicht viel Grundsätzliches hinzuzufügen. Immerhin wird hier jedoch auf die grundsätzlich antikommunistische Stoßrichtung bei der juristischen Verfolgung politischer Opposition hingewiesen, wenngleich auch nur mit dem schwachen Label des „Ressentiments“ (S. 48).

Die Debatten um die Reform der Kriegsopferversorgung 1959 beschreibt Henriette Hosemann aus rechtshistorischer Sicht. Vor allem die Kriegsopferverbände hatten eine mächtige Stimme. Aus heutiger Sicht war der Diskurs um rechtmäßige Ansprüche der deutschen Kriegs-„Opfer“ erschreckend ignorant, wenn beispielsweise die Opferrente der Witwe Reinhard Heydrichs nicht thematisiert, die Ablehnung gegen jegliche Form der Entschädigung für Holocaust-Überlebende und ehemalige Zwangsarbeiter jedoch immer wieder artikuliert wurde. Diesen Kontext bezieht Hosemann kaum ein; zudem spricht sie selbst recht undistanziert von „deutschen Opfern“ – „auch sie hatten Leid erfahren und hatten ihr Vaterland verteidigt“ (S. 73).

Ein interessantes Beispiel für universitären Protest der 1950er-Jahre liefert Sebastian Schmidt-Renkhoff mit seiner Darstellung des „Falls Schlüter“. Leonhard Schlüter, Jahrgang 1921 und während der NS-Zeit offiziell als „Halbjude“ eingestuft, entwickelte sich nach 1945 zu einer schillernden Figur in rechtsradikalen Kreisen und bald auch in der damals noch stramm rechten FDP. Nach seiner Ernennung zum niedersächsischen Kultusminister im Mai 1955 gewann der koordinierte Protest von Professoren und Studenten der Universität Göttingen eine solche Dynamik, dass Schlüter bereits zwei Wochen nach Amtsantritt seinen Posten wieder aufgeben musste. Hier liefert der Autor ein anschauliches Beispiel für einen der wenigen größeren Proteste gegen die NS-Kontinuitäten in jenem Jahrzehnt – auch wenn er den Stimmen dieses Protestes mehr Raum hätte geben können.

Mehr oder weniger um die gesamtdeutsche Perspektive des Bandes geht es in Dierk Hoffmanns Zusammenfassung der Ereignisse vom 17. Juni 1953. Hoffmann zeichnet ein kurzes, aber präzises Bild der Hintergründe des Aufstandes und erläutert, wie in diesem Fall die Ordnung der noch jungen DDR erschüttert wurde. Schließlich fordert er eine breitere Einbettung des 17. Juni in eine Protest- und Demokratiegeschichte, die über den Osten Deutschlands hinausreicht.

Eine Zusammenfassung der juristischen Debatten über die Frage von Protesthandlungen als offiziell zu ahndender Form der Nötigung (§ 240 StGB) liefert der Strafrechtler Arndt Sinn. Er bezieht sich in erster Linie auf die Auseinandersetzungen während der Friedensbewegung in den 1980er-Jahren, aber auch auf die widersprüchlichen Grundsatzurteile des Bundesverfassungsgerichts bis ins Jahr 2011, in denen sich Bestätigung und Zurückweisung des Vorwurfs der Nötigung durch Sitzblockaden abwechselten. Leider fehlt dem Artikel ein wenig die Kontextualisierung, wie sie beispielsweise in dem kürzlich erschienenen Band zum Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von 1985 zu finden ist.5

Susanne Schregel betrachtet in ihrem Beitrag den bewusst inszenierten Rechtsbruch als Teil von Protesten der Friedensbewegung. Dabei ging es nicht allein um Blockademaßnahmen, sondern beispielsweise auch um die Grenzverletzung des Fotografierens von militärischen Einrichtungen. Schregel spricht hier von einer „Auseinandersetzung um militärisches Wissen“ (S. 138). Der „zivile Ungehorsam“ der Aktivisten stellte in deren Sicht einen Gesetzesbruch aus Gewissensgründen dar, welcher nicht die Rechtsordnung ablehnen, aber bestimmte Gesetze einer moralischen Prüfung unterziehen sollte. In ihrem überzeugenden Fazit fasst Schregel zusammen, „in der permanenten Erzeugung rechtlicher Herausforderungen und Deutungsbedarfe liegt ein produktives Element in der Wechselbeziehung zwischen Protest und Rechtssystem“ (S. 146). Aus juristischer Sicht schließt hier der Beitrag von Martin Borowski an, der Protest unter Berufung auf die Gewissensfreiheit untersucht und dies am Beispiel des Kirchenasyls veranschaulicht. Borowski diskutiert das verfassungsmäßige Recht der Gewissensfreiheit besonders vor dessen religiös fundiertem Hintergrund, gesteht aber letztlich ein, dass politischer Protest nur selten von der Gewissensfreiheit geschützt wird.

Die Beiträge von Thomas Schlemmer zur Geschichte der Auseinandersetzung um Betriebsschließungen in der Bundesrepublik von den späten 1960er-Jahren bis in die 1990er-Jahre und von Philipp S. Fischinger zur juristischen Frage von Streiks gegen Betriebsschließungen zeigen, wie die Verzahnung von zeitgeschichtlicher und rechtswissenschaftlicher Analyse funktionieren kann. Dagegen hinterlässt der Beitrag von Christian Starck zur Rechtsentwicklung der Gleichstellung von Männern und Frauen lediglich ein mittelgroßes Fragezeichen. Auf knappen sieben Seiten rekapituliert der Autor die entsprechende Grundgesetzentwicklung, um schließlich mit der lapidaren Einschätzung zu schließen: „Quoten zur Herstellung faktischer Gleichheit sind freiheitsfeindlich.“ (S. 216)

Einen profunden Überblick zum rechtsextremen Terrorismus in der Bundesrepublik gibt Tobias Hof. Sein Vergleich mit der parallelen Entwicklung in Italien während der 1970er- und 1980er-Jahre ist hierbei erhellend. Auch versäumt es der Autor nicht, auf die immer noch nicht richtig aufgeklärte Verbindung zwischen rechtsradikalen Gruppen und dem Verfassungsschutz, der Staatssicherheit und anderen Geheimdiensten hinzuweisen – ein Thema, das angesichts des skandalös gescheiterten NPD-Verbotsverfahrens und des Umgangs mit dem NSU von aktueller Brisanz ist.

Jörg Eisele untersucht die juristische Dimension der Religionsbeschimpfung und Beleidigung im Rahmen von Protesthandlungen – ausgehend von der Frage, inwieweit das „Punkgebet“ der russischen Band Pussy Riot auch in Deutschland zu ahnden wäre. Er verweist hierbei auf den juristischen Umstand, dass es bei der Religionsbeschimpfung um eine Störung des öffentlichen Friedens geht, plädiert aber auch für eine Kultur der Deeskalation und Toleranz. Gerade jedoch im Bereich der Beleidigungen ist mit der Ausweitung öffentlicher Kommunikation auf das Internet das Problem nur größer geworden – siehe die aktuelle Facebook-Debatte um die Zensur rassistischer Äußerungen.

Mit den Auseinandersetzungen um bauliche Großvorhaben beschäftigt sich Gerrit Manssen. Aus der Perspektive des Öffentlichen Rechts verweist er auf die aktuelle Legitimationskrise im Hinblick auf Großprojekte wie „Stuttgart 21“, aber auch auf Entwicklungen, die andeuten, dass die Politik von vergangenen (erfolgreichen) Protesten wie denen gegen die Wiederaufarbeitungsanlage Wackersdorf gelernt hat. So ist inzwischen eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung bei Planfeststellungsbeschlüssen vorgesehen. Auch wenn dies eine erhöhte demokratische Legitimation zur Folge haben mag, ist Manssen angesichts der immer häufiger auftretenden „Not in my backyard“-Attitüde dennoch skeptisch, dass insgesamt eine wesentliche Akzeptanzsteigerung zu erwarten sei (S. 263). Der letzte Beitrag von Sebastian Müller-Franken, der sich mit der juristischen Dimension der Wiedervereinigung beschäftigt, passt dagegen nicht so recht in den Band. Er ist wohl als Versuch zu verstehen, den gesamtdeutschen Anspruch der Aufsatzsammlung zu unterstreichen.

Alles in allem liegt hier also ein eher durchwachsenes Buch vor, das dem in der ambitionierten und gut lesbaren Einführung formulierten Anspruch nicht immer gerecht wird. Daran zeigt sich auch ein wenig die sehr deutsche Herangehensweise, aus jeder Tagung oder Ringvorlesung einen Sammelband entstehen zu lassen – was in der heterogenen Form der Beiträge deutlich wird, die teilweise noch zu sehr den Vortragsmanuskripten ähneln. In Ansätzen vermag dieser Band jedoch zu zeigen, wie fruchtbar eine interdisziplinäre Verzahnung von Zeitgeschichte und Rechtswissenschaft sein kann.

Anmerkungen:
1 Dies umfasst auch den gesamten Bereich des „Social Engineering“; siehe exemplarisch: Zygmunt Bauman, Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust, Hamburg 1992; Thomas Etzemüller (Hrsg.), Die Ordnung der Moderne. Social Engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009.
2 Hierzu natürlich v.a. die Arbeiten Foucaults, z.B.: Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1978.
3 Vgl. Carl Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934.
4 Siehe etwa Jörg Baberowski / Anselm Doering-Manteuffel, Ordnung durch Terror. Gewaltexzess und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium, Bonn 2006.
5 Anselm Doering-Manteuffel / Bernd Greiner / Oliver Lepsius, Der Brokdorf-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts 1985, Tübingen 2015.