Cover
Titel
The Guardians. The League of Nations and the Crisis of Empire


Autor(en)
Pedersen, Susan
Erschienen
Anzahl Seiten
592 S.
Preis
€ 32,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Goebel, Freie Universität Berlin

Susan Pedersens Buch über die Mandatskommission des Völkerbundes kann man optimistisch als Beleg dafür werten, dass wissenschaftlich sauberes Handwerk keiner glitzernden Politur bedarf, um erfolgreich zu sein. Als Gewinner des hochdotierten Cundill-Preises überboten sich Rezensenten seit der Veröffentlichung im Juli mit Huldigungen: Eine „bahnbrechende Studie“ hieß es gleichermaßen im Times Higher Education Supplement und der New Rambler Review.1 Pedersens Büronachbar an der Columbia University, Mark Mazower, bejubelte das Werk als „frappierend originell“ im Guardian, während Roger Louis im Wall Street Journal gar mutmaßte, es handle sich um „das erste unerlässliche Buch in 50 Jahren, das zu einem entscheidenden Thema verfasst wurde“.2 Ein solcher Presserummel ist bei jedem geschichtswissenschaftlichen Buch ungewöhnlich, aber umso erstaunlicher bei einem, das zuvorderst von wenig glamourösen Bürokraten bevölkert wird. In einer argwöhnischeren Lesart kann man das Echo auf Pedersens Buch daher auch als ein Paradebeispiel für das Funktionieren einer medialen Vervielfältigungsmaschine interpretieren, die sich allerdings auf den englischen Sprachraum beschränkt. Hierzulande erhielt Pedersens Studie bislang noch wenig Aufmerksamkeit.

Es handelt sich indes um ein wirklich gutes Buch. Auf über 500 Seiten breitet Pedersen die Geschichte der Mandatskommission aus, die sich nach der Gründung des Völkerbundes mit der Aufsicht über die 14 ehemals deutschen und osmanischen Kolonien befasste, die den Siegern des Ersten Weltkriegs als so genannte „Mandate“ zufielen. In der minutiösen Rekonstruktion dieser Geschichte stützt Pedersen sich vor allem auf die Genfer Archive des Völkerbundes, flankiert diese aber fleißig mit nationalstaatlicher Korrespondenz, vor allem aus London. Das zentrale Erkenntnisinteresse, das ihre multiperspektivische Erzählung durchwirkt: Inwieweit zeitigte die Genfer Aufsicht mittelfristige Auswirkungen? Und kann man sie gar als Vorboten der Dekolonisierung betrachten? Mit dieser Erforschung der Wurzeln von Nationalstaatlichkeit in Nahost und Afrika begibt sich Pedersen auf eine Suche, die Historiker wie Frederick Cooper aufgrund der Teleologie-Gefahr, die sie darin erkennen, aufzugeben empfehlen.3

Pedersen ist jedoch zu sorgfältig, um eine allzu einfache, auf einen einzigen Zielpunkt hinführende, Antwort auf ihre Frage zu geben. So erlaubt sie es ihren Rezensenten den Gegenstand des Buches – also das globalgeschichtliche Gesamtergebnis der Mandatskommission – wahlweise als „a world made safe for empire“ oder als „chipping away at imperial rule“ festzuhalten.4 Diese Diskrepanz in der Frage, ob der Völkerbund denn nun Handlanger oder vielmehr Totengräber des Imperialismus gewesen sei, speist sich auch aus Schwankungen über Zeit, die Pedersen chronologisch nachzeichnet: Während 1919 das Endziel noch „Selbstbestimmung“ lautete, markierten die frühen 1920er-Jahre einen Rückzug von diesem Ideal. Und obschon sich die Genfer Kommission im Laufe der Jahre wachsenden Respekt unter den Mandatsmächten erarbeiten konnte, unterminierte der europäische Konflikt der Folgejahre, der ja auch den Völkerbund entscheidend schwächte, schließlich die Durchschlagskraft der Kommission.

Vor allem aber unterscheidet Pedersen behutsam zwischen den Zielen der (ausschließlich europäischen) Mitglieder der Mandatskommission und den unbeabsichtigten Folgen ihrer Arbeit. Von wenigen Ausnahmen wie dem britischen Konservativen William Ormsby-Gore abgesehen, nahmen die Kommissionmitglieder die Idee unabhängiger Nationalstaaten keineswegs ernst. Außerdem waren sie von rassistischen Vorstellungen geprägt, auf deren Grundlage sie (wie es im Artikel 22 der Völkerbundsatzung hieß) Völker, „die noch nicht imstande sind, sich […] selbst zu leiten”, einer niedrigeren „Entwicklungsstufe“ zuordneten. Die Allgegenwärtigkeit dieses Rassismus belegt Pedersen eindrücklich am Beispiel von West-Samoa, dessen Bevölkerung trotz schlagender Gegenbeweise jegliche Regierungsfähigkeit abgesprochen wurde. Zudem wirkte sich die Genfer Aufsicht nur selten positiv auf die Bevölkerung der Mandatsgebiete aus. Diese wurden jedenfalls nicht grundsätzlich „besser“ regiert als „normale“ Kolonien, wie die Autorin anhand des südafrikanischen Massakers an den Bondelswarts 1922 und dem französischen Bombardement von Damaskus 1925 verdeutlicht. Ohnehin besaßen die Genfer Bürokraten nicht ausreichend Autorität, um Pretoria oder Paris eine andere Politik zu diktieren.

Sie konnten den Mandatsmächten allerdings eine gewisse Rechenschaftspflicht auferlegen, die auch eine internationale Öffentlichkeit auf den Plan rief – und hieraus leitet sich laut Pedersen die wichtige langfristige Wirkung der Kommission ab. Die Autorin zeigt zum Beispiel, dass der Irak 1932 Eigenstaatlichkeit erlangte, vor allem weil London einen unabhängigen, aber gefügigen, Staat der permanenten Genfer Aufsicht vorzog. Auch zerrte die Kommission wiederholt unangenehme Wahrheiten ans Licht und übte damit indirekten Druck auf die Mandatsmächte aus, durch bessere governance der europäischen Veröffentlichung von Peinlichkeiten vorzubeugen. Dadurch zog der Völkerbund zahlreiche außereuropäische Akteure in die Umlaufbahn internationaler Beziehungen. Indem sie eine blühende Petitionskultur hervorbrachte, verlieh die Kommission Afrikanern und Arabern eine Art inoffiziellen Diplomatenstatus, der den Weg für die Erweiterung der Vereinten Nationen dreißig Jahre später ebnete. So schlussfolgert Pedersen: „The League helped make the end of empire imaginable, and normative statehood possible, not because the empires willed it so, or the Covenant prescribed it, but because that dynamic of internationalization changed everything.“ (S. 406)

Mit diesem Kernargument revidiert Pedersen zugleich das alte, auf Europa konzentrierte, Fazit über den Völkerbund als einem kläglich gescheiterten, und daher historisch belanglosem, Versuch den Weltfrieden zu garantieren. Die Neubewertung ist freilich so neu nicht mehr. Gerade die deutschen Leser sind vielleicht mit einem 2006 veröffentlichten Artikel Pedersens in Geschichte und Gesellschaft vertraut, der ihr heutiges Argument bereits vorwegnahm.5 Damit positionierte sich Pedersen schon früh als Wortführerin einer neuen Generation von Historikern und vor allem Historikerinnen, die in den letzten zwanzig Jahren verschiedene Aspekte der Arbeit des Völkerbundes – etwa in den Bereichen Gesundheit, Arbeit und intellektuelle internationale Zusammenarbeit – einer kritischen Aufwertung unterzogen haben. So sollte man Pedersens Buch vielleicht weniger als „frappierend originell“ denn als krönenden Abschluss jahrelangen sauberen Handwerks bezeichnen. Oder um es mit einem Genfer Bild auszudrücken: Das Buch ähnelt eher der Präzisionsarbeit von Patek Philippe als einer goldenen Rolex. Gerade deswegen hat es das Lob, das ihm allenthalben entgegenschlägt, verdient.

Spitzfindige Leser mögen hier und da Einwände hervorbringen. Der Fokus auf die Mandatskommission verleiht dem Buch seinen inneren Zusammenhalt und erlaubt es Pedersen faszinierende und einfühlsame Portraits vermeintlich farbloser (fast ausschließlich männlicher) Verwalter zu zeichnen. Diese straffe Ausrichtung auf das als Einheit konstruierte Mandatssystem allein erweist sich allerdings gelegentlich als Prokrustesbett. Sie erschwert auch die Beurteilung der Langzeitfolgen des Mandatssystems, weil Pedersen über kein systemexternes Standardmaß verfügt, mit dem sie diese Folgen ausloten könnte. Implizit vergleicht die Autorin das Mandatssystem mit dem „ganz normalen“ Kolonialismus, den das Buch infolge dieser Vorgehensweise nicht nur thematisch ausklammert, sondern auch homogenisiert. Der Gegensatz zwischen Mandatssystem einerseits und Kolonialismus andererseits reduziert die erhebliche Spannbreite europäischer Herrschaftsformen, die mit Genf nichts zu tun hatten. Mancher Leser mag sich deshalb fragen, ob die Varianz zwischen Kolonien, Protektoraten und Klientelstaaten mit wachsenden wechselseitigen Beziehungen nicht eine Dynamik der Internationalisierung hervorbrachte, die der von Pedersen beschriebenen in vielen Punkten ähnelt. Wenn dem so wäre, dann ist die Genfer Mandatskommission vielleicht doch weniger ausschlaggebend für Pedersens Geschichte der Internationalisierung als das Buch suggeriert.

Ein solcher Einwand sollte aber nicht von den großartigen Stärken der Studie ablenken. The Guardians ist nicht nur hervorragend recherchiert, scharfsinnig nuanciert und überzeugend argumentiert, sondern angesichts des Themas auch erstaunlich leichtfüßig und unterhaltsam geschrieben. Neben diesen Qualitäten trägt wohl auch die gegenwärtige Relevanz der behandelten Themen zum enormen Echo des Buches bei. Denn Pedersen befasst sich nicht nur mit den Ursprüngen unserer internationalen Ordnung, sondern auch mit deren Verknüpfung mit der Geschichte Palästinas/Israels, Syriens und ethnischen Konflikten in Ruanda/Burundi. So sei Pedersens Werk all jenen, die sich für die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts interessieren, wärmstens empfohlen.

Anmerkungen:
1 Niamh Gallagher, Rezension zu Pedersen, The Guardians, in: Times Higher Education, <https://www.timeshighereducation.com/book-review-the-guardians-the-league-of-nations-and-the-crisis-of-empire-by-susan-pedersen> (22.11.2015); Udi Greenberg, Rezension zu Pedersen, The Guardians, in: New Rambler Review, <http://newramblerreview.com/book-reviews/history/a-world-made-safe-for-empire> (22.11.2015).
2 Mark Mazower, Rezension zu Pedersen, The Guardians, in: The Guardian, 06.11.2015, <http://www.theguardian.com/books/2015/nov/06/guardians-league-of-nations-susan-pedersen-review> (07.12.1015); Wm. Roger Louis, Rezension zu Pedersen, The Guardians, in: Wall Street Journal, 10.06.2015, <http://www.wsj.com/articles/the-mandates-men-1436560840> (07.12.1015).
3 Siehe zuletzt Frederick Cooper, Citizenship Between Empire and Nation. Remaking France and French Africa, 1945–1960, Princeton 2015.
4 Udi Greenberg, Rezension zu Pedersen. Niamh Gallagher, Rezension zu Pedersen.
5 Susan Pedersen, The Meaning of the Mandates System. An Argument, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 1–23.