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Titel
Die Welt im Licht. Kino im Berliner Osten 1900–1930


Autor(en)
Sabelus, Esther; Wietschorke, Jens
Erschienen
Berlin 2015: Panama
Anzahl Seiten
272 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Stiasny, Filmmuseum Potsdam / Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“

„Die Zuschauer sind zu Hälfte etwa Kinder. Das Stück [heißt] ‚Der Teufel ist los‘“, notiert Eduard Bruhn, 22-jähriger Theologiestudent und Mitglied der christlichen Studentenbewegung, über seinen Besuch von Haselbachs Kino am 13. Juli 1912 gegen 7 Uhr abends. Das kleine Kino lag im „Berliner Osten“, den proletarisch geprägten Stadtteilen östlich vom Alexanderplatz. „Ziemlich zu Anfang des Stückes wird von einem mit sehr kurzem Rock bekleideten Frauenzimmer ein ziemlich unanständiger Tanzakt aufgeführt, dessen Anblick den vielen Kindern im Zuschauerraum kaum von Vorteil gewesen sein dürfte. – Auch der erklärende Vortrag zu dem Stück enthielt manches, was für die Kinder recht schädlich war. […] In den Pausen sah man einzelne Jungen (Lehrlinge) eifrigst in ihren Schmökern lesen.“ (S. 49)

Der Eintrag stammt aus einer Sammlung von Berichten über Bruhns Kinematografen-Theaterbesuche, die er im Rahmen seiner ehrenamtlichen Arbeit für die vom Pastor Friedrich Siegmund-Schultze 1911 gegründeten „Sozialen Arbeitsgemeinschaft Berlin-Ost“ (SAG) verfasste. Die Mitarbeiter dieser sozialreformerischen Initiative zogen in das „dunkle Berlin“ am Schlesischen Bahnhof, um die Arbeiterbevölkerung kennenzulernen, Sozialarbeit zu leisten und soziografisch und ethnografisch orientierte Feldstudien zu treiben. Ein besonderes Augenmerk galt dabei der urbanen Vergnügungskultur, in der der Kinobesuch einen rasch wachsenden Stellenwert einnahm.

Der Grundton von Bruhns Bericht ist typisch für eine bestimmte Art im Schreiben und Urteilen über das Kino in den 1910er- und 1920er-Jahren: Die von bildungsbürgerlichen Kreisen getragene Kinoreform-Bewegung nahm Anstoß am „Schmutz und Schund“ der Filmstoffe, an den Spielstätten, wo Jungen und Mädchen, Männer und Frauen so eng nebeneinandersaßen – und das im Dunkeln! Demnach handelte es sich um Orte, wo dem Müßiggang gehuldigt wurde, Bier floss und Kinder auf dumme, unsittliche Gedanken kommen mussten; wo soziale Outcasts – Cowboys, Kriminelle, leichte Mädchen – die Leinwand bevölkerten und den jugendlichen Besuchern ein schlechtes Vorbild boten. Aus Sicht der Kinoreformer waren viele der kleinen und größeren Lichtspieltheater Brutstätten des Verbrechens und des Lasters, weshalb sie Kontrollen, Zensur und jugendgerechte Filme forderten, die bilden und erziehen sollten.1

So betrachtet, liefern Bruhns Ausführungen zu den Filmstoffen und zur Gefährdung der Kinder sowie sein Tadel am suchtartigen Verschlingen von „Schmökern“ auf den ersten Blick wenig Neues. Dennoch ist es sehr verdienstvoll, dass Esther Sabelus und Jens Wietschorke in „Die Welt im Licht. Kino im Berliner Osten 1900–1930“ diesen und mehrere andere präzise beobachtete Feldstudien und Analysen der SAG aus den Jahren 1912, 1916 und 1930 erstmals publiziert und durch informative Aufsätze zur Geschichte der SAG, den Verfassern der Texte, dem zeitgenössischen Kinoerlebnis und der Kartografie der Vergnügungsstätten ergänzt haben. Zu einem wirklichen Nachschlagewerk wird das schön gestaltete Buch durch Sabelus‘ 90-seitige Dokumentation der Kinos, die sich zwischen 1906 und 1930 in der Nähe des Alexanderplatzes und rund um die Frankfurter Allee befanden; drei von einstmals 79 Kinos sind auch heute noch in Betrieb. Sie alle sind auf einem beigelegten Stadtplan verzeichnet. Aufgeführt werden Informationen zu den Besitzern, zum Kinosaal, seiner Größe und Ausstattung, gelegentlich auch zum Programmprofil.

Aufhorchen lässt in Bruhns Bericht der Hinweis auf einen „erklärenden Vortrag“, der in Haselbachs Kino anstelle der Begleitung der Filme durch einen Pianisten oder ein Orchester zu hören war. Tatsächlich finden sich auch in anderen hier abgedruckten Berichten Hinweise auf einen „Kino-Erklärer“ oder „Kino-Erzähler“, der dem Publikum der Stummfilmzeit im Kinosaal stehend während der Vorführung die manchmal sprunghafte Handlung erläuterte, als Sprecher den auf der Leinwand stummen Darstellern eine Stimme gab, Emotionen verstärkte oder durch schnoddrige Ausdrucksweise das dick aufgetragene Pathos eines Melodrams unterlief. Der in der Forschung zum deutschen Kino bislang meist ignorierte Kino-Erklärer, dessen Funktion Esther Sabelus näher beleuchtet, ist das Relikt einer Zeit, in der ein Kinoprogramm noch aus vielen kurzen Filmen bestand und das Publikum mitunter kam und ging, wie es wollte, während der Vorführung applaudierte und dazwischenrief. In dem Maße, in dem die Filme länger und teurer wurden, die Produzenten auf ein bürgerliches Publikum schielten und die erzählten Geschichten auf das Mitfühlen der Zuschauer ausgerichtet waren, wurde der Kino-Erklärer als vermittelnde Instanz zu einer dubiosen Gestalt – jedenfalls aus Sicht sowohl der Produzenten als auch der Aufsichtsbehörden und der Kinoreformer. Denn der Kino-Erklärer lieferte dem Publikum seine ganz eigene, oft wohl improvisierte Interpretation, während die Produzenten an einer Standardisierung ihrer Ware interessiert waren und nicht wollten, dass ihr Produkt im kleinen Ladenkino in vollkommen anderer Form als im schicken Kinopalast erschien. In den Berichten über die angebliche Lenkung der Publikumswahrnehmung durch den Kino-Erklärer ist daher eine ganz generelle Furcht vor dem Kontrollverlust und vor einer eigensinnigen Masse erkennbar, so bei Ulrich Rauscher 1912: „Der Erklärer schluchzte, das Publikum ballte die Fäuste, eine ganz, ganz andere Tragödie, als der Filmfabrikant gesehen hatte, raste vorüber.“ (S. 87) Zurecht bemerkt Sabelus, dass hier „das Kino als Spektakel und soziales Ereignis“ in den Vordergrund trat (S. 94).

Unter den abgedruckten Quellen aus dem Archiv der SAG ist Elisabeth Benzlers 20-seitiger Aufsatz „Kino im Osten“ aus dem Jahr 1916 besonders hervorzuheben. Benzler war 26 Jahre alt, hatte bereits längere Zeit als Lehrerin gearbeitet und studierte für das Lehramt an Gymnasien. So deutlich die bildungsbürgerliche, kulturkritische und deutschnationalpatriotische Perspektive der jungen Autorin durchscheint, so unbestreitbar ist darüber hinaus ihr starkes Interesse an den sozioökonomischen Lebensbedingungen und kulturellen Prägungen des proletarischen und kleinbürgerlichen Publikums, um die Anziehungskraft des Kinos in den östlichen Bezirken Berlin zu verstehen.

Entstanden mitten im Ersten Weltkrieg, liefert ihre Untersuchung wichtige Informationen unter anderem zur Besucherstatistik (und der großen Bedeutung von Kindern als Kunden), zu Eintrittspreisen, Publikumsvorlieben und der Programmauswahl. Benzler ist nicht durchweg eine nüchterne Beobachterin, sondern wertet kritisch – und wirbt zugleich um Verständnis, wenn sie auf die schlechten Wohnverhältnisse und den Mangel an alternativen Angeboten für die Kinder hinweist: „Das Kino ersetzt dem Großstadtkind das Erleben, das bei den engen Wohnungsverhältnissen, bei dem Beschränken des Spiels auf Straße und öffentliche Spielplätze nicht mehr voll zur Entfaltung kommt. Die Phantasie, die unter glücklichen Verhältnissen unter freiem Himmel und auf weiter Erde alle Dinge zu Märchengestalten verwebt und harmonisch mit ihnen verwächst, wird nun aus ihrer Richtung gelenkt.“ (S. 126) Die kompensatorische Funktion des Kinos gilt auch für die Erwachsenen: „Dem Bewohner des Ostens ersetzt der Kino Ausflüge, Naturgenießen, geistige Zerstreuung. Er bietet die Welt, die außerhalb der Mietshäusern und Lärmen der Straße sich abspielt, er führt das Leben im bunten Wechsel in das graue Einerlei des Alltags hinein.“ (S. 115) Benzlers systematisch angelegter Text weist hier Parallelen auf mit der ersten und wichtigsten wissenschaftlichen Untersuchung zum Thema, Emilie Altenlohs 1914 erschienene Heidelberger Dissertation „Zur Soziologie des Kino“, die unlängst in einer vorzüglich kommentierten und um jüngere Studien ergänzten Ausgabe neu herausgegeben wurde.2 Basierte Altenlohs Arbeit auf Daten, die sie in Mannheim gesammelt hatte, so liegt nun mit Benzlers Arbeit – mit einhundertjähriger Verspätung – eine zwar wesentlich kürzere, aber dennoch sehr lesenswerte soziologische Studie für die Kinos im Osten Berlins vor.

Anmerkungen:
1 Hingewiesen sei an dieser Stelle auf eine kürzlich erschienene, herausragende Quellensammlung mit zeitgenössischen Texten zum Kino in englischer Übersetzung, darunter zahlreiche Texte aus dem Umfeld der Kinoreformbewegung. Siehe Anton Kaes / Nicholas Baer / Michael Cowan (Hrsg.), The Promise of Cinema. German Film Theory, 1907–1933, Berkeley 2016. Eine Auswahl der Texte ist online einsehbar: http://www.thepromiseofcinema.com/ (16.09.2016).
2 Emilie Altennloh, Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher. Neu herausgegeben von Andrea Haller / Martin Loiperdinger / Heide Schlüpmann (KINtop Schriften 9) Frankfurt am Main 2012; eine Abschrift des Originals ist online einsehbar: http://www.massenmedien.de/allg/altenloh/index.htm (16.09.2016).

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