S. Steiner: Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit

Cover
Titel
Rückkehr unerwünscht. Deportationen in der Habsburgermonarchie der Frühen Neuzeit und ihr europäischer Kontext


Autor(en)
Steiner, Stephan
Erschienen
Anzahl Seiten
653 S.
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Mathias Beer, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Tübingen

Die Deportationspraxis – eng verbunden mit der Geschichte des modernen Nationalstaats – war ein zentrales Mittel der Politik im 19. und vor allem im 20. Jahrhundert und ist es bis in die Gegenwart. Entsprechend hoch ist ihr Stellenwert insgesamt auch in der deutschsprachigen zeitgeschichtlichen Forschung. Deren Breite, Ertrag und Stand lässt sich, um nur ein Beispiel zu nennen, am 2010 im Böhlau Verlag erschienenen „Lexikon der Vertreibungen“ ablesen.1 Es erfasst Deportationen, Zwangsumsiedlungen und ethnische Säuberungen im Europa des 20. Jahrhunderts.

Im Unterschied zur Neueren Geschichte und Zeitgeschichte wurden Deportationen in der Frühen Neuzeit von der deutschsprachigen Forschung im Allgemeinen und bezogen auf die Habsburgermonarchie im Besonderen ausgesprochen randständig behandelt. 1934 legte Konrad Schünemann mit seiner unvollendet gebliebenen Studie über „Österreichs Bevölkerungspolitik unter Maria Theresia“ einen ersten Grundstein dazu, ohne dass die Forschung in der Folgezeit darauf aufgebaut hätte.2 Noch 1996 sprach Andreas Helmedach im Zusammenhang mit der Bevölkerungspolitik im Zeichen der Aufklärung von Zwangsumsiedlung und Zwangsassimilierung im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts von einer „ungelösten Forschungsaufgabe“.3

Dieses Desiderat der Forschung hat Stephan Steiner bereits in mehreren grundlegenden Fallstudien aufgegriffen. Sie sind alle ebenso wie seine in diesem Bereich angesiedelte Habilitationsschrift an der Universität Wien als „Vorstufen“ in das vorliegende, quantitativ und qualitativ gewichtige Buch eingegangen. Es umfasst 653 Seiten, 2.356 Fußnoten, 75 Seiten Literaturverzeichnis sowie 20 Seiten Quellenanhang und verfolgt ein dreifaches Anliegen: Erstens und primär zielt die Studie darauf, auf breiter Quellengrundlage die Deportationen in den Kontext der Bevölkerungspolitik und Kolonisation im Habsburgerreich zu stellen und sie zu analysieren – eine Pionierarbeit. Zweitens werden darüber hinaus die Resultate für das Habsburgerreich auf einer dem aktuellen Forschungsstand entsprechenden Literaturbasis im Rahmen der europäischen Deportationssysteme der Frühen Neuzeit verortet, womit das Fundament für zu Recht angemahnte vergleichende Forschungen in diesem Bereich gelegt wird. Zu diesem synchronen Blick kommt drittens die dezidierte Absicht einer diachronen Einordnung der Befunde hinzu. Der Autor will ausdrücklich nicht nur eine historische Rekonstruktion und Interpretation sowie vergleichende Charakterisierung liefern, sondern versucht von der Deportationspraxis im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts „ganz bewusst Verlängerungslinien in die Gegenwart zu ziehen“ (S. 51).

Diesen drei Zielen, die zugleich den Maßstab darstellen, an dem die Studie gemessen werden will, ist das in 16 Kapitel gegliederte Buch, eingerahmt von einem Auftakt und einer Coda, verpflichtet. In den ersten fünf Kapiteln werden die Grundlagen für den Kern der Arbeit geschaffen. Im Mittelpunkt der beiden ersten Kapitel stehen die Begriffsklärung, die den hohen methodischen Anspruch der Studie insgesamt unterstreicht, und die Skizzierung des Forschungsstands: „Deportationen sind staatlich verordnete und planmäßig durchgeführte Zwangsverschickungen von ausgewählten Bevölkerungsgruppen unter Einbeziehung militärischer Eskorten oder anderer Bewachungseinheiten von einem Ort A nach einem Ort B, wobei letzterer unter Strafandrohung meist lebenslänglich nicht mehr verlassen werden darf.“ (S. 32) Mit dieser Definition grenzt Steiner die Deportationen einerseits von Emigrationen, Vertreibungen, Ausweisungen und Fluchtbewegungen scharf ab und stellt zugleich Verbindungen zu verwandten Strafformen und Vorläufern der Deportation her, wie Relegation, Galeerenstrafe, Zwangsrekrutierung, Bettelschub, Zwangs- und Strafarbeit, Zigeunerschub sowie Menschenraub. In den folgenden drei Kapiteln werden dann getrennt nach Staaten kursorisch die Deportationssysteme der Frühen Neuzeit (Portugal, Frankreich, Spanien, Russland, England, Niederlande, Schweden/Dänemark-Norwegen, Sonderfälle, Osmanisches Reich), die Forschungsansätze für das Verständnis der Deportationen in der Habsburgermonarchie (Sozialdisziplinierung, Konfessionalisierung, Militarisierung, verschobener Kolonialismus und Ethnisierung) und mit dem Banat, mit Siebenbürgen und der Militärgrenze die maßgeblichen Zielregionen der habsburgischen Deportationen vorgestellt.

Vor diesem Hintergrund werden im Hauptteil des Buches in unterschiedlich langen Fallstudien acht Deportationen analysiert: Die „Ausschaffung“ der Uskoken von Senj, das Projekt „Carlograben“, die Transmigrationen nach Siebenbürgen, der Temeswarer Wasserschub, die Deportationen der Salpeterer, die kroatischen und slawonischen „Tumultuanten“, die Deportationen aus der Mährischen Walachei sowie jene der Deisten und Israeliten aus Böhmen. In einem eigenen Kapitel werden drei kleinere Deportationen aus Mähren, aus Vorderösterreich und aus dem Waldviertel zusammengefasst. Unter den Fallstudien ragen die Kapitel zu den Deportationen der Transmigranten nach Siebenbürgen und zum Wasserschub nach Temeswar nicht nur im Umfang, sondern auch bezogen auf ihre Quellengrundlage heraus. Abgeschlossen wird dieser Teil der Arbeit mit der vorsichtigen, vom Autor selbst als Versuch eingeschätzten Quantifizierung der Deportationen im Habsburgerreich und deren auf wackeligen Füßen stehendem Vergleich mit dem europäischen Umfeld. Danach betrug die Zahl der Deportierten zwischen 1700 und 1760 in der Habsburgermonarchie etwa 7.400 Personen, davon rund 3.500 Transmigranten und gut 3.100 Wasserschübler. Laut Steiner rangierte das Habsburgerreich damit nach dem Spitzenreiter England und Portugal auf Platz drei, vor Spanien und Frankreich. Im letzten Kapitel – „Aspekte und Prospekte einer Longue Durée“ – verbindet Steiner die Fragestellung und Thesen mit den Befunden seiner Fallstudien und ordnet sie in eine Geschichte des Phänomens Deportationen bis in die Gegenwart ein.

Auf einer beeindruckenden Quellengrundlage, den Forschungsergebnissen mehrerer Fächer und unterschiedlichen Ansätzen folgend sowie Mikro- und Makrogeschichte verknüpfend liefert die Studie nahezu eine histoire totale der Deportationspolitik und -praxis im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts. Insofern weist die Publikation Züge eines Handbuchs auf. Mit den einzelnen Fallstudien liegen erstmals monographische Untersuchungen für nahezu alle Deportationen im Habsburgerreich der Frühen Neuzeit vor. Mit Blick auf das erste der drei Ziele der Studie kann sie demnach überzeugen. Quellengesättigt setzt sie hier Maßstäbe für die künftige Forschung.

An Grenzen stößt die Arbeit hinsichtlich des zweiten Ziels: des Vergleichs eines angenommenen Deportationssystems in der Habsburgermonarchie mit den europäischen Entwicklungen der Frühen Neuzeit. Die für sich überzeugenden Fallstudien sind im Buch aneinandergereiht, ohne dass Verbindungslinien sichtbar oder aufgezeigt würden. Ob und, wenn ja, wie sich die einzelnen Deportationen zueinander verhielten, wird nicht deutlich. Zwar wird der Versuch unternommen, „Genealogien“ (S. 505) der Deportationen in der Habsburgermonarchie zu ermitteln. Doch deren Existenz nachzuweisen, gelingt dem Autor, wie er selbst einräumt, nicht – trotz seiner immensen Quellenkenntnisse. Auch die als Ersatz angebotene „nachvollziehbare Indizienkette“ für ein „Übertragungsphänomen Deportation“ (S. 504) kann über diesen Befund nicht hinwegtäuschen. Daher bewegt sich das Plädoyer für ein Aufgreifen des Kolonialismusdiskurses in der Habsburgermonarchie (Binnenkolonialismus) auf unsicherem Boden. Schlüssiger erscheint eher die Einordnung der Deportationen in die demographischen Experimente des Habsburgerreichs, die im Untersuchungszeitraum nicht zufällig einen Schwerpunkt im Banat, in den Militärgrenzen und in Siebenbürgen hatten.

Über das Ziel hinaus schießt die Studie mit Blick auf ihr drittes zentrales Anliegen, die habsburgischen Deportationen der Frühen Neuzeit an den Anfang einer Kette zu setzen, die bis in die Gegenwart reicht – sie förmlich als Geburt der modernen Gewaltgeschichte zu deuten. Diese These, die Steiner im Anschluss an den Historiker William O’Reilly4 nicht zum ersten Mal und hier abgeschwächt äußert, sieht in den fast bis zum Ende des 18. Jahrhunderts andauernden Deportationen nicht den Abgesang des konfessionellen Zeitalters, sondern die Ouvertüre, geradezu die Geburt der ethnischen Säuberungen im nationalen Zeitalter und im 20. Jahrhundert: „Zeigt der Rassismus nicht bereits in der Frühen Neuzeit in wesentlichen Zügen sein schmutziges Gesicht?“ (S. 55). Der Versuch, von der frühneuzeitlichen Gewaltgeschichte der Habsburgermonarchie gleich zu sechs Schlüsselbegriffen der Zeitgeschichte und Gegenwart – Rassismus, Kolonialismus, Genozid, ethnische Säuberungen, Kriegsverbrechen und Totalitarismus – Verbindungen herzustellen, erweist sich als ein Konstrukt, dem es an Grundlagen und Überzeugungskraft fehlt.

Das gut geschriebene Buch ist ein Lesegenuss. Es holt quellengesättigt die Deportationen im Habsburgerreich der Frühen Neuzeit aus ihrer forschungsgeschichtlichen Randlage heraus. Das ist sicher sein großes und bleibendes Verdienst. Es bietet Grundlagen für eine noch zu leistende vergleichende Forschung zu den Deportationen auf europäischer Ebene, womit es wichtige Forschungsperspektiven aufzeigt. Nicht zuletzt fordert es durch seine bewusst darüber hinaus gehenden, provokativen Thesen über die Modernität, ja Gegenwärtigkeit der habsburgischen Deportationen zur Diskussion, aber auch zu deutlichem Widerspruch auf.

Anmerkungen:
1 Detlev Brandes u.a. (Hrsg.), Lexikon der Vertreibungen. Deportation, Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts, Wien 2010.
2 Konrad Schünemann, Österreichs Bevölkerungspolitik unter Maria Theresia, Bd. 1, Berlin 1935.
3 Andreas Helmedach, Bevölkerungspolitik im Zeichen der Aufklärung. Zwangsumsiedlung und Zwangsassimilierung im Habsburgerreich des 18. Jahrhunderts – eine noch ungelöste Forschungsaufgabe, in: Comparativ 6/1 (1996): Zwangsmigrationen in Mittel- und Südosteuropa, hrsg. v. Wolfgang Höpken, S. 41–62.
4 William O’Reily, Divide et impera. Race, Ethnicity and Administration in Early 18th-Century Habsburg Hungary, in: Guđmundur Hálfdanarson (Hrsg.), Racial Discrimination and Ethnicity in European History, Pisa 2003, S. 77–100.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch