C. Torp: Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat

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Titel
Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute


Autor(en)
Torp, Cornelius
Erschienen
Göttingen 2015: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
472 S., 16 Abb., 11 Tab.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jenny Pleinen, Philologisch-Historische Fakultät, Fach Geschichte, Universität Augsburg

Die sozial- und politikwissenschaftliche Debatte zur Entwicklung von Staatlichkeit hat seit dem Ende des Kalten Krieges einen entscheidenden Wandel durchlaufen: Vor allem während der frühen 1990er-Jahre diagnostizierten die meisten Forscher eine allgemeine Unfähigkeit westlicher Staaten, ihre sozialen Sicherungssysteme und andere zuvor überwiegend marktaverse Institutionen gegen die Logik globaler Finanzmärkte und den Trend zur internationalen Arbeitsteilung zu verteidigen. Entgegen dieser Annahme einer deterministischen Gemeinsamkeit des kapitulierenden Staates konstatiert die Forschung seitdem eher ein Spektrum unterschiedlicher Reaktionen auf ähnliche Problemlagen.1 Diese Governance-Debatten orientieren sich entsprechend der Fachkulturen vor allem an der Bildung von Idealtypen und finden weitgehend isoliert von der eher am Einzelfall orientierten historischen Forschung statt. Die hier zu rezensierende Habilitationsschrift von Cornelius Torp setzt auf einer solche Debatten verknüpfenden Mesoebene an, indem sie die Entwicklung der Rentensysteme Großbritanniens und der Bundesrepublik seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges systematisch miteinander vergleicht und die Debatten zu diesem Feld ebenso historisiert wie die verwendeten Statistiken.

Im Fokus der Arbeit steht somit eine Funktion moderner (Wohlfahrts-)Staatlichkeit, die nicht nur mehr oder weniger erfolgreich gegen ein gravierendes Armutsrisiko absichert, sondern von allen staatlichen Interventionen den anhaltend höchsten Rückhalt in der Bevölkerung genießt. Die Studie nimmt dabei nicht für sich in Anspruch, die komplette Entwicklung der beiden Rentensysteme von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zur Gegenwart en détail nachzuvollziehen, was im Rahmen einer Monografie auch kaum möglich gewesen wäre. Der große analytische Wert der Arbeit liegt vielmehr darin, dass sie die Geschichte handlungsorientierenden Wissens, politischer Aushandlungsprozesse und Strukturen sozialer Ungleichheit mit der Geschichte der Logiken und Praktiken wohlfahrtsstaatlicher Institutionen zu einem stimmigen Forschungsdesign verknüpft. Als Tiefenbohrungen dienen dabei vier britische und vier (west)deutsche Reformen aus der Expansions- und der Rückzugsphase des Sozialstaates, die in ihren jeweiligen politischen, sozialen, wissensgeschichtlichen und ökonomischen Kontext eingebettet werden.

Zusammengehalten werden die Analysefelder von der These, dass in Großbritannien und der Bundesrepublik zur Alterssicherung unterschiedliche „Gerechtigkeitskulturen“ ent- und bestanden, die ein hohes Maß an Veränderungsresistenz aufwiesen und die politischen Handlungsspielräume entscheidend prägten. Torp geht es dabei nicht nur um Gerechtigkeitssemantiken, sondern um die Rolle von Gerechtigkeitsvorstellungen im normativen Fundament der Sozialstaaten. Er wendet sich unter anderem gegen eine gängige Forschungsmeinung, der zufolge das Streben nach Sicherheit vor allem in der Bundesrepublik die normative Leitidee der Expansionsphase des Wohlfahrtsstaates gewesen sei, während Gerechtigkeit erst während der Um- und Abbauphase der 1990er-Jahre zentral geworden sei. Und in der Tat vermag die Studie überzeugend zu zeigen, dass ordnungsbezogene Vorstellungen von Verteilungsgerechtigkeit sehr unterschiedliche Ausformungen der Alterssicherung hervorbrachten. Gleichzeitig wird auch ein komplexes Zusammenspiel dieser Vorstellungen mit ökonomischen Rahmenbedingungen, Interessen sowie diversen institutionellen Pfadabhängigkeiten deutlich: So reduzierte laut Torp das auf Gleichheit und Armutsbekämpfung ausgerichtete britische System die Altersarmut aufgrund des niedrigeren Finanzvolumens wesentlich weniger als die Rentenversicherung der Bundesrepublik, obwohl die Renten hier zunächst auf die Wiederherstellung verlorengegangener Statusunterschiede und dann auf Statussicherung abzielten.

Die durchgehend von ökonomischer Knappheit geprägte britische Alterssicherung konnte sich nach der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr auf einen parteiübergreifenden Grundkonsens stützen und wurde daher viel früher Gegenstand tiefgreifender Einsparungsreformen, etwa mit der Abkoppelung der Renten von der Einkommensentwicklung (1980) oder die Abschaffung der erst in den 1970er-Jahren eingeführten einkommensbasierten Zusatzrenten (1986) durch die Regierung Thatcher. Demgegenüber wurde das Rentensystem der Bundesrepublik in gleichem Maße von den beiden Volksparteien und ihren Wählergruppen der Mittelschicht getragen, für die staatliche Renten als Geldanlage attraktiv waren, sodass es deutlich länger gegen tiefgreifenden Rückbau und Privatisierungsversuche resilient blieb. Ungeachtet dieses wichtigen Unterschieds wirkte die Denkfigur der „Generationengerechtigkeit“ in beiden Fällen der „automobilen“ Expansionslogik der Sozialstaaten seit den 1990er-Jahren entgegen und spielte so eine wichtige Rolle bei der Legitimation des jeweiligen Rückbaus. Torps Analyse beschränkt sich jedoch nicht auf solche semantischen Gemeinsamkeiten, sondern zeigt, dass sowohl die jeweilige Zeitlichkeit als auch das Ausmaß der Durchsetzung dieses Deutungsmusters in Großbritannien und der Bundesrepublik voneinander abwichen. Zudem wurden unterschiedliche soziale Gruppen als gegenüber Jüngeren ungerecht bevorteilt markiert: Die britische Diskussion zur „Generationengerechtigkeit“ konzentrierte sich auf die Betriebsrenten und den Immobilienbesitz der noch berufstätigen „Babyboomer“-Generation, während der Fokus in der Bundesrepublik vor allem auf den Versorgungsansprüchen der aktuellen Rentner lag. Generationsinterne Einkommens- und Vermögensunterschiede wurden in diesen Diskussionen hingegen weitgehend ausgeblendet. Durch die kombinierte wissens- und sozialgeschichtliche Perspektive zeigt die Studie wiederholt die Selektivität der gesellschaftlichen Aneignung humanwissenschaftlicher Expertise und ihre langfristigen politischen Folgen auf.

Zur Alterssicherung zählt Torp auch die staatliche Regelung privater Renten (inklusive Betriebsrenten), die vor allem in der Rückzugsphase des Sozialstaates eine zunehmend wichtigere Rolle zu spielen begannen. Sie wurden in Großbritannien – und hier liegt ein folgenschwerer Unterschied zur Bundesrepublik – jedoch bereits seit den 1950er-Jahren steuerlich begünstigt. So entstand dort nicht nur viel früher eine hochentwickelte Versicherungswirtschaft, die als mächtige Lobby Einfluss auf Reformen nahm, sondern die Interessen der Arbeitnehmer waren durch die geförderte Option des Austritts aus der staatlichen Rente auch fragmentierter als in der Bundesrepublik. Durch diesen weiten Zuschnitt leistet die Studie einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des hybriden Wohlfahrtsmarktes, der seit den 1980er-Jahren durch eine Verlagerung vom versorgenden zum regulierenden Staat entstand. In der mit der Riester-Reform durch die rot-grüne Koalition begonnenen Teilprivatisierung der deutschen Alterssicherung sieht Torp den Beginn einer konvergenten Entwicklung der in ihrer Anlage so unterschiedlichen Systeme, die mit einem allgemeinen internationalen Trend seit den 1990er-Jahren übereinstimmt. Angesichts der finanziellen Krise der staatlichen Alterssicherungssysteme wurde zunehmend das von der Weltbank und anderen supranationalen Akteure vertretene Mehrsäulenparadigma als problemlösendes Handlungswissen akzeptiert. Zustande kam diese Krise ungeachtet der dominanten Diskurse jedoch weder in Großbritannien noch in der Bundesrepublik unmittelbar durch den demografischen Wandel, sondern durch den zunehmenden Wegfall der Betriebsrenten (Großbritannien) bzw. durch steigende Arbeitslosigkeit und die bis Ende der 1980er-Jahre geförderte Frühverrentung (Bundesrepublik).

Wie in der Einleitung erläutert, ist das Design der Studie gleichzeitig aber auch eng gefasst, da der Fokus auf Rentenleistungen liegt und die Pflege, die Bereitstellung sozialer Dienste sowie die Gesundheitsversorgung alter Menschen nur am Rande berücksichtigt werden. Angesichts der stark steigenden Kosten für die (intensiv)medizinische Versorgung und die Pflege alter Menschen vor allem während ihrer letzten Lebensjahre stellt sich allerdings die Frage, ob in den Debatten etwa über die zumutbare Höhe von Selbstbeteiligungen und die Einbeziehung von Immobilien in die Finanzierung nicht spätestens ab den 1990er-Jahren auch zentrale Aspekte von Gerechtigkeitsvorstellungen verhandelt wurden.

Solche Überlegungen schmälern den innovativen Wert dieser hervorragenden Studie jedoch kaum. Ihr multiperspektivischer Ansatz und die analytische wie sprachliche Präzision der Argumentation machen sie zur Pflichtlektüre für an der Entwicklung von Sozialstaaten interessierte Historiker und gleichzeitig zu einem zentralen Debattenbeitrag für mehrere Stränge der Governance-Diskussionen in unseren Nachbarfächern.

Anmerkung:
1 Siehe als Beispiel Duane Swank, Global Capital, Political Institutions, and Policy Change in Developed Welfare States, Cambridge 2002.