Cover
Titel
Topographies of Suffering. Buchenwald, Babi Yar, Lidice


Autor(en)
Rapson, Jessica
Erschienen
Oxford 2015: Berghahn Books
Anzahl Seiten
XIII, 227 S., 20 Abb.
Preis
$ 110.00; £ 68.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Hansen, Hugo Valentin Centre, Uppsala University

„Topographies of Suffering“ ist eine Entdeckungsreise durch Landschaften und Theorien auf der Suche nach einem frischen Blick auf Gedenkorte der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung und ihrer Opfer. An der Schnittstelle von neuer Kulturgeographie und Memory Studies eröffnet Jessica Rapson durch die Einbindung von Perspektiven aus Ecocriticism, Spatial und Transcultural Turn Betrachtungsmöglichkeiten von Gedenkstätten, die im Rahmen der klassischen, an Geschichtspolitik und nationaler Identifikation orientierten Annäherung an solche Orte bislang kaum wahrgenommen wurden. Sie erörtert dies anhand von drei Fallstudien: bezogen auf die Gedenkstätte Buchenwald bei Weimar, den Gedenkpark Babi Yar in Kiew und das tschechische Dorf Lidice.

Im Zentrum des auf einer 2012 verteidigten Dissertationsschrift basierenden Buches steht der Begriff der Landschaft. Die Wahrnehmung von Gedenkstätten als Landschaften scheint erst einmal nicht ungewöhnlich zu sein, sind doch „Erinnerungslandschaft“ oder „Gedächtnislandschaft“ vertraute Begriffe. Eindrücklich zeigt Rapson, wie viele Überlegungen zu Landschaft und Raum in herkömmlichen Konzeptionen von Erinnerung und Gedächtnis bereits vorhanden sind, beispielsweise durch Verweise auf den Pionier der Memory Studies, Maurice Halbwachs. Sie greift auch Pierre Noras „lieux de mémoire“ auf, um sich dann von diesem weit verbreiteten Konzept zu distanzieren: So argumentiert Rapson, dass Gedenkstätten zwar Aufmerksamkeit und Besuch erhielten, weil sie als signifikant für die Konstruktion einer Nation oder nationalen Identität gelten, dass ihre Wahrnehmung aber bei Weitem nicht auf diese Dimension beschränkt sei. Sie untersucht solche Orte daher nicht als Repräsentationen politischer und institutioneller Agenden, sondern als Rahmen für mögliche Erfahrungen. Weiterhin problematisiert sie den statischen Charakter, den herkömmliche Konzepte Gedenkorten als fixierten Repräsentationen von Gedächtnis in Kombination mit nationaler Identität zuschreiben. Dem setzt sie das Konzept der Landschaften entgegen: „where ‚site‘ implies stasis, ‚landscape‘ implies metamorphosis“ (S. 9).

In Anlehnung an die theoretische Konzeption des britischen Kulturgeographen John Wylie definiert Rapson Landschaften als kulturelle Texte, die als solche und in ihrer Interaktion mit anderen Texten lesbar und analysierbar sind. Genau wie Gedächtnis seien Landschaften grundsätzlich Sphären der Gegenwart und entstünden durch soziale Prozesse. Indem sie die Interaktion von Menschen mit bestimmten Landschaften fokussiert, und damit den dynamischen Wandel, in dem sich Erinnerungsorte permanent befinden, wird sie dem fluiden Charakter von Gedächtnis gerecht, das sich, eingebettet in soziale Netzwerke und deren Praktiken, ebenfalls ständig verändert. Erinnerungsorte bzw. -landschaften versteht Rapson als „co-ordinates in the dialogue that fuels memory’s dynamism and evolution“ (S. 8). Angesichts ihrer prozessorientierten Definition von Landschaft verwundert es etwas, dass sie sowohl von Orten als auch von Texten als „Koordinaten“ spricht – in der Regel festen, unveränderlichen Punkten, die eine Lage angeben. Vorstellbar ist, dass sie Koordinaten quasi als materialisierte Momentaufnahmen sieht, die einen Punkt im ständigen Wandel des Gedächtnisses beschreiben. Letztlich verweist diese terminologische Unebenheit vor allem auf die Schwierigkeit, in diesem Feld Begriffe zu finden, mit denen sich dynamische Prozesse beschreiben lassen.

Methodisch geht Rapson von theoretischen Überlegungen verschiedener Geistes- und Sozialwissenschaftler/innen aus und verknüpft diese mit ihren Beobachtungen in situ. Damit bindet sie ihre Überlegungen eng in Forschungsdiskurse der Memory Studies und der neuen Kulturgeographie ein und leistet tatsächlich eine interdisziplinäre Kombination und Weiterentwicklung bisheriger Ansätze. Allerdings könnten die Verweise auf die vorhandene Literatur ausführlicher sein, zumal Rapson ein breites Forschungsspektrum einbezieht. Wer die Werke und Theorien nicht kennt, auf die sie sich bezieht, wird teilweise Mühe haben, der Argumentation zu folgen.

Da ihre Methode eher darauf ausgelegt ist, Türen zu öffnen und neue Perspektiven einzunehmen, als Ergebnisse zu produzieren und Schlüsse zu ziehen, gleicht das Buch einer Reise – ein Begriff, der in der Arbeit sehr präsent ist. Nicht nur die Autorin ist unterwegs, auch das Gedächtnis oder dessen Elemente reisen durch Erdteile, Kulturen und die Zeit. Indem Rapson jeden der drei gewählten Ausgangsorte in drei Schritten exploriert – zunächst als historische und geographische Landschaft, dann in der Interaktion mit literarischen Texten und Zeitzeugenberichten, schließlich als transkulturelles Vehikel –, schafft sie die Struktur, die nötig ist, um in der Fülle von Ideen und Beobachtungen die Orientierung zu behalten.

Die Reise beginnt in der Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Buchenwald. Rapson beschreibt den heutigen Ort als Teil der Kulturlandschaft Weimars und geht dabei auf die verschiedenen Zeitschichten des Gedenkens ein. Anhand von Passagen aus Jorge Semprúns Romanen „Die große Reise“, „Was für ein schöner Sonntag“ und „Schreiben oder Leben“ zeigt sie, „[how t]estimonial narratives animate landscapes of atrocities“ (S. 62), und wie dies durch die Erörterung von Natur geschehen kann. Auf den Spuren von Mark Jacobsons literarischen Reiseerinnerungen „The Lampshade. A Holocaust Detective Story from Holocaust to New Orleans“ setzt Rapson die nationalsozialistische Verfolgung und Ermordung mit den Folgen einer Naturkatastrophe und dem daran sichtbar werdenden Rassismus in den USA in einen Dialog, ohne dabei Opfer oder Ereignisse gleichzusetzen. Der Idee von Gewalt als „cleansing force“ folgend knüpft sie an Rob Nixons Konzept „Slow Violence and the Environmentalism of the Poor“ an (so sein Buchtitel von 2011), welches die armen Bevölkerungsteile als primäre Leidtragende von profitorientierten Eingriffen in Umwelt und Landschaft fokussiert.

Das zweite Ziel ist Babi Yar, eine Schlucht bei Kiew (heute zum Stadtgebiet gehörig), in der die deutschen Einsatzgruppen mit Hilfe der Wehrmacht 1941–1943 über 100.000 Menschen ermordeten, vor allem Jüdinnen und Juden. Die Untersuchung des landschaftlichen Kontexts führt Rapson sowohl am späten Beginn des Babi-Yar-Gedenkens vorbei als auch am räumlich und gesellschaftlich dominierenden Gedenken an die ukrainische Hungerkatastrophe von 1932/33, genannt „Holodomor“. Im Lichte des kontrovers diskutierten Romans „The White Hotel“ von D.M. Thomas (zuerst 1981 erschienen), der Fragmente von Zeitzeugenaussagen in die Geschichte einer freudianischen Fallstudie integriert, veranschaulicht Rapson Prozesse der „mediation and re-mediation“ von Erinnerung. Der Blick auf die Entstehung des Babi Yar Parks in Denver (eingeweiht 1982) und die jüngsten Bemühungen, die Erinnerung an Babi Yar mit „9/11“ und dem „War on Terror“ zu verbinden, ergänzt dies um eine transnationale und transkulturelle Komponente.

Der dritte Teil der Reise führt nach Lidice, ein tschechisches Dorf, welches die Deutschen 1942 als „Antwort“ auf die Ermordung Reinhard Heydrichs buchstäblich dem Erdboden gleich machten. Der Rosengarten, der an die Stelle des in der Nähe wiedererrichteten Orts gepflanzt wurde, inspiriert Rapson zu einer Diskussion von Zygmunt Baumans metaphorischer Beschreibung von ethnischer Säuberung im Allgemeinen und der nationalsozialistischen Rassenpolitik im Besonderen als Garten, wo „eingezäunt“ und „Unkraut vernichtet“ wird (S. 143). Anschließend zeichnet sie das globale Netzwerk auf, welches durch den Export der Erinnerung an Lidice entstanden ist, der sich unter anderem in Straßenbenennungen und Initiativen für Städtepartnerschaften äußert. Anhand der Beispiele des britischen Bergarbeiterortes Stoke-on-Trent und des aserbeidschanischen Khojaly, wo armenische Truppen 1992 im Rahmen des Konflikts um Berg-Karabach nach aserbeidschanischen Angaben 613 Zivilisten ermordeten, illustriert sie gegenwärtige und von der Geschichte der nationalsozialistischen Verfolgung abgekoppelte Motivationen transnationaler und transkultureller Erinnerungsbezüge.

Die drei Fallbeispiele sind gut gewählt: Es handelt sich um relativ bekannte Erinnerungsorte, zu denen es Zeitzeugenberichte, literarische Zeugnisse und andere Formen internationaler Resonanz gibt. Gleichzeitig sind sie so disparat, dass sich ganz unterschiedliche Zusammenhänge von Gedenken und Landschaft an ihnen festmachen lassen. Dass Rapson die Landessprachen ihrer Fallbeispiele nicht spricht, was naturgemäß die Auswahl der Quellen beschränkt, fällt weniger ins Gewicht als erwartet, da sie transnationale und transkulturelle Verbindungen und Netzwerke in den Mittelpunkt stellt. Bedauerlich ist allerdings, dass die Autorin ihre Quellen nicht offenlegt. Ihr vielfältiges Quellenkorpus, das Archivmaterial, Reiseführer, fiktionale Literatur, Presseartikel, Zeitzeugenaussagen, Internetforen, Interviews und informelle Gespräche einschließt, verzeichnet Rapson weder im Anmerkungsapparat noch existiert ein Quellenverzeichnis, so dass es nicht möglich ist, ihren Spuren zu folgen.

Den Abschluss bildet eher ein „Making-of“ denn eine abschließende Interpretation. Im konsequenterweise „Travelling to Remember“ überschriebenen Fazit reflektiert Rapson ihre eigenen Wege und Umwege, die zu diesem Werk geführt haben, strukturiert durch Reiseepisoden aus W.G. Sebalds Roman „Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt“ (1995). Das mag viele Fragen offen lassen, passt aber zum Stil des Buches – es handelt sich eben gerade nicht um eine geschichts- oder sozialwissenschaftliche Abhandlung nach bekannten Schemata, sondern um eine interdisziplinäre Exploration auf nicht immer klar ausgeschilderten oder leicht begehbaren Wegen.

Jessica Rapson hat ein faszinierendes Buch geschrieben, dass sich zwar nicht für den Einstieg in die Thematik von Gedächtniskultur und Gedenkorten eignet, aber diejenigen, die sich ohnehin damit beschäftigen, ungemein inspirieren kann. Man mag Rapsons Argumentation an verschiedenen Stellen mit Widerspruch begegnen, was die Arbeit als Diskursbeitrag jedoch umso wertvoller macht. Die Autorin formuliert in ihrer Einleitung den Wunsch, die Forschung zu Erinnerungsorten, die nach einer Flut von Arbeiten in den letzten zwei Dekaden ermüdet zu sein scheint, mit ihrem landschaftlich fokussierten Ansatz zu beleben. Ihr Buch hat definitiv das Potential dazu.