M. Frey: Der Erste Weltkrieg und die Niederlande

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Titel
Der Erste Weltkrieg und die Niederlande. Ein neutrales Land im politischen und wirtschaftlichen Kalkuel der Kriegsgegner


Autor(en)
Frey, Marc
Reihe
Studien zur internationalen Geschichte 5
Erschienen
Berlin 1998: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
411 Seiten
Preis
€ 79,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Bußmann, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Vor einigen Jahren noch schien die Geschichte des Ersten Weltkriegs weitgehend geschrieben. Die erbitterten Deutungskontroversen ueber den Kriegsausbruch, die "Schuldfrage" und die Kriegsziele waren zwar nicht befriedigend abgeschlossen, aber doch vorueber. Zumindest kamen kaum neuere Argumente zum Vorschein. Die wesentlichen Felder galten als ausreichend erforscht.(1) Doch wie es kein "Ende der Geschichte" gibt, so kann auch die Historiographie niemals finalisiert werden - insbesondere nicht die Diskussion um den Ersten Weltkrieg. Denn schaut man erst einmal etwas abseits des grossen Bildes, so lassen sich selbst acht Jahrzehnte, nachdem die "Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts" (George F. Kennan) ihr vorlaeufiges Ende fand, erstaunliche Forschungsluecken ausmachen und wichtige neue Erkenntnisse gewinnen. Marc Frey hat dies in seiner Dissertation von 1996, die nun als Buchhandelsausgabe vorliegt, in eindrucksvoller Art und Weise demonstriert. Seine Arbeit greift gleich zwei Defizite der bisherigen Forschungen auf: Zum einen widmet sie sich umfassend den Niederlanden im Ersten Weltkrieg. Erstaunlicherweise gab es bisher keine befriedigende Darstellung der Neutralitaetspolitik dieses Landes zwischen 1914 und 1918 (2) - im Unterschied zu den USA, der Schweiz oder den skandinavischen Laendern. Zum anderen bezieht Frey nachdruecklich wirtschaftliche, finanzielle, innenpolitische und strategische Elemente in die Analyse der aussenpolitischen Ablaeufe ein.

Dass zeitgemaesse Geschichtsschreibung eine Symbiose mindestens von klassischer Diplomatiegeschichte und "moderner" Wirtschaftshistoriographie darstellen sollte, bleibt zu oft wohlfeiles Postulat. Doch sind viele Themen ohne diese Verbindungen kaum adaequat in den Griff zu bekommen. Das gilt fuer diesen Untersuchungsgegenstand in besonderer Weise. Schliesslich laesst sich gerade in der sich im Ersten Weltkrieg deutlich veraendernden Verhaltensweise Deutschlands gegenueber den Niederlanden eine Erweiterung der diplomatischen Mittel um oekonomische wie auch um kulturpolitische Strategien beobachten. Dies spiegelt sich nicht zuletzt wider in der Auswechslung des Gesandten Felix von Mueller zugunsten Richard von Kuehlmanns. Der musikalisch begabte von Mueller wartete lediglich mit herkoemmlicher, gelegentlicher "Hofberichterstattung" auf, die in den Zeiten des ersten entfesselten Massenkrieges schnell Schiffbruch erlitt. Von Kuehlmann dagegen zog nicht nur Presse- und Kulturpropaganda in groesserem Stil auf, sondern vermochte auch aufgrund seiner oekonomischen Versiertheit den deutschen Wirtschaftsinteressen nachhaltiger zu dienen. Sein Nachfolger Friedrich Rosen setzte zwar wiederum etwas andere Akzente, doch blieb der fundamental andere Ansatz bestehen - nicht zuletzt weil Kuehlmann wenig spaeter Staatssekretaer des Auswaertigen Amts wurde. Eine aehnliche Mehrdimensionalitaet zeigt sich in der britisch-amerikanischen Blockadepolitik. Wenn schon in der Zeit die Verbindungen zwischen Politik und Wirtschaft immer enger wurden und sich die Entwicklung hin zur modernen Aussenwirtschaftspolitik - allerdings unter Kriegsbedingungen - abzeichnete, so muss auch die Beschreibung und Analyse der Zeit diesem Faktum Rechnung tragen.

Diese Verflechtungen hat Frey eingehend beleuchtet und einige Ergebnisse bereits frueher vorgestellt;(3) nun liegt das dazugehoerige 'opus magnum' vor. Diesem Namen wird es weitgehend gerecht, schon allein weil der Autor eine eindrucksvolle Menge an archivalischen Quellen in den Niederlanden, Deutschland, Grossbritannien und den USA erschlossen hat. Das empirische Material ist zudem ansprechend aufbereitet. Die Analyse beruecksichtigt ausserdem in vollem Umfang die wissenschaftliche Diskussion ueber den Ersten Weltkrieg und gibt ihr wichtige neue Impulse.

Um ein Beispiel aus einer Anzahl bisher unbekannter, teils verblueffender Einzelbefunde herauszugreifen, sei die "Sand-und-Kies-Kontroverse" angesprochen. Dass diese Frage ein heissdiskutiertes Problem der deutsch-niederlaendisch-britischen "Beziehungen" der Jahre 1915-18 war, ist nicht unbekannt, doch so richtig durchschaut und verstanden hat diese komplizierten polit-oekonomischen Verflechtungen und Handlungsverlaeufe bisher wohl kaum jemand.

Auf der Basis umfangreichen Quellenmaterials gelingt Frey nun eine anschauliche Analyse dieser Frage, die zugleich symptomatisch fuer die Gesamtsituation der Niederlande im Ersten Weltkrieg ist (S. 254ff): Fuer den Bau von Bunkern und Stellungen an der Westfront benoetigte das deutsche Heer eine Unmenge an Baumaterialien - die bequemerweise per Schiff durch die Niederlande transportiert wurde. Schliesslich verbot die Rheinschiffahrtsakte von 1868 dem Nachbarland Eingriffe in den Transit zwischen Belgien und Deutschland. Doch galt diese Abmachung nur fuer zivile Gueter. Die Reichsleitung versicherte denn auch gebetsmuehlenartig, der Sand und Kies diene nur dem Wiederaufbau der belgischen Strassen; Betonunterstaende und Befestigungen baue man damit selbstverstaendlich nicht. Die Regierung im Haag kannte die Wahrheit, waehlte aber, um das Kaiserreich nicht zu veraergern, zunaechst den bequemeren Weg, den offenkundigen deutschen Luegen zu glauben - und einige Niederlaender verdienten kraeftig daran: Sie stellten ueber die Haelfte der Transportkapazitaeten, lieferten monatlich eine Viertelmillion Tonnen Baumaterial und traten als Subunternehmer in Belgien auf. Der Vorwurf, "military highway" des Reiches zu sein, verbunden mit sich steigerndem britischem Druck, fuehrten Mitte August 1917 dazu, dass die Niederlande den Transit zeitweise unterbanden. Deutschland erzwang jedoch nur einen Monat spaeter die Bewilligung eines weiteren Grosstransports. Aus Protest kappte Grossbritannien saemtliche ueber die Insel fuehrenden niederlaendischen Telegraphenkabel: der Hoehepunkt der Hilflosigkeit fuer das Land, das "auf dem schmalen Pfade der Neutralitaet zwischen Scylla und Charybdis hindurchzusteuern" versuchte.(4)

Angesichts dessen stellt Frey die berechtigte Frage, ob die niederlaendische Neutralitaetspolitik im Ersten Weltkrieg vornehmlich Ausdruck souveraener Entscheidungen, kluger Diplomatie und abschreckenden Militaerpotentials war - wie dies bisweilen gerne der Eigenwahrnehmung entspricht - oder ob "das Land nicht vielmehr Objekt als Subjekt in den internationalen Beziehungen" dieser Jahre war (S. 11). Zurecht betont Frey immer wieder den geringen, stetig sich verringernden Manoevrierraum des neutralen Kleinstaats. Dieser war als "Brennpunkt konkurrierender Ansprueche" (S. 362) am Ende aeusserer Willkuer ausgeliefert und musste sogar die Beschlagnahme seiner Handelsflotte hinnehmen.

Die Bilanz des Autors nach Analyse der deutschen, britischen und amerikanischen Interaktionen mit den Niederlanden faellt wenig guenstig fuer das kleine Land aus. Seine Neutralitaet verdankte es weit weniger eigenem Geschick als dem Interesse der anderen. Alle Kriegfuehrenden sahen darin den, zumindest relativ, groessten Nutzen fuer sich selbst.

Die Kategorien Webers und Morgenthaus, dass Machtdurchsetzung von der Akzeptanz der Gegenseite abhaengig ist und somit Neutralitaetspolitik auf der Anerkennung durch die Kriegfuehrenden beruht, wendet Frey konsequent und gewinnbringend auf den konkreten Fall der Niederlande zu Beginn dieses Jahrhunderts an. Deren besondere Brisanz ergibt sich aus der aeusserst heiklen geostrategischen Lage des Kleinstaats im wahrsten Sinne des Wortes zwischen den militaerischen Fronten. Dass die niederlaendische Neutralitaet - im Unterschied zur belgischen, griechischen oder amerikanischen - dennoch bis Kriegsende anhielt, bedarf einer Erklaerung. Freys Deutung ist ebenso schluessig wie auf den ersten Blick schizophren: Gerade weil die Niederlande am Ende faktisch keinen eigenen Handlungsspielraum mehr hatten, konnten sie ihre aeussere nicht-teilnehmende Haltung aufrechterhalten. Hervorstechendes Merkmal der niederlaendischen Neutralitaet war ihre fortschreitende faktische Aushoehlung.

Urspruenglich als "Luftroehre" (Helmuth von Moltke) des von einer britischen Blockade bedrohten Kaiserreiches gedacht, wegen der sogar der Schlieffenplan geaendert wurde, um die niederlaendische Neutralitaet zu bewahren, konnte der Nachbarstaat nur kurzzeitig diese ihm zugewiesene Funktion erfuellen. Sein Wert als Aussenhandelspartner fuer Deutschland verringerte sich mit der zunehmenden britischen Einbindung der Niederlande in ihre Fernblockade der europaeischen Zentralmacht. Diese Lage verschaerfte sich nochmals seit dem Kriegseintritt der USA, durch den neutraler Kleinstaat wie kriegfuehrende Grossmacht fast gaenzlich von der uebrigen Welt abgeschnitten wurden. Dies bedeutete sowohl eine wachsende Abhaengigkeit der Niederlande vom Kaiserreich, als auch eine sich stetig ausweitende Interessenkohaesion beider Staaten. Damit einher ging ein Wechsel in der deutschen Sichtweise auf die Niederlande. In der ersten Kriegshaelfte ist sie vornehmlich von expansiven Bestrebungen mit Blick auf Nordseekueste und Ueberseekolonien dominiert; es wird haeufig im Bild des "verlorenen Stammes" gedacht. Doch mit verschlechternder Kriegslage werden die Zukunftsplaene defensiver, die Haltung insbesondere der Obersten Heeresleitung aber aggressiver.

Frey zeichnet die inner-niederlaendischen Strategien und Versuche nach, mit denen auf die Ansprueche der Grossmaechte reagiert wurde. Gruendung und Entwicklung der 'Nederlandsche Overzee Trustmaatschappij' (NOT) als Reflex auf britischen Wirtschaftsdruck werden ebenso dargestellt wie die Auswirkungen der unterschiedlichen Phasen des deutschen U-Boot-Kriegs. Die Analyse zeichnet die Entwicklung der von Konzessionen an beide Seiten gekennzeichneten "symmetrische[n] ... Neutralitaet" (S. 364) der ersten beiden Kriegsjahre zur Doppel-Bedraengung durch Invasionsgefahr und Entente-Embargo seit dem Scheitern der Kooperationsbestrebungen mit den USA nach. Dieser Schlingerkurs war mit nicht unbetraechtlichen Friktionen verbunden. Die verschiedenen Ansaetze von Neutralitaetspolitik koennen auch an Personen, wie dem ententefreundlicheren Aussenminister John Loudon und dem Deutschland geneigteren Ministerpraesidenten Cort van der Linden (Spitznamen wahlweise: Cort, Kurt bzw. Caught unter den Linden), festgemacht werden.

Grossbritannien und Deutschland als die beiden wesentlichsten Fixationspunkte der niederlaendischen Aussenpolitik, als Hauptbuhler um den zwischen ihnen liegenden neutralen Kleinstaat draengen sich zur Untersuchung geradezu auf. Die Vereinigten Staaten bieten einen reizvollen und analytisch gehaltvollen Gegenpol, werden sie doch vom mehrfach angerufenen (aber meist abweisenden) grossen neutralen Bruder zur harten, die niederlaendischen Interessen bisweilen brutal missachtenden Kriegspartei.

Gelungen ist an dem Buch die wechselnde Perspektive, die Darstellung der unterschiedlichen Sichtweise Deutschlands, Englands und der Vereinigten Staaten auf die Niederlande. Dadurch koennen Erkenntnisse gewonnen werden, die bei singulaerer Betrachtung eines Landes verschlossen bleiben wuerden. Neben dem Hauptanliegen, die Lage der Niederlande und die politischen und oekonomischen Ambitionen bezueglich des neutralen Nachbarn zu portraitieren, zeichnet Frey dabei das Bild des anderen nach, das sich die Kriegfuehrenden von dem Kleinstaat machten. Den Wert der Studie macht zudem aus, dass sie sich nicht auf den eigentlichen Zeitraum des Weltkriegs beschraenkt, sondern von der Jahrhundertwende, einsetzend mit dem Beginn der deutschen Flottenruestung, bis ueber Versailles hinaus und in die Nachkriegszeit hinein die Problematik aufrollt. Somit werden nicht nur die Ausgangslage im August 1914, die unterschiedlichen Phasen des Wirtschaftskrieges und die sich wandelnden Kriegsziele deutlich, sondern auch Zukunftsvorstellungen der Kriegsteilnehmer fuer den Kleinstaat nach 1918 sowie die Bemuehungen der Niederlande, ihre fruehere internationale Bewegungsfreiheit wiederzugewinnen.

Freys Arbeit ist eine geglueckte Verbindung von Diplomatie- und Wirtschaftsgeschichte in lesbarer Form. Zusaetzlich praesentieren 30 Tabellen anschaulich wichtige Daten, von denen sich nur die zwei mangelhaft beschrifteten und in schlechter Druckqualitaet wiedergegebenen Statistiken im Appendix negativ abheben. Fuer die Erforschung der Geschichte des Ersten Weltkriegs und der Niederlande am Beginn des 20. Jahrhunderts stellt das Buch einen grossen Gewinn dar und kann - trotz des prohibitiven Preises - uneingeschraenkt empfohlen werden. Die Stellung der Niederlande im Machtgeflecht zwischen Deutschland, England und den USA 1897-1925 hat nun eine angemessene Darstellung.

Anmerkungen:

(1) Dass die Diskussion an einen vorlaeufigen Endpunkt gekommen war, deutete nicht zuletzt das Erscheinen von resuemierenden Sammelbaenden an, wie MICHALKA, Wolfgang (Hg.): Der Erste Weltkrieg, Wirkung - Wahrnehmung - Analyse, Muenchen/Zuerich 1994 oder SCHOELLGEN, Gregor (Hg.): Die Aussenpolitik des kaiserlichen Deutschland, Darmstadt 1991. Auch die parallele Veroeffentlichung von mehreren Ueberblicksdarstellungen zur deutschen Aussenpolitik kann in diesem Sinne gewertet werden, vgl. HILDEBRAND, Klaus: Das vergangene Reich, Deutsche Aussenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871-1945, Stuttgart 1995; MOMMSEN, Wolfgang J.: Grossmachtstellung und Weltpolitik, Die Aussenpolitik des Deutschen Reiches 1870 bis 1945, Frankfurt/Berlin 1993; NIPPERDEY, Thomas: Deutsche Geschichte 1866-1918, 2 Bde., Muenchen 1990/92; ULLRICH, Volker: Die nervoese Grossmacht, Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreiches 1871-1918, Frankfurt 1997.

(2) Die einzig vorhandenen Darstellungen von Cornelius SMIT ("Nederland in de Eerste Wereldoorlog", 3 Bde., Groningen 1971-73 und "Tien studien betreffende Nederland in de Eerste Wereldoorlog", Groningen 1975) kritisiert Frey zurecht als unzureichend und selektiv.

(3) "Deutsche Finanzinteressen an den Vereinigten Staaten und den Niederlanden im Ersten Weltkrieg", in: Militaergeschichtliche Mitteilungen 53 (1994), 327-353; "Trade, Ships, and the Neutrality of the Netherlands in the First World War", in: International History Review 8 (1997), 541-562; "Kriegsziele, Politik und Wirtschaft, Deutschland und die Niederlande im Ersten Weltkrieg", in: Zentrum fuer Niederlande-Studien Jahrbuch 9 (1998), 174-193; "Die Niederlande als transatlantischer Vermittler, 1914-1920", in: R. Fiebig-von Hase/J. Heideking (Hg.): Zwei Wege in die Moderne, Amerika und Deutschland 1900-1920, Trier 1998, S. 171-198; "Bullying the Neutrals: The Case of the Netherlands", in: R. Chickering/S. Foerster (Hg.): How Total Was the First World War? Cambridge/New York 1998; "Britain and the Netherlands in the First World War", in: N. Ashton/D. Hellema (Hg.), Anglo-Dutch Relations in the 19th and 20th Century, Oxford 1999.

(4) Kuehlmann an Bethmann Hollweg, 5.6.1915, in: C. SMIT (Hg.), Bescheiden betreffende de Buitenlandse Politiek van Nederland, 1848-1919, Derde periode, Zevende deel, Bd. 137, 's-Gravenhage 1971, Nr. 7, S. 10.

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