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Titel
Kretinismus und Blödsinn. Zur fachlich-wissenschaftlichen Entdeckung und Konstruktion von Phänomenen der geistig-mentalen Auffälligkeit zwischen 1780 und 1900 und deren Bedeutung für Fragen der Erziehung und Behandlung


Autor(en)
Gstach, Johannes
Erschienen
Bad Heilbrunn 2014: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
370 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Patrick Bühler, Allgemeine und Historische Pädagogik, Pädagogische Hochschule FHNW, Windisch

Während Jean-Jacques Rousseau das Wallis noch als Hort der Tugend und Natürlichkeit beschrieb1, stellte die berühmte Encyclopédie etwas später eine besondere Gefahr dieses Teils der Schweizer Bergwelt fest: den Kretinismus (S. 85). In seinem einflussreichen Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale widmete Philippe Pinel den „Crétins de la Suisse“ dann 1801 sogar ein eigenes Kapitel2. Die Bezeichnung „Idiotismus“ kam im Deutschen außerdem überhaupt erst durch die Übersetzung des Traité médico-philosophique in Umlauf (S. 161). Aber was waren Kretinismus und Idiotismus mitsamt dessen milderen Formen Blöd- und Schwachsinn eigentlich für Störungen? Wie Johannes Gstach in seiner überzeugenden Untersuchung nachweist, wäre es völlig falsch anzunehmen, dass damit im 18. und 19. Jahrhundert klar erkennbare Entwicklungs- oder Intelligenzstörungen – beim Kretinismus etwa wegen Iodmangels – gemeint gewesen seien3. Wie Gstach unter anderem durch eine sorgfältige Auswertung von Fallbeschreibungen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nachweist (S. 127ff.), wurden unter diesen Bezeichnungen vielmehr ganz unterschiedliche „Krankheiten“ zusammengefasst. Der Schweizer Arzt Johann Jakob Guggenbühl, der eine bekannte Heilanstalt für Kretinen und Blödsinnige unterhielt, rechnete zum Beispiel um 1850 sowohl Kinder mit Rachitis und Skrofulose als auch Kinder, die abgemagert waren oder sprachliche Auffälligkeiten zeigten, zu den Kretinen (S. 130).

Daran, dass psychische Störungen schwierig zu fassen sind, hat sich bis heute nur wenig geändert4. Gstach interessiert sich deshalb nicht dafür, was Kretinismus und Blödsinn wirklich hätten gewesen sein können, sondern untersucht die Ordnung der psychiatrischen Dinge und die angewandten „heilpädagogischen“ Therapien. So fragt Gstach klassisch kulturwissenschaftlich danach, was wann und warum für Kretinismus und Blödsinn gehalten wurde und wie man glaubte, Kindern, die darunter litten, helfen zu können. Damit leistet die Wiener Habilitationsschrift einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der psychischen Störungen, aber auch zur „Vorgeschichte“ der Sonderpädagogik (S. 7). Denn die Hilfsklassen, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingeführt wurden und die Entwicklung der Sonderpädagogik vorantrieben, waren anfänglich für die sogenannt schwachsinnigen Kinder eingerichtet worden.

Um die medizinischen und pädagogischen Debatten analysieren zu können, zieht Gstach ein umfangreiches Korpus zu Rate, etwa Untersuchungen zu Kretinismus und Blödsinn, medizinische und „heilpädagogische“ Lehrbücher und Traktate, Lexika. So zeichnet Gstach nach, wie die „fachliche-theoretische Auseinandersetzung“ begann um 1800 beträchtlich zu wachsen. Die Beschreibungen und Diagnosen waren – daran sollte sich auch in der Folge nur wenig ändern – schon zu dieser Zeit sehr „uneindeutig“ (S. 101f.). Anhand wirkmächtiger Schriften verschiedener „Pioniere“ zeigt Gstach auch, welche Fragen in diesem Zusammenhang überhaupt gestellt wurden, wie welche verschiedenen Formen des Kropfs bei Kretinismus beobachtet werden können. Gstach geht auch der Geschichte anderer damals beschriebener „Auffälligkeiten“ nach, etwa Kleinwüchsigkeit, großer Kopf, starker Geschlechtstrieb, und zeigt dabei, wie gewisse Symptome (so z.B. Schlaffheit) Mitte des Jahrhunderts aus der Nosologie des Kretinismus zu verschwinden begannen (S. 112ff.).

Eines der wichtigen Verdienste der Studie ist zu belegen, dass nicht erst im Rückblick unklar ist, was genau unter Kretinismus und Blödsinn verstanden wurde, sondern dass die Grenzen zwischen den Störungen schon damals verschwammen (S. 115, 124, 127 und 163). Es scheint, als ob die damalige Forschung durch immer exaktere Bestimmungen versucht hätte, dieser Schwierigkeit Herr zu werden. Die Beschreibungen wurden nämlich immer detaillierter, „immer stärker“ wurde „auf einzelne Grade und Formen“ eingegangen (S. 116 und S. 126) – wodurch die Verwirrung aber natürlich nicht wirklich kleiner wurde. Da sehr Unterschiedliches unter den verschiedenen Termini zusammengefasst wurde und die Nosologien verworren waren, würde man einen groben anachronistischen Fehler begehen zu meinen, man würde die Darstellungen verstehen: „Die Tatsache, dass in den heilpädagogischen Quellen des 19. Jahrhunderts von Kretinismus, Blödsinn und Idiotie gesprochen wurde, ist keine Gewähr dafür, dass es dabei auch um Phänomene ging, die heute als ‘geistige Behinderung’ bezeichnet würden.“ (S. 138f.)

Wie für die Hilfsschule am Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich auch für die Sonderpädagogik avant la lettre eine starke Medikalisierung feststellen (S. 190): Die Beschäftigung mit schwachsinnigen Kindern und mit Kretinen baute wenig erstaunlich „auf den medizinischen Erkenntnissen ihrer Zeit“ auf (S. 125). Gstach beschreibt daher die Auffassung einzelner wirkmächtiger Autoren, so zum Beispiel diejenige Esquirols, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Idiotie nicht mehr als Geistesverwirrung bestimmte, sondern als durch fehlende „intelectuelle Fähigkeiten“ bedingt ansah (S. 164f.). Gstach geht dabei auch auf die Geschichte verschiedener Diagnosen ein wie zum Beispiel moral insanity (S. 166ff.) oder psychopathische Minderwertigkeit (S. 188ff.), die beide am Ende des 19. Jahrhunderts sehr verbreitet waren. Detailliert untersucht Gstach auch die verwendete Metaphorik, so etwa den Vergleich von Kretinen und Blödsinnigen mit Tieren (S. 198ff.), und analysiert die am Ende des 19. Jahrhunderts bekanntermaßen äußerst weit verbreitete Auffassung, solche Störungen würden durch Degeneration verursacht (S. 202ff.).

Die Untersuchung ist in vier große thematische Blöcke geteilt: „Phänomenologie“, „Terminologie“, „Anthropologie“ und „Technologie“, was Vor- und Nachteile hat. Zu den Vorteilen zählt, dass die Gliederung einen systematischen Zugriff auf das umfangreiche und teils disparate Material erlaubt. Als Nachteil erweist sich, dass es dadurch zuweilen zu Wiederholungen kommt und die Auseinandersetzung mit einzelnen Autoren, Werken oder Fragen gelegentlich ebenfalls aufgeteilt wird. Wie der etwas barocke Untertitel der Untersuchung hervorhebt, gilt Gstachs Augenmerk der „sonderpädagogischen“ Beschäftigung mit psychischen Störungen vor 1900. So setzt sich Gstach immer wieder eingehend mit der deutschen sonderpädagogischen Sekundärliteratur auseinander; das Kapitel zum Forschungsstand der sonderpädagogischen Historiographie ist besonders aufschlussreich (S. 35ff.). Gstachs Untersuchung deswegen jedoch allein für eine „heilpädagogische“ zu halten, wäre ein bedauernswerter Irrtum. Denn obwohl Gstach sich für Kretinismus und Blödsinn von Kindern interessiert und „heilpädagogische“ Versuche des 18. und 19. Jahrhunderts analysiert, beschränkt sich die Bedeutung seiner Untersuchung nicht darauf. Die Studie liefert vielmehr einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Kretinismus und des Blödsinns überhaupt 5.

Anmerkungen:
1 Vgl. Jean-Jacques Rousseau, Julie ou la Nouvelle Héloïse. Édition critique établie, présentée et annotée par René Pomeau, Paris 2012, S. 50–58 [XXIII. Brief].
2 Vgl. Philippe Pinel, Traité médico-philosophique sur l’aliénation mentale, 2. Auflage, Paris 1809, S. 188–190. Verwendung der digitalisierten Ausgabe <http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k76576g> (14.11.2015).
3 Vgl. Carlo Wolfisberg, Die Heilung des Kretinismus – eine folgenreiche (Miss)-Erfolgsstory aus den Alpen, in: Historische Anthropologie, 11/2003, S. 193–207.
4 Für einen Überblick vgl. z.B. Andreas Heinz, Der Begriff der psychischen Krankheit, Frankfurt am Main 2014.
5 Johannes Gstachs Monographie ist auch völlig legal als PDF-Version verfügbar: <http://www.pedocs.de/volltexte/2015/10089/pdf/Gstach_2015_Kretinismus_und_Bloedsinn.pdf> (14.11.2015).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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