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Titel
Johann Karl Vietor (1861–1934). Ein deutscher Unternehmer zwischen Kolonialismus, sozialer Frage und Christentum


Autor(en)
Olpen, Bernhard
Reihe
Beiträge zur Europäischen Überseegeschichte 102
Erschienen
Stuttgart 2014: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
624 S.
Preis
€ 89,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Barth, Geisteswissenschaftliche Sektion, Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Der Kolonialunternehmer Johann Karl Vietor, 1861 in Bremen geboren, 1934 gestorben, stellte in mehrerer Hinsicht eine äußerst widersprüchliche Figur dar. Eine umfassende Biografie, die die zahlreichen Aspekte seines Lebens berücksichtigt, ist schon seit langem überfällig. Vietor stammte aus dem Bremer Kaufmannsmilieu und war von einem tiefen Christentum durchdrungen. Ausführlich wird eingangs in dem vorliegenden Buch das Bremer protestantische Milieu dargestellt, und die Bedeutung der Familie Vietor für das regionale öffentliche und kirchliche Leben präsentiert. Diese Familie spielte auch bei der Neukonstituierung der Norddeutschen Missionsgesellschaft und bei der Entstehung eines streitbaren reformiert-pietistischen Milieus eine wichtige Rolle. Wegen dieser zutiefst christlichen Überzeugung hielt sich das Handelshaus auch später vollständig vom Handel mit Alkoholika fern, obwohl sich hier in den afrikanischen Kolonien erhebliche Summen verdienen ließen. Im späten Kaiserreich war Vietor in mehreren weiteren Milieus ausgezeichnet vernetzt und orientierte sich an dem Leitbild eines christlichen, reformistischen Unternehmers. Anfangs konzentrierte sich der zunächst schlecht organisierte und wenig profitable koloniale Handel des Familienunternehmens auf einige Küstenorte Westafrikas.

Es folgte eine rapide Expansion: Ausführlich wird dargestellt, wie sich die Lage der Firma – abgesehen von einem kurzen Rückschlag vor der Jahrhundertwende – zwischen den 1890er-Jahren und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges kontinuierlich verbesserte. Auch die umfangreichen Beteiligungen an anderen kolonialen Unternehmungen, Plantagengesellschaften und Kartellen werden breit dargestellt. Viel Wert wird darauf gelegt, das gesamte weitere kolonialpolitische Engagement Vietors umfassend zu dokumentieren. Dieses umfasste vor allem seine Tätigkeit im Kolonialrat, dessen Bedeutung allerdings zumindest für die frühen Jahre wohl überschätzt wird. Hinzu kam der Versuch, den Handel mit Spirituosen in Westafrika zumindest einzudämmen, die Landfrage in den Schutzgebieten zu klären und Einfluss auf die „Eingeborenenpolitik“ zu nehmen. Vor Beginn des Ersten Weltkrieges waren Vietor und seine Firma nicht nur in den meisten deutschen Kolonien, sondern auch in französischen und britischen Territorien sowie ansatzweise in Liberia aktiv und realisierten in einigen Jahren auch hier erhebliche Gewinne. Vietor hat mehrmals diese Länder ausgiebig bereist und erfolgreich Geschäfte angebahnt. Auch war er weit über das rein ökonomische an Afrika und an den Afrikanern interessiert. Der Versuch, in den 1920er-Jahren den kolonialen Handel wieder aufzunehmen, schien zunächst erfolgreich zu verlaufen und seit der Mitte der 1920er-Jahre strich die Firma wieder kleinere Gewinne ein. Allerdings brach das Geschäft dann endgültig in der Weltwirtschaftskrise zusammen.

Vietor war kein Rassist, agierte mit Indigenen auf gleicher Augenhöhe, verfolgte die Idee einer Zivilisierungsmission und trat öffentlich gegen koloniale Missstände und Skandale auf. Auch lehnte er – wenn auch nicht mit letzter Konsequenz – die durchaus profitable Betriebsform der Großplantagen ab, weil diese zumindest teilweise mit Zwangsarbeit betrieben wurden, und Vietor die Rechte der afrikanischen Völker innerhalb des kolonialen Rahmens anerkannte. Mehrfach setzte er sich auch für die Abschaffung von Körperstrafen in den Kolonien ein, auch wenn die Erfolge hier nicht ganz ersichtlich sind. Olpen hebt zu Recht hervor, dass Vietors Denken mit Bezug auf die Kolonien keineswegs besonders originell war, sondern von vielen seiner Kollegen in der progressiven deutschen Kaufmannschaft geteilt wurde. Vietors eigentliche Bedeutung bestand aber darin, dass er über hervorragende ideelle, politische und ökonomische Netzwerke verfügte, die er zur Propagierung seiner Ideen und Vorstellungen nutzte.

Einerseits verzichtete Vietor damit zumindest weitgehend innerhalb seiner Unternehmen auf ein simples Ausbeutungsverhältnis bei seinen afrikanischen Angestellten, ein Punkt, der von Olpen an mehreren Stellen thematisiert wird. Andererseits war Vietor aktives Mitglied der Christsozialen Partei, die stark antisemitisch geprägt war, und er trat 1909 auch in deren Vorstand ein. Hierfür dürfte vor allem verantwortlich gewesen sein, dass er einerseits sozialpolitisch stark engagiert war, andererseits aber auch, was seine innenpolitischen Vorstellungen betraf, stets dem tief konservativen Bürgertum angehörte. Mit Adolf Stoecker war er persönlich bekannt, und Vietor betätigte sich auch bei den Christsozialen aktiv als pro-kolonialistischer Agitator. Nach dem Ersten Weltkrieg, für den er allein England und Frankreich verantwortlich machte, wandelte sich Vietor mehr und mehr zu einem verbitterten und verdrossenen Reaktionär, der sich der deutschen extremen Rechten annäherte.

Alle diese Aspekte des Lebens von Vietor und seiner Firmen werden in dem vorliegenden Buch, das aus einer Dissertation bei Hermann Hieri hervorgegangen ist, sehr ausführlich abgehandelt. Allerdings kann dem Autor der Vorwurf nicht erspart bleiben, dass das Buch unübersehbare konzeptionelle Schwächen hat. Das Material wird häufig nicht wirklich intellektuell durchdrungen und strukturiert. Stattdessen werden die sehr umfangreichen Quellen in epischer, bzw. weitschweifiger Länge nur ausgebreitet. Einer strikten Chronologie folgend steht oft wichtiges neben unwichtigem, häufig fehlt der systematisierende Zugriff. So erfährt man – um ein Beispiel zu geben – in einem Abschnitt, in dem es eigentlich um einen Konflikt zwischen Frankreich und dem Königreich Dahomey geht, ganz nebenbei, dass sich offenbar deutsche westafrikanische Handelsfirmen zu Beginn der 1890er-Jahre am innerafrikanischen Sklavenhandel beteiligt haben (S. 86f.), direkt danach werden Vietors persönliche Vermögensverhältnisse angesichts seiner geplanten Eheschließung dargelegt.

Kritisch ist ebenfalls anzumerken, dass die Fußnoten ungewöhnlich textlastig sind und häufig eine Art von Subtext darstellen, der aus meist verzichtbaren Zusatzinformationen besteht. Vor allem wenn es um geschäftliche Transaktionen, Gewinne oder Verluste oder um Volumina gehandelter Waren geht, hätten an vielen Stellen weitere Tabellen, Grafiken oder Schaubilder den Text entlasten können. Das ersichtliche Streben nach Vollständigkeit führt zu einer wenig stringenten Argumentation. Auch fehlen immer wieder kurze Zusammenfassungen oder ein Zwischenfazit, in denen dem Leser thesenartig Orientierungshilfen gegeben werden. Eine vergleichende Perspektive oder eine analytische Herangehensweise, die sich etwa an Formen der new colonial history oder an der neueren Kulturgeschichte hätte orientieren können, ist nicht zu erkennen. Zwar setzt sich der Autor eingangs durchaus mit den Problemen einer Biografie im Zusammenhang mit den historischen Sozialwissenschaften auseinander, aber diese Anregungen werden dann allzu selten umgesetzt. Methodisch steht das Buch von Olpen ganz in der Tradition eines positivistischen Historismus ohne theoretischen Anspruch. Wer aber die Mühe auf sich nimmt, sich durch den viel zu umfangreichen Text zu kämpfen, kann dieses Buch sicherlich mit Gewinn lesen und stößt immer wieder auf durchaus interessante Details, vor allem weil der Autor mit großem Fleiß erhebliche Mengen von unpublizierten Quellen gesichtet und präsentiert hat. Auch besticht die Studie durch sehr gute Kenntnisse sowohl der Bremer Religionsgeschichte, als auch durch genaues Wissen zum deutschen Kolonialismus.