D. Schindelbeck u.a.: Zigaretten-Fronten

Cover
Titel
Zigaretten-Fronten. Die politischen Kulturen des Rauchens in der Zeit des Ersten Weltkriegs


Autor(en)
Schindelbeck, Dirk; Alten, Christoph; Hirt, Gerulf; Knopf, Stefan; Schürmann, Sandra
Reihe
PolitCIGs 1
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Jacob, History Department, Queensborough Community College

Wer eine Zigarette raucht, der tut heute mehr, als nur die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, vielmehr werden durch das Rauchen Fremd- und Selbstbilder geschaffen, die je nach Perspektive positiv oder negativ konnotiert sein können. Die Raucherin oder der Raucher folgen dabei oft sozialen Deutungsmustern, drücken also sich selbst und eine mit dem Rauchen per se verbundene Haltung aus. Die Autoren von „Zigaretten Fronten“ sind sich dieser Wirkung von Zigaretten durchaus bewusst, denn „Produkte sind zu Medien sozialer Verständigung geworden. Gruppen, Generationen und ganze Gesellschaften tauschen sich ständig über sie aus. Offen oder versteckt funktionieren sie auch als Mediationen des Politischen.“ (S. 7) Es scheint daher nur verständlich, sich eingehender mit der Wirkung von Zigaretten als Sozialmedium zu beschäftigen. Gezielt wird also die Zigarette gewählt, welche „seit jeher ein[en] empfindliche[n] Seismograph[en] wesentlicher gesellschaftlicher wie politischer Entwicklungen“ (S. 7) darstellte, und für den Zeitraum des Ersten Weltkrieges (1914–1918) eingehender untersucht, wodurch zudem die Geschichte dieser „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“1 erstmals aus Sicht eines Alltagsgegenstandes analysiert werden soll (S. 11). In erster Linie basiert die Studie dabei auf den Beständen der Tabakhistorischen Sammlung der Reemtsma Cigarettenfabriken, die ein Gros an Anschauungsmaterialien beherbergt, welche in dem grafisch hervorragend bearbeiteten Band optisch sehr überzeugend zur Geltung kommen, und weitreichende Studien zulässt.

Die Zigarette war um 1900 gesellschaftsfähig geworden und wurde peu à peu zu einem „Sinn- und Spiegelbild der Moderne“ (S. 11). Immer mehr Raucher wechselten von den umständlichen und antiquiert wirkenden Rauchformen der Zigarre und Pfeife zur neuen Rauchware, wobei durch den Ersten Weltkrieg aus dem Luxusprodukt schnell ein „existenzielle(s) Überlebensmittel“ (S. 13) wurde. Gerade mit Blick auf die Kriegszeit lassen sich die Schnittstellen zwischen der Kultur des Rauchens und des Politischen sehr gut aufzeigen (S. 11). Als „Ensemble dinglicher und medialer Komponenten“ (S. 12) soll gerade die Zigarette und ihre Geschichte während der Kriegsjahre Aufschluss darüber geben, wie der „Große Krieg“ die Rauchware und dieselbe den letztgenannten beeinflusst haben.

Im ersten Abschnitt „Die Zigarette als neue Raucherware“ (S.19-73) wird zunächst ein Abriss über die Geschichte des Tabaks seit seiner Einführung in Europa durch Kolumbus vorgenommen (S. 19–28). Selbst wenn dieser Abschnitt kaum neue Informationen bereitstellt2, ist er doch für diejenigen Leserinnen und Leser, die sich erstmals mit der Thematik Tabak auseinandersetzen, unerlässlich. In Deutschland verhalf schließlich die Einführung der sogenannten „Orient-Zigarette“ der Rauchware zum endgültigen Durchbruch, obwohl Industrie und Handel dem Produkt zu Beginn noch ablehnend gegenüberstanden (S. 24). 1894 gründete schließlich Jakob Mandelbaum (1859–1918) eine kleine Zigarettenmanufaktur, aus der später Manoli, einer der größten Produzenten von Zigaretten hervorgehen sollte. Mit wachsend besserem Image als „Symbol für ein modernes Zeit- und Lebensgefühl, für die steigende Mobilität, für die reale und empfundene Beschleunigung und Hektik des Lebens“ (S. 26) gewann die Zigarette zunehmend an Boden gegenüber den traditionellen Rauchwaren und mehr und mehr Hersteller nahmen sie in ihr Sortiment auf.3 Als der Erste Weltkrieg schließlich ausbrach, war die Zigarette bereits ein Produkt transnationaler Natur und auf dem deutschen Markt wurde dem potentiellen Kunden mit etwa „8.000 Varianten, Modifikationen, Sorten und Untersorten“ (S. 37) jedwede Möglichkeit zur persönlichen Entfaltung gegeben. Die Vermarktung sorgte zudem für einen engen Schulterschluss zwischen Künstlern, die vor allem als Grafiker für die Industrie tätig waren und auch der Staat entwickelte ein zunehmend finanzielles Interesse an der Rauchware. Die Raucher selbst definierten sich vielfach über die jeweilige Marke und das Zigarettenrauchen als solches, man drückte seine eigene Individualität durch den „blauen Dunst“ aus (S. 49–69).

Im zweiten Teil behandelt das Autorenkollektiv des Bandes schließlich die Rolle der „Zigarette an der Front“ (S. 77–160), wobei zunächst der Einfluss des Krieges auf die Zigarettenindustrie am Beispiel der Firma Manoli beschrieben wird (S. 77–82). Neben der anfänglichen Produktion von „Extragross-Zigaretten“, die für Zigarrenraucher eine Alternative im Schützengraben bilden sollten, waren die Markendesigns sowie ihre Namen vom Krieg bestimmt, mussten doch fremdklingende Namen geändert werden. Während die „Liebesgaben“ von der Heimatfront der Industrie einen „Nachfrage-Boom“ (S. 83) bescherten, bekundeten Druckerzeugnisse der Tabakindustrie wie die Manoli-Post die patriotische Gesinnung der Hersteller (S. 87–89). Hinzu kamen „präzise Richtlinien zur Belieferungspolitik“ (S. 92), die von der Mindener Zentrale im Sinne von Heer und Marine koordiniert wurden. Diese achtete dabei darauf, dass alle Hersteller gleichmäßig Berücksichtigung fanden. Schlussendlich sorgte der Krieg allerdings dafür, dass die Qualität der Zigaretten stetig nachließ (S. 96–101).

Im anschließenden Teil werden in erster Linie der Gebrauch und die Begegnung von und mit Zigaretten in der Kriegsumgebung untersucht. Dabei ziehen die Autoren, „[u]m den komplexen Wechselbeziehungen zwischen Soldat und Zigarette nachzuspüren“ vor allem Schrift- und Bildquellen, die im Falle der erstgenannten zuvorderst auf den Beständen des Deutschen Tagebucharchivs in Emmendingen beruhen, heran. Schritt für Schritt werden die Propagandafunktion der Zigarette (S. 110–114), unter anderem ihr Beitrag zur soldatischen Selbstinszenierung, die physischen und psychischen Folgen des Rauchgenusses an der Front, vor allem die Funktion der Zeitüberbrückung durch das Rauchen, sowie die narkotisierende Wirkung des „Glimmstängels“ als „Medium der Begegnung mit dem Ich“ (S. 124) analysiert. Die Zigarette diente schlussendlich als letzte Instanz der Humanität, die als Kommunikationsmedium dazu in der Lage war, politische Fronten zwischen Gegnern zu negieren, die ihr Dasein als Mensch gemeinsam rauchend in Erinnerung riefen (S. 154).

Am Ende steht schließlich eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse sowie ein Ausblick auf die weiterhin politische Geschichte der Zigarette (S. 163–167), die in der Zwischenkriegszeit, als die Industrie spezielle Marken für SA, aber ebenso Sozialdemokraten bereithielt, nicht an Brisanz verlor. Insgesamt betrachtet gelingt dem Autorenkollektiv eine sehr zu empfehlende Einführung in die „Dinggeschichte“ des Ersten Weltkrieges, die hier am Beispiel der Zigarette spannend und lesenswert aufbereitet wird. Einzig zu bemängeln, ist ein geographischer Sprung innerhalb des Buches, der vielleicht gerade auf die Vielzahl der Autoren zurückzuführen ist. Zwar wird zunächst die deutsche Zigarettenindustrie eingehend untersucht, bei der Behandlung des Frontalltags scheint ein besonderes Augenmerk dann aber auf dem Alltag der k.u.k. Truppen zu liegen. Ungeachtet dessen kann der erste Band der PolitCIGs Reihe jedoch nur empfohlen werden und zwar unabhängig davon, ob man sich nun mit der Geschichte des Ersten Weltkrieges, des Tabaks, des Rauchens, oder der medialen Interaktion anhand von Produkten beschäftigt.

Anmerkungen:
1 George F. Kennan, The Decline of Bismarck’s European Order. Franco-Russian Relations, 1875–1890, Princeton 1979, S. 3.
2 Vgl. dazu unter anderem den Beitrag von Thomas Hengartner zum Thema Tabak, in Thomas Hengartner / Christoph Maria Merki (Hrsg.), Genussmittel. Ein kulturgeschichtliches Handbuch, Frankfurt am Main 1999, S. 169–193.
3 Eine historische Übersicht der wichtigsten deutschen Hersteller (Batschari, Eckstein, Garbáty, Jasmatzi, Laferme, Neuerburg, Yenidze) findet sich auf S. 28–34.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension