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Titel
Der Bombenkrieg. Europa 1939–1945


Autor(en)
Overy, Richard
Erschienen
Berlin 2014: Rowohlt Verlag
Anzahl Seiten
1051 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Arnold, University of Nottingham

Vor etwa zehn Jahren wurde in der deutschen Öffentlichkeit heftig über den strategischen Luftkrieg der Westalliierten gegen das Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg gestritten. In der so genannten „Bombenkriegsdebatte“ ging es um den militärischen Nutzen und die moralische Legitimation einer Kriegführung, in deren Verlauf über hundert Städte zerstört wurden, Millionen von Menschen obdachlos wurden und etwa 500.000 Nichtkombattanten auf dem Gebiet des Deutschen Reiches und des von Deutschland besetzten Europas ihr Leben verloren. Der britische Militärhistoriker Richard Overy hat in dieser Debatte eine wichtige Rolle gespielt. In Fernsehdokumentationen und in Zeitungsbeiträgen nahm er so etwas wie eine Gegenposition zu Jörg Friedrich ein, dessen kontroverser Bestseller „Der Brand“1 die Diskussion angestoßen hatte. „Barbarisch, aber sinnvoll“ lautete etwa der Titel eines Aufsatzes im „Stern“, der auf dem Höhepunkt der Kontroverse erschienen war. Darin argumentierte Overy, dass der Bombenkrieg einen wichtigen Beitrag zum Sieg der Alliierten über das Deutsche Reich geleistet habe. Zwar hätten die Bomben „die deutsche Wirtschaft nicht zerstört, aber Deutschland daran gehindert, zu einer unbezwingbaren Supermacht zu werden“. Wenn auch die Kriegsmoral nicht gebrochen wurde, so seien doch der „Mobilisierung im Lande selbst Grenzen gesetzt“ worden. Niemals hätten die Alliierten dabei „den Zweck der Bombardements aus dem Blick verloren“, das Deutsche Reich militärisch niederzuringen.2

Overy ist einer der prominentesten Zeit- und Militärhistoriker der Gegenwart. In einer inzwischen fast vierzigjährigen wissenschaftlichen Laufbahn hat sich der an der University of Exeter lehrende Professor immer wieder mit dem Luftkrieg beschäftigt. Bereits seine 1977 an der University of Cambridge vorgelegte Doktorarbeit widmete sich der deutschen Luftrüstung im Zweiten Weltkrieg. Es folgten eine Gesamtdarstellung des Bombenkrieges aus wirtschaftshistorischer Sicht, eine Biographie über Hermann Göring, den Oberbefehlshaber der deutschen Luftwaffe, und eine Monographie über die „Luftschlacht um England“ 1940.3 Bei dem hier zu besprechenden Buch handelt es sich freilich um weit mehr als um eine Zusammenfassung von Befunden, die bereits lange erarbeitet wurden. Die in der deutschen Übersetzung rund 900 Textseiten umfassende Arbeit stützt sich auf eine erneute, mehrjährige intensive Beschäftigung mit dem Thema, die im Rahmen eines größeren Forschungsprojektes zu westeuropäischen Gesellschaften im Luftkrieg durchgeführt wurde.4 Für das Buch hat Overy eine beeindruckende Fülle an englisch-, deutsch-, französisch- und italienischsprachiger Forschungsliteratur verarbeitet. Darüber hinaus hat er veröffentlichte und vor allem archivalische Quellen aus 32 Archiven in sieben Ländern neu gelesen und zum Teil erstmals ausgewertet.

Das Ergebnis ist ein Meilenstein der Militär- und Sozialgeschichte, der den Bombenkrieg der Jahre 1940 bis 1945 erstmals in seiner gesamteuropäischen Dimension beschreibt, in den Zusammenhang des Zweiten Weltkrieges einordnet und in seinen Rückwirkungen auf die kriegführenden Gesellschaften analysiert. Overys Studie gliedert sich in drei Teile, die, obgleich thematisch gegliedert, einer losen Chronologie folgen. Teil eins ist mit „Deutschlands Bombenkrieg“ überschrieben und behandelt vor allem die Jahre 1940 bis 1941. Im Mittelpunkt stehen der deutsche Luftkrieg gegen die britischen Inseln und dessen Auswirkungen auf die britische Gesellschaft. Ein eigenes Kapitel ist der Bombardierung sowjetischer Städte durch die deutsche Luftwaffe im Rahmen der Operation „Barbarossa“ gewidmet. Teil zwei macht den Hauptteil des Buches aus. Auf 500 Seiten wird die strategische Luftoffensive der Westalliierten gegen das Deutsche Reich und seine Verbündeten geschildert, wobei der Schwerpunkt auf den Jahren 1942 bis 1945 liegt. Im Zentrum stehen die alliierte Strategie und Praxis sowie die deutsche Gesellschaft „unter Bomben“. Gesonderte Kapitel behandeln die Bombardierung Italiens und die des besetzten Westeuropas. Der knapp gehaltene dritte Teil schließlich widmet sich der Bilanzierung des Geschehens unmittelbar nach Kriegsende und fragt in einem Epilog nach „beherzigte[n] und nicht beherzigte[n] Lehren“ aus dem strategischen Luftkrieg (S. 901).

Das Buch breitet eine gewaltige Materialfülle vor dem Leser aus. Es ist eine empirische Fundgrube, die neben Bekanntem viel Neues oder doch zumindest bisher kaum Beachtetes bereithält. Im besetzen Frankreich etwa kamen durch alliierte Bomben 50.000 Menschen ums Leben, was der Größenordnung der britischen Opfer während der deutschen Angriffe 1940/41 entsprach (S. 832). Auch in Italien starben durch Bomben beider kriegführender Parteien mindestens 60.000 Menschen (S. 783). Viele weitere aufschlussreiche Einzelbefunde können im Rahmen dieser Rezension nicht hinreichend gewürdigt werden. Vielmehr soll danach gefragt werden, welches Gesamtbild des strategischen Luftkrieges gezeichnet wird.

Auffällig ist, dass Overy deutlich kritischer urteilt als noch vor zehn Jahren. „Es lässt sich festhalten, dass der strategische Luftkrieg allein seine eigentliche Aufgabe nicht erfüllen konnte und moralisch kompromittiert war, weil er die Angriffe gegen die Zivilbevölkerung vorsätzlich verschärfte“, wie das abschließende Kapitel bilanziert. Die „bedeutsamsten Folgen“ seien „die unbeabsichtigten militärischen Auswirkungen“ gewesen (S. 900). Der Bombenkrieg band auf beiden Seiten beträchtliche materielle und personelle Ressourcen – Ressourcen, die von den Deutschen mittelfristig nicht kompensiert werden konnten, die aber auch auf alliierter Seite „hätten auf andere Weise genutzt werden können“ (ebd.). Die direkten Folgen der Bombardements für die deutsche Kriegswirtschaft seien indes für die längste Zeit des Krieges nur von nachrangiger Bedeutung gewesen. Selbst das Argument, dass die alliierten Angriffe die Expansion der deutschen Rüstungsindustrie gedeckelt hätten, lässt Overy nicht mehr gelten. Denn: „Der Expansion der deutschen Kriegswirtschaft [waren] Grenzen gesetzt, auch ohne dass es der Wirkung der Bombenangriffe bedurft hätte“. (S. 674)

War der Luftkrieg als Wirtschaftskrieg weitgehend wirkungslos, so war er Overys Urteil zufolge auch moralisch nicht zu rechtfertigen. Zwar definierte das britische Luftfahrtministerium die „Kriegsmoral“ des Gegners vor allem wehrwirtschaftlich (S. 372; S. 400). Von den Flächenbombardements erhoffte man sich weniger einen politischen Umsturz als einen Zusammenbruch des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens in Deutschland. Freilich führte eine so definierte „Kriegsmoral“ nicht dazu, gezielt Fabriken anzugreifen. Im Gegenteil: „Der Begriff des Kollateralschadens wurde auf den Kopf gestellt. Der Tod von Arbeitern und die Zerstörungen ihrer Behausungen waren nicht lediglich eine Nebenwirkung der Bombardierung von Fabriken, sondern die Zerstörung von Fabriken galt als Kollateralschaden der Vernichtung von Arbeitervierteln“. (S. 374) Dabei unterscheidet Overy zwischen dem britischen Bomber Command auf der einen Seite und den amerikanischen und deutschen Luftstreitkräften auf der anderen: Die Royal Air Force habe als „einzige der großen Luftwaffen vorsätzlich Zivilisten [angegriffen]“, auch wenn man das öffentlich während der Dauer des Krieges niemals eingestand (S. 894). Im Falle der deutschen Luftangriffe gegen Großbritannien 1940–1941, aber auch gegen Warschau und Rotterdam verhielten sich die Dinge eher umgekehrt: Hier brüstete man sich mit der großen Zerstörungskraft der deutschen Luftwaffe und setzte das Leid von Nichtkombattanten propagandistisch in Szene, obwohl die Luftangriffe gar nicht als unterschiedslose Flächenbombardements geplant gewesen waren (S. 99ff.).

Wenn es ein Leitmotiv gibt, das die Darstellung durchzieht und als Erklärungsschlüssel dienen kann, dann ist es der Begriff der „Fehlkalkulation“ (S. 865). Auf allen Seiten bestand eine tiefe Kluft zwischen den großen Erwartungen, mit denen die Bomberwaffe bedacht wurde, auf der einen Seite, und den tatsächlichen Möglichkeiten auf der anderen. Verstärkt wurde diese Haltung durch Fehlwahrnehmungen der Stärken und Schwächen des Gegners. Mit Ausnahme Italiens war keine der kriegführenden Industriegesellschaften so anfällig für Luftangriffe wie von den militärischen und zivilen Entscheidungsträgern angenommen, und zwar unabhängig davon, ob diese Gesellschaften demokratisch verfasst waren oder nicht. Rückschläge führten dabei nur selten zu einem grundsätzlichen Umdenken, sondern vielmehr dazu, die Angriffe weiter zu intensivieren und noch größere Zerstörungen zu verursachen. Am Ende waren es weniger die Bomben selber als die militärischen Begleitmaßnahmen, die den Bombern zum Durchbruch verhelfen sollten, welche den eigentlichen Beitrag des strategischen Luftkrieges zum Sieg über das Deutsche Reich und seine Verbündeten ausmachten.

Mit der „Der Bombenkrieg“ hat Richard Overy neue Maßstäbe in der Luftkriegsforschung gesetzt. Zusammen mit Dietmar Süß‘ gesellschaftsgeschichtlicher Arbeit „Tod aus der Luft“ wird es auf Jahre hinaus die internationale Diskussion bestimmen.5

Anmerkungen:
1 Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, Berlin 2002.
2 Richard Overy, Barbarisch, aber sinnvoll, in: Stern, 18.12.2002. Wieder abgedruckt in: Lothar Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940–1945, Berlin 2003, S. 183–187. Ähnlich die Argumentation in: Richard Overy, Why the Allies Won, 2. Aufl., London 2006 (1. Aufl. 1995), S. 123–163.
3 Richard J. Overy, German Aircraft Production 1939–1942: A Study in the German War Economy, Doctoral thesis, University of Cambridge 1977; ders., The Air War 1939–1945, Wahsington D.C. 2005 (1. Aufl. 1980); ders., Goering: Hitler’s Iron Knight, London 2012 (1. Aufl. 1984 unter dem Titel: Goering: the ‘iron man’); ders., The Battle of Britain: Myth and Reality, London 2010 (1. Aufl. 2000 unter dem Titel: The battle).
4 Zu den anderen Beiträgern des Forschungsverbundes vgl. den Sammelband: Richard Overy / Claudia Baldoli / Andrew Knapp (Hrsg.), Bombing, States and Peoples in Western Europe, 1940–1945, London 2011.
5 Dietmar Süß, Tod aus der Luft. Kriegsgesellschaft und Luftkrieg in Deutschland und Großbritannien, München 2011.

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