M. Jackson (Hrsg.): Stress in Post-War Britain

Cover
Titel
Stress in Post-War Britain 1945–1985.


Herausgeber
Jackson, Mark
Reihe
Studies for the Society for the Social History of Medicine 23
Erschienen
Anzahl Seiten
XIII, 253 S.
Preis
£ 95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dominique Autschbach, International Graduate Centre for the Study of Culture, Justus-Liebig-Universität Gießen

In den letzten Jahren hat die Entstehung und Popularisierung des Stressbegriffes in der zeithistorischen Forschung eine rasch wachsende Beachtung gefunden.1 Mit dem Sammelband des britischen Medizinhistorikers Mark Jackson wird nun eine dezidiert alltagsgeschichtliche Perspektive in diese historiographische Debatte eingebracht sowie der Dynamik von subjektiven Stresserfahrungen und wissenschaftlichen Erklärungsmodellen in Großbritannien zwischen 1945 und 1985 nachgegangen.2 Im ersten Themenblock, „Stress at Home and Work“, sind daher Aufsätze zu Auswirkungen gesellschaftlicher Transformationen und zu subjektiven Stresserfahrungen versammelt, während der zweite Teil, „Models of Stress“, Beiträge zur Genese und Rezeption biomedizinischer, psychologischer und soziologischer Stresskonzepte umfasst.

Die ersten drei Texte konzentrieren sich auf familiäre Beziehungen und Geschlechterverhältnisse: Pamela Richardson untersucht die Stress- und Belastungserfahrungen zweier britischer Familien zwischen 1939 und 1950. Sie hebt hervor, der Stressbegriff sei in den meisten persönlichen Erinnerungen nur retrospektiv ausdrücklich verwendet worden; hauptsächlich seien verbundene Begriffe wie „Belastung“, „Angst“ oder „Sorge“ genannt worden. In ihrer Analyse medizinischer Fallakten aus Devon (1940–1970) stellt Nicole Baur heraus, dass Familien in der damaligen Stressforschung nur randständig untersucht worden seien, obwohl Familien in der Nachkriegszeit gleichermaßen Ursache von und Ort des Umgangs mit psychischer Krankheit und Stress waren. Ali Haggett beschreibt die geschlechterspezifischen Folgen der fehlenden Auseinandersetzung mit dem Zusammenhang von Stress und Alkoholismus. Alkoholmissbrauch bei Männern sei lange völlig verschwiegen und auch in der Stressforschung nicht in Bezug zu emotionaler Belastung gesetzt worden. Aufgrund dessen seien Männer häufiger mit akuten Anzeichen von Alkoholismus behandelt, aber seltener als Frauen psychiatrisch versorgt worden.

Die folgenden drei Aufsätze befassen sich mit Stresserfahrungen in der Arbeitswelt. Anhand von individuellen Narrationen und Behandlungsdokumenten rekonstruiert Jill Kirby strukturelle Anforderungen an und Stresserfahrungen von Arbeitenden zwischen 1945 und 1980. Sie erklärt, psychische Belastungen durch Arbeit seien bis in die 1970er-Jahre hauptsächlich auf eine defizitäre Persönlichkeit zurückgeführt worden, und Betroffene hätten kaum mit dem Verständnis ihres Umfeldes rechnen können. In ihrer Analyse der Debatte um das Verhältnis von Stress und Automatisierung in der Fertigungsindustrie zwischen 1945 und 1979 argumentiert Sarah Hayes, diese Auseinandersetzung verweise auf eine generelle Sorge um die Folgen technologischer Entwicklungen für die psychische Gesundheit und um gesundheitliche Auswirkungen von Managementpraktiken. Durch die Paradigmen von Stress und Anpassung seien die zuvor nur diffus diskutierten Verbindungen von Produktionsform und emotionaler Stabilität theoretisch fundiert worden. Debbie Palmer vergleicht zwei Berichte zu Angestellten im öffentlichen Dienst miteinander: Während Daniel Thomsons „Sickness Absence Report“ (1967) die Ursachen von Stress in der Psyche der Subjekte suchte, stellte Michael Marmots Studie „Whitehall II“ (1985) externe Faktoren psychischer Gesundheit ins Zentrum der Betrachtung.

Den Themenblock zur Genese und Rezeption des medizinisch-psychologischen Stresskonzeptes beginnt Mark Jackson mit einem Aufsatz über die Debatte um „flying stress“ bei Piloten im Zweiten Weltkrieg (der Begriff „resilience“, der im Titel auftaucht, spielt im Text selbst leider keine Rolle mehr). Dabei weist er darauf hin, dass Frauen aus der Stressforschung und deren Historiographie ausgeblendet wurden: Durch die Prädominanz männlicher Piloten in militärpsychologischen Studien seien deren Erfahrungen als archetypische Stressphänomene festgelegt worden, und das männliche Subjekt sei als klinische Norm reproduziert worden. Die wenigen Berichte, welche sich auf Frauen im Krieg bezogen, stellten dagegen deren emotionale Instabilität ins Zentrum und wiederholten damit Dichotomien von männlicher Stärke und weiblicher Schwäche.

Die folgenden beiden Aufsätze untersuchen spezifische Krankheitsbilder und deren Beziehung zu Stress: Edgar Jones widmet sich der Epidemie von Magenbeschwerden und -geschwüren bei Männern in den 1940er- und 1950er-Jahren. Er erklärt diese Epidemie gleichermaßen durch die Konversion von emotionalem Stress und traumatischen Kriegserfahrungen in körperliche Beschwerden und durch die größere Akzeptanz physischer Krankheitsbilder bei medizinischem Fachpersonal. Anhand der Debatte um Nahrungsmittelallergien vor 1966 schildert auch Matthew Smith eine Form der Somatisierung psychischer Störungen. Er stellt dabei die besondere innerfachliche Relevanz der Unterscheidung zwischen individuellen Prädispositionen und externen Verursachungen heraus.

Die letzten Kapitel ordnen das Stresskonzept in generelle gesellschaftliche Wandlungen ein: Joseph Melling argumentiert, die Diskussion um Arbeitsstress sei nicht nur durch die Übernahme eines biomedizinischen Stressmodelles geformt worden, sondern vielmehr durch Transformationen der globalen Ökonomie und Dynamiken des Arbeitskampfes. Schon in der Zwischenkriegszeit habe es ähnliche Auseinandersetzungen über den Umgang mit Druck am Arbeitsplatz gegeben; darauf konnten die Debatten der 1970er-Jahre aufbauen, die vom Stressbegriff beeinflusst waren. In Fachbeiträgen zum Anstieg von Suizidversuchen bei Frauen während der 1950er- und 1960er-Jahre verfolgt Chris Millard die Entstehung eines Raumes der psychosozialen Gesundheit, der den medizinischen Blick auf zwischenmenschliche Beziehungen richte und die Wichtigkeit der Gemeinschaft für die geistige Gesundheit postuliere. Durch Begriffe wie Stress und emotionale Belastung sei eine spezifische Verbindung von Gesundheitsfürsorge, institutionellen Arrangements sowie Konzepten von Krankheit und Wohlbefinden geschaffen worden.

Der Sammelband versucht eine Brücke zwischen den Fragehorizonten der Diskurs- und der Erfahrungsgeschichte zu schlagen: Wie Mark Jackson in der Einleitung erklärt, wird Stress gleichermaßen als kontingente wissenschaftliche Diskursformation und reale – aber historisch-spezifische – Form der Erfahrung und Artikulation der Subjekte verstanden. Hierbei stellt sich jedoch die Frage nach der angemessenen Zuordnung von Erfahrungsformen zum Stressdiskurs und nach deren Relevanz für die Entwicklung dieses Diskurses. So klären die Beiträge zu Stresserfahrungen von Einzelpersonen und Familien nicht immer, ob der Stressbegriff originär verwendet wurde oder ob Phänomene erst retrospektiv mit diesem Begriff belegt wurden. Hier wäre eine trennscharfe Unterscheidung von epochenspezifischen versus analytischen Kategorien und Erklärungsansätzen vonnöten gewesen.

Die besondere Stärke der Beiträge liegt in der Diversität der herangezogenen Quellen: Regierungsberichte, medizinische Fallakten und militärpsychiatrische Studien werden ebenso ausgewertet wie Lebensratgeber, Oral-History-Interviews und Einträge aus dem Mass Observation Archive (<http://www.massobs.org.uk> [01.09.2016]). Dabei werden Überschneidungen zwischen Themen der medizinhistorischen Forschung sowie Ansätzen der Alltags- und Geschlechtergeschichte aufgezeigt. Durch die Gegenüberstellung von Veränderungen des medizinischen Wissens (beispielsweise dem Aufkommen der psychosozialen Medizin oder der abgeschwächten Trennung von Normalem und Pathologischem) und Transformationen des sozioökonomischen Kontextes (wie Kriegserfahrungen, gewandelten Rollenbildern oder veränderten Formen von Produktion und Personalführung) regt die Lektüre des Bandes zu weiterführenden gesellschaftstheoretischen Überlegungen an – nicht nur für den britischen Fall.

Anmerkungen:
1 Siehe die Monographien von Patrick Kury, Der überforderte Mensch. Eine Wissensgeschichte vom Stress zum Burnout, Frankfurt am Main 2012; rezensiert von Jens Elberfeld, in: H-Soz-Kult, 28.02.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-19190> (01.09.2016), und Mark Jackson, The Age of Stress. Science and the Search for Stability, Oxford 2013; rezensiert von Heiko Stoff, in: H-Soz-Kult, 19.07.2013, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-20764> (01.09.2016); sowie den Sammelband von David Cantor / Edmund Ramsden (Hrsg.), Stress, Shock, and Adaptation in the Twentieth Century, Rochester 2014; rezensiert von Heiko Stoff, in: H-Soz-Kult, 17.10.2014, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-21930> (01.09.2016); und das Themenheft von Lea Haller / Sabine Höhler / Heiko Stoff (Hrsg.), Stress!, Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 11 (2014), Heft 3, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/3-2014> (01.09.2016).
2 Der Sammelband geht auf die Konferenz „The Stress of Life: Gender, Emotions and Health after the Second World War“ zurück, welche 2012 am Centre for Medical History der Universität Exeter ausgerichtet wurde. Für eine englischsprachige Rezension des Bandes siehe bereits Alice White, in: Medical History 60 (2016), S. 285ff.