J. Sanborn: Imperial Apocalypse

: Imperial Apocalypse. The Great War and the Destruction of the Russian Empire. Oxford 2014 : Oxford University Press, ISBN 978-0-19-964205-2 XII, 287 S. £ 30.00

Bruisch, K. (Hrsg.): Bolschaja Wojna Rossii. Sozjalny Porjadok, publitschnaja kommunikazija i nasilije na rubeshe zarskoj i sowjetskoj epoch. Moskau 2014 : Nowoe Literaturnoe Obosrenie, ISBN 978-5-444-80155-0 208 S. RUB 286.00

Michajlow, N. V.; Plamper, Ja. (Hrsg.): Malenkij tschelowek i bolschaja wojna w istorii Rossii. Seredina XIX - seredina XX. w.. Sankt-Peterburg 2014 : Nestor-Istorija, ISBN 978-5-446-90480-8 570 S.

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Joshua Sanborn, Historiker am Lafayette College in Easton, Pennsylvania, und Autor einer für die innere Geschichte Russlands im Welt- und Bürgerkrieg maßgeblichen Monographie1 hat nun eine Arbeit über die Zerstörung des Russischen Reiches im Ersten Weltkrieg vorgelegt. Sie ist nicht nur für Fachleute gedacht, will aber auch diesen neuen Aspekt des Weltkrieges erschließen. Wenn die frühere Monographie sich darauf konzentriert hatte, wie für den Weltkrieg und für den Bürgerkrieg die „russische Nation“ mobilisiert wurde, so konzentriert sich der Autor jetzt auf die Strukturdefizite des Imperiums am Beispiel seiner im Weltkrieg umkämpften Peripherien, vor allem im Westen und Süden des Reiches. Hierbei laufen – manchmal etwas verwirrend – mehrere Argumentations- und Erzählstränge nebeneinander her. Die beiden wichtigsten Aspekte sollen hier vorgestellt werden. Einerseits geht es um das, was Sanborn unter den Begriff „Dekolonisierung“ fasst: Der Weltkrieg habe einen Prozess der Dekolonisierung im östlichen Europa (und in Vorder- und Mittelasien) in Gang gesetzt bzw. beschleunigt. Dabei bezieht er die Prozesse auf dem Balkan mit ein. Der andere Argumentations- und Erzählstrang betrifft die Implikationen und Folgen der Militärherrschaft in den unter Kriegsrecht gestellten Zonen, die sich weit ins Hinterland erstreckten.

Die Prozesse der Dekolonisierung gliedert Sanborn in folgende Phasen: 1. Die imperiale Herausforderung, das heißt die Bildung anti-imperialer Bewegungen von kolonisierten Gemeinschaften nicht zuletzt als Reaktion auf die Versuche Petersburgs seit den 1880er-/1890er-Jahren, das Reich zu unifizieren und damit auch zu russifizieren, also möglichen lokalen Bestrebungen nach Autonomie zuvorzukommen. 2. Der Krieg nun zeigte, dass in den Imperien die dominanten Nationalitäten bzw. deren nationalisierte Eliten die inneren Feinde in erster Linie nach ethnischen Kriterien definierten. Ins Blickfeld gerieten vor allem jene oft subalternen Völker oder Minderheiten mit Verbindungen ins feindliche Ausland.2 Im russischen Fall traf es vor allem Juden und Deutsche. Alle Imperien unterstützten zudem mit mäßigem Erfolg nationalistische Bestrebungen bei ihren Feinden, besonders unter den Kriegsgefangenen. 3. Das Scheitern der Imperien im Krieg sieht Sanborn als Voraussetzung für die folgenden Bürgerkriege und die daraus hervorgehenden Staaten, die sich als Nationalstaaten konstituierten, obwohl sie es nicht waren.

Sanborns Interesse richtet sich vor allem darauf, dass die Imperien organisatorisch durch den Krieg überfordert wurden, so auch das Russische Reich. Weder die militärischen noch die politischen Eliten waren in der Lage, den Krieg erfolgreich zu führen. Dieses Staatsversagen habe in die Katastrophe geführt. An die Stelle der zentralen Macht sei seit Februar 1917 in Russland nicht die viel zitierte Doppelherrschaft zwischen Provisorischer Regierung und Sowjets getreten, sondern es entstanden viele lokalen Machtzentren. Der Verfasser spricht von einer „radical decentralization“ (S. 194). Die wichtigsten Akteure für den Zusammenbruch des Reiches sieht Sanborn – neben den Bolschewiki – dabei in Soldaten, die den Gehorsam verweigerten. Insgesamt schuf erst das Staatsversagen die Spielräume für die nationalen Bewegungen. Alles endete schließlich in der sozialen Katastrophe des Zusammenbruchs und dann des Bürgerkriegs.

Der zweite wichtige Erzählstrang betrifft die Militärherrschaft in der Kriegszone: Die sukzessiven wirtschaftlichen Maßnahmen des Hauptquartiers zeitigten eher destruktive Folgen für die Wirtschaft, insbesondere für den Handel. Dies sieht Sanborn zu Recht auch als Folge eines antikommerziellen Konsenses in den bürokratisch-militärischen Eliten, immer verbunden mit judenfeindlichen Tendenzen. Die Ernährungskrise und Inflation 1916/17 seien eine mittelbare Konsequenz der vom Hauptquartier erzwungenen Kriegswirtschaft gewesen. Evakuierungen und Deportationen, und beim Rückzug 1915 auch Taktiken der verbrannten Erde produzierten in der Kriegszone wie im Hinterland Chaos, veranlassten aber auch die Selbstmobilisierung der Gesellschaft. Dies habe sich in zahllosen zumeist nach ethnischer Zugehörigkeit organisierten Hilfsorganisationen vor allem für Flüchtlinge gezeigt. Explizit geht er auf die Tätigkeiten der Bünde der Semstwa und der Städte ein (Kapitel 4). Die gesellschaftlichen Organisationen hätten bereits Elemente des Sozialstaates, Überwachung, Kontrolle und Fürsorge erkennen lassen. Zum „stavkaism“ (S. 254), das heißt der Kriegswirtschaft des Hauptquartiers, gehörten angesichts des Arbeitskräftemangels allerdings auch die „moderne“ Zwangsarbeit von Kriegsgefangenen – wie bei den Mittelmächten –, ebenso wie die der lokalen Bevölkerung (einschließlich Frauen) in den frontnahen Gebieten.

Als einen wichtigen Anstoß für die gesellschaftliche Mobilisierung sieht der Autor zudem die Empörung über deutsche (und türkische) Kriegsverbrechen, über die Massaker in Kalisz zu Beginn des Krieges, über Berichte von Misshandlungen der russischen Kriegsgefangenen durch die Mittelmächte, über den Massenmord an den Armeniern und nicht zuletzt über den Gaskrieg mit schätzungsweise über 65.000 Opfern auf russischer Seite (S. 159). Die Berichte über deutsches und türkisches Barbarentum seien zentral für das eigene Selbstverständnis der Zensusgesellschaft gewesen, bestätigten sie doch die Zugehörigkeit Russlands zur Gemeinschaft der zivilisierten Welt. Das Bündnis mit den Westmächten erhielt so seine höhere Weihe (S. 250–252). „Unzivilisiertes“ Verhalten der russischen Seite in der Kriegszone oder gegenüber den Kriegsgefangenen war kein Thema, auch nicht für den Autor.

Die meisten Arbeiten über Russland im Ersten Weltkrieg konzentrierten sich bisher auf die große Politik, die Wirtschaft, militärische Strategie und die Streitkräfte und nicht zuletzt auf die (russische) Gesellschaft. Das spezifische Gewicht der vom Krieg besonders betroffenen Regionen wurde, wenn man von der nationalen Historiographie z. B. in Polen oder in Finnland absieht, zumeist eher vernachlässigt. Sanborn versucht den Stellenwert der Peripherien für das russische Imperium mit dem Begriff der Dekolonisierung zu erfassen und überstrapaziert ihn nach meiner Auffassung. Wenn man den Begriff so weit fasst wie der Autor – Dekolonisierung als Prozess seit dem 18. Jahrhundert, beginnend mit dem Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonien Englands –, mag seine Nutzung im vorliegenden Fall angehen. Ich habe angesichts ihres sehr unterschiedlichen Status im Russischen Reich trotzdem Schwierigkeiten damit, Polen, Finnland oder die Ostseeprovinzen als „Kolonien“ des Russischen Reiches zu bezeichnen. Für Mittelasien trifft dies tatsächlich zu, aber 1917 waren nicht die einheimischen Völker – nach Unterdrückung des Aufstands von 1916 – die treibende revolutionäre Kraft, sondern die russischen Siedler.

Dekolonisierung fungiert bei Sanborn als Gegenbegriff zum Imperium, aber eine begriffliche oder inhaltliche Bestimmung des Imperialen wird nicht geliefert. Und Dekolonisierung wird faktisch gleichgesetzt mit nationalen Bestrebungen und Bewegungen. Der konventionellen Sicht auf diese Sachverhalte wird ohne ersichtlichen Erkenntnisgewinn der Begriff der Dekolonisierung übergestülpt. Gelten die Restbestände ständischer Strukturen, gilt der subalterne Status von Schichten, Völkern und Territorien als imperial und mithin ihre Emanzipation als Dekolonisierung? In diesem Sinne wären auch soziale Bewegungen der Russen gegen die alten Eliten Teil der Dekolonisierung. So weit scheint Sanborn den Begriff und die Sache aber nicht fassen zu wollen. Wenn ein wesentliches Merkmal von Imperien, auch des russischen Reiches, seine heterogene Struktur ist, dann wäre Dekolonisierung mit Blick auf die nicht-russischen Völker und Territorien nur eine Komponente, welche den Zusammenbruch im Krieg verursacht hat, aber – nach meiner Ansicht – nicht die wichtigste. Nimmt man den Zusammenbruch der Armee, die revolutionäre Stimmung und das revolutionäre Verhalten als Maßstab für die Gefährdung der alten Ordnung, dann waren es eher die „russischen“ Truppen des Nordens und Nordwestens, die baltische Flotte und die russisch dominierten Garnisonen wie die russischen Industriezentren, welche den Prozess der Dekomposition am stärksten bestimmten. Die Initiatoren oder Träger der nationalen Bewegungen, die sich fast alle in der Kriegszone befanden, konnten die Schwäche der zentralen Autoritäten seit 1917 für sich ausnutzen, haben sie aber nicht verursacht. In der Armee – wohl eher unter Offizieren als unter Soldaten – gab es seit 1916 Bestrebungen zu nationaler Organisation der Truppen. Diese Tendenzen bedeuteten zunächst aber keine Schwächung, denn polnische wie auch lettische Verbände waren die letzten, die den Gang an die Front verweigerten. Die angebliche Dekolonisierung war ein eher sekundärer und nachgeordneter Faktor, der erst im Zuge der Auflösung der alten Armee die politisch-militärischen Aktionen in der Peripherie bestimmen sollte. Dies alles ist nicht neu, wird hier aber etwas künstlich unter dem Begriff der Dekolonisierung gefasst.

Viel wichtiger im Sinne einer Voraussetzung des Machtzerfalls und dann der Revolution scheint mir, was Sanborn als „stavkaism“ bezeichnet. Darunter versteht er die antikommerzielle, durch bürokratische Regulierung und Inkompetenz allseits behinderte Kriegswirtschaft, die Mobilisierungsprozesse eher konterkarierte. Nicht weiter thematisiert wird, dass die Provisorische Regierung und schließlich auch die Bolschewiki durch immer weitergehende staatliche Eingriffe diesen Prozess fortführten und radikalisierten.

Bei aller Kritik bleibt allerdings wichtig und erhellend die Perspektive, den Kriegsverlauf und das politische Geschehen im Russischen Reich nicht immer nur aus der Sicht des Zentrums, sondern aus derjenigen jener Regionen zu beleuchten, welche die größte Last des Krieges zu tragen hatten. Eine solche Perspektive ergänzt und korrigiert auch unter vergleichenden Aspekten eine allzu einseitig auf das Zentrum fixierte Historiographie.

Anmerkungen:
1 Joshua A. Sanborn, Drafting the Russian Nation. Military Conscription, Total War, and Mass Politics 1905–1925, DeKalb 2003.
2 Jörn Leonhard / Ulrike von Hirschhausen (Hrsg.), Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century, Göttingen 2011; Alfred Eisfeld / Guido Hausmann / Dietmar Neutatz (Hrsg.), Besetzt, interniert, deportiert. Der Erste Weltkrieg und die deutsche, jüdische, polnische und ukrainische Zivilbevölkerung im östlichen Europa, Essen 2013.

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