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Titel
Geschichte als Politikum. Öffentliche und private Kontroversen um die Deutung der DDR-Vergangenheit


Autor(en)
Heß, Pamela
Erschienen
Baden-Baden 2014: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
305 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Ahbe, Leipzig

Die zeitgeschichtliche Forschung zur DDR hat kaum noch Forschungslücken gelassen. Hinsichtlich des DDR-Bildes der einst in der DDR sozialisierten Deutschen und ihrer Nachkommen gibt es allerdings noch viele offene Fragen. Dass ostdeutsche Erinnerungsgemeinschaften existieren, die den Narrativen des „staatlich privilegierten Diktaturgedächtnis“ (Sabrow) nicht folgen oder ihnen gar zuwiderlaufen ist unstrittig – der Zusammenhang zwischen den gegenläufigen Narrativen in der ostdeutschen Gedächtnislandschaft ist allerdings noch ungewiss: Befördert die „Pauschaldistanzierung“ von der DDR (Großbölting) durch Politik und Medien aufseiten der Ostdeutschen letztlich revisionistische oder verklärende Sichtweisen oder muss „die Charakterisierung der DDR als Schurkenstaat“ (ebd.) noch intensiviert werden? Das sind einige der Fragen, die das hier zu besprechende Buch von Pamela Heß beantworten hilft.

Trotz der Belesenheit, die Heß unter Beweis stellt, wenn sie die Entwicklungsformen öffentlicher Erinnerungen in den postsozialistischen Gesellschaften, die Phasen der deutschen Aufarbeitung, die dabei entstandenen Typen und Posen referiert, besteht die Originalität ihrer Dissertation in deren empirischem Ansatz. Für ihre Untersuchung entscheidet sich die Autorin für das Begriffspaar von „öffentlicher Erinnerung“ – darunter subsumiert sie, was „im sogenannten symbolisch-öffentlichen Gedächtnis zum Ausdruck kommt“ – und andererseits „private Erinnerung“. Letztere stehe für „die Kommunikation individueller Erinnerung im privaten Raum. Die Träger dieses Gedächtnisses sind Individuen.“ Zu den privaten Erinnerungen von Menschen zählen darüber hinaus „nicht nur Erinnerungen, die auf persönlich erlebte Ereignisse sowie auf in sozialen Zusammenhängen gemeinsam ausgebildete Erinnerungen, sondern auch auf öffentliche Erinnerungen zurückgehen“ – sofern die Individuen diese Inhalte integrieren (S. 35f.). Die Autorin bleibt mit dieser Begriffsbildung sehr dicht an dem Bezugssystem, das Aleida Assmann mit „Kanon“ und „sozialem/individuellem Gedächtnis“ etabliert hat. Heß unterstreicht aber schon durch die von ihr bevorzugten Termini, worum es in Ihrer Arbeit geht: Um das Spannungsverhältnis von hegemonialen Diskursen und privat verteidigten Deutungen.

Hier entdeckt die Autorin verschiedene Desiderata: Es fehlten systematische Analysen „öffentlicher Erinnerungen an die DDR in politischen Dokumenten“ ebenso wie in Printmedien. Die letztgenannte Diagnose überrascht angesichts der Masse von quantitativ und qualitativ basierten Diskursanalysen allerdings sehr. Und schließlich, so stellt Heß richtig fest, „wurden die privaten Reaktionen auf öffentliche Erinnerungen an die DDR bisher noch nicht methodische reflektiert einbezogen“ (S. 62).

Im ersten Teil des Buches präsentiert Pamela Heß eine systematische Untersuchung von drei Korpora, die die öffentliche DDR-Erinnerung repräsentieren sollen. Das sind erstens „politische Dokumente“ zur DDR-Erinnerung – nämlich die Zwischen- und Abschlussberichte der beiden Enquetekommissionen, der vier Gedenkstättenkommissionen des Bundes sowie die der Sabrow-Kommission. Den zweiten Korpus bilden die Reaktionen der überregionalen Presse auf die in den politischen Dokumenten verhandelten Inhalte (Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurter Rundschau, Süddeutsche Zeitung, Die Welt, die tageszeitung sowie Die Zeit). Der dritte Korpus erfasst die Reaktionen von 17 Regionalzeitungen Ostdeutschlands und Berlins. Diese Korpora bilden insgesamt knapp 44.000 Zeilen. Heß erfasste sie mithilfe induktiver Kategorienbildung nach Mayring. Aus den drei Korpora extrahiert sie 24 Kategorien. Mit einer Clusteranalyse illustriert Heß, ob und wie bestimmte Kategorien in Zusammenhang mit anderen Kategorien auftreten. Diese Kategorien-Cluster dokumentieren Muster öffentlicher Erinnerung an die DDR.

Anders als die Analyse von Mediendiskursen zur DDR bildet die quantitative Erhebung von Dokumenten politischer Akteure zur öffentlichen DDR-Erinnerung ein Novum. Aus diesem Grunde soll hier kurz referiert werden, wie oft sich welche Themenfelder der DDR-Erinnerung in den politischen Dokumenten finden lassen. Auf den ersten fünf Plätzen liegen mit einer Häufigkeit von 172 bis 123 Thematisierungen Kategorien wie „Inhaftierung“, „Diktatur“, „Herrschaftsmechanismen- und Instrumente“, „Mauer, Flucht, Teilung“ und „Opfer“. Erst mit einem gewissen Abstand, nämlich mit 91 bis 82 Nennungen folgen auf den Rängen 6-8 die Kategorien „Opposition und Widerstand“, „Geheimpolizei bzw. Stasi“ und „Verfolgung, auch politische Verfolgung“. Rang 9 hat dann nur noch 29 Nennungen („Antifaschistischer Widerstand“). Alle anderen Kategorien dieses Mittelfeldes zeigen – abgesehen von „friedliche Revolution“ (Rang 12 mit 23 Nennungen) das Leben der DDR-Bürger ausschließlich als das von Unterdrückten im ,falschen Leben‘. Zumindest ambivalente Bewertungen zur DDR finden sich erst auf Platz 18 („Alltag bzw. kritische Auseinandersetzung mit Alltag“) mit 11 Nennungen, auf Platz 22 („Kindererziehung in der DDR, Kinderkrippe“) mit 3 Nennungen oder auf dem letzten, dem Platz 24 mit „soziale DDR“, die eine Nennung erfährt. Dass die Geschichtspolitik des Bundes die DDR undifferenziert darstellt, konnte bislang immer nur behauptet oder bestritten werden – durch die Analyse von Pamela Heß ist diese Frage nun geklärt.

Die statistische Sondierung der beiden anderen Korpora belegt, dass sich alle drei Korpora in der Rangfolge der Kategorien kaum unterscheiden. Erst auf den hinteren Rangplätzen finden sich in den beiden Medien-Korpora einige Kategorien, die in den „politischen Dokumenten“ völlig fehlen, nämlich „Arbeiter- und Bauernstaat“, „Geschlechtergeschichte“, „Sport in der DDR“ sowie „Wissenschaft und Bildung in der DDR“. Die Clusteranalyse zeigt, in welchen Zusammenhang bestimmte Themen der Erinnerung immer wieder gebracht werden. So findet sich „Antifaschistischer Widerstand“ in Clustern, die auch „Verfolgung“, „Verbrechen“, „Unrecht“, „Opfer“, „Tod“ und „Diktatur“ enthalten.

Im zweiten Teil des Buches widmet sich Pamela Heß den privaten Erinnerungen an die DDR. Sie werden in Familien-Interviews erhoben, die jeweils zwei Teile haben. Im ersten Teil, einem fokussierten Familieninterview, erhebt Heß private Erinnerungen an die DDR. Im zweiten Teil des Gespräches wurden die gerade Interviewten mit drei Passagen aus den Korpora zur öffentlichen Erinnerung an die DDR konfrontiert. Die erste dieser Textproben reduziert die DDR auf ihren Diktaturcharakter und das Leben in ihr als das von Opfern und Tätern. Die zweite Textprobe versucht differenziert die Bezüge zwischen Diktatur und Lebenswelt abzubilden und die dritte ignoriert die Tatsache, dass die DDR eine Diktatur war und verklärt die Lebenswelt.

Durch diese methodisch innovative Versuchsanordnung erhält die Autorin von allen Interviewpersonen zwei Narrative: die spontan produzierte private Erinnerung an die DDR und dann schließlich den privaten Kommentar zu drei Textproben der öffentlichen DDR-Erinnerung. Die Kommentare zu den Textproben aggregierte sie mithilfe der dokumentarischen Methode nach Bohnsack zu „Argumentationsmustern“.

Heß interviewte fünf Familien aus Südthüringen. Zum Kreis der Gesprächsteilnehmer gehörten 19 Personen, es entstandenen 347 Seiten Transkript. Die Eltern in den interviewten Familien stammen aus der „Integrierten Generation“ (das sind die Geburtsjahrgänge 1949–1959), ein Elternpaar ist mit Jahrgang 1960 schon zur „Entgrenzten Generation“ zu rechnen. Die Kinder aller fünf Familien gehören zur „Entgrenzten Generation“ (1969–1974) und der Generation der „Wende-Kinder“ (1975–1986). Welche Tendenzaussagen konnte Heß auf Basis dieses Datenmaterials treffen? Im ersten Teil der Interviews – in dem die Probanden spontan Erinnerungen an die DDR produzieren und ein fiktives Denkmal an die DDR konstruieren sollte, gab es innerhalb der Familien keinen Dissens: In vier von fünf Familien wurde die DDR „grundlegend positiv“ erinnert (S. 189), in einer Familie durchgängig negativ.

Neben dem scharfen Kontrast zwischen der einen und den anderen vier Familien zeigen sich auch Unterschiede innerhalb der Familien. Sie verlaufen zwischen den Generationen. Im ersten Teil der Interviews widersprechen sich die Erinnerungen der Eltern und Kinder nicht. Einige Kinder halten sich mit dem Hinweis „ich war noch sehr jung“ zurück (S. 190). Im zweiten Teil der Familieninterviews hingegen, wo die Textproben der öffentlichen DDR-Erinnerung kommentiert werden sollten, widersprechen die Kinder den Eltern offen. Die Eltern der vier Familien, in denen eine positive Sicht auf die DDR besteht, zeigen sich in der Auseinandersetzung mit den Textproben der öffentlichen DDR-Erinnerung „verletzt, äußern sich hoch emotional und wehren sich gegen eine negativ geprägte öffentliche Sicht auf die DDR und ihr Leben in der DDR. Sie empfinden diese Sicht als falsch und charakterisieren sie als verletzend für all die Menschen, die in der DDR gelebt haben.“ (S. 191) Da die Eltern die Inhalte der öffentlichen DDR-Aufarbeitung als nicht anschlussfähig zu ihren privaten Erinnerungen empfinden, halten sie auch die Akteure der öffentlichen Aufarbeitung für unglaubwürdig (S. 209). Zu den Argumentationsmustern, die bei allen diesen vier Familien auftauchen, gehört beispielsweise der Satz „Wir haben gelernt, damit als normal umzugehen“, in zwei der vier Pro-DDR-Familien wird auch das Muster genutzt: „So war es nicht, die DDR war kein diktatorisch geprägter Staat.“ Bei den Kindern ist das anders. Sie nutzen auch Argumentationsmuster wie „die DDR ist eine Diktatur“ oder „die DDR darf nicht emotional verklärt werden“ (S. 189–191). Heß stellt zudem fest, dass sich die Wendekinder mit den Texten auch analytischer auseinandersetzen und nach Autorschaft, Intention und Wirkung fragen. Dass die Wendekinder keine „nostalgischen Orientierungen“ hätten, wie es Katja Neller in ihrer empirischen Studie von 2006 feststellte, kann Pamela Heß nur für die zweiten Teile ihrer Interviews bestätigen, nicht aber für die ersten. Freilich kann Heß’ Untersuchung aufgrund ihrer begrenzten Fallzahl die Studie von Neller weder bestätigen noch widerlegen – was Heß dagegen zeigt, ist, wie die von Neller gemessenen Einstellungen wahrscheinlich zustande gekommen sind.

Welches Fazit zieht die Autorin am Ende ihrer Analyse? „Auf der Seite der privaten Erinnerungen zeigt sich überwiegend eine Sicht auf die guten Seiten und die Errungenschaften der DDR. Auf der Seite der öffentlichen Erinnerungen dagegen findet sich vorwiegend ein Erinnerungsbild der DDR, das die Diktatur und das Erlernen von Demokratie verdeutlicht.“ (S. 195) Private Erinnerungen an die DDR fänden Heß zu Folge nur dann Eingang in die öffentliche DDR-Erinnerung, wenn sie den Diktaturcharakter der DDR herausstellten (S. 213). „Außerdem fehlt den öffentlichen Erinnerungen größtenteils eine dezidierte Diskussion des DDR-Alltags […].“ (S. 195) Damit gäbe es mehr als 20 Jahre nach der Vereinigung immer noch keinen annährend konsensualen Bezug auf die DDR-Vergangenheit. Dieser „gemeinsame Bezug auf die DDR-Vergangenheit“ ist für Heß – dem Weber’schen Konzept vom „ethnischen Gemeinsamkeitsglauben“ folgend – jedoch wichtig, damit öffentliche Erinnerung erfolgreich die Glaubwürdigkeit und die Unterstützung von Gesellschaften befördern kann (S. 204, 212). Sie fordert deshalb die Durchsetzung eines Minimalkonsenses hinsichtlich der diktatorischen Verfasstheit der DDR sowie eine „integrierte Diktaturerinnerung“ mit der „die Vielfalt der Erfahrungen und damit differenzierte Erinnerungen abgebildet“ wird (S. 219–221).

Kritiken an dem bis hier referierten Analyse- und Argumentationsbogen erscheinen lediglich mit Blick auf das Finale des Buches angebracht. Anstatt nach der Verdichtung der letzten Befunde zügig und konsequent in der Abstraktionsebene immer weiter nach oben zu steigen, scheint der Text hier einfach nicht zum Ende kommen zu wollen. So finden sich im letzten Kapitel neben einer Zusammenfassung noch zwei Unterkapitel mit Schlussfolgerungen, einem Ausblick, eine erneute Methodenreflektion sowie ein abermaliger Ausflug in die Geschichtspolitiken anderer Länder. Hier hätte man sich ein engagiertes Lektorat gewünscht. Auch manche Befundinterpretation scheint ergänzungsbedürftig. Ist es denn wirklich hinreichend, die Reaktionsweisen der Eltern und Kinder auf die Texte der öffentlichen DDR-Erinnerung auf die Differenz von Primär- und Sekundärerfahrungen zurückzuführen (S. 216)? Verweist die Positionierung der Kinder nicht auch auf die Hegemonie der öffentlichen DDR-Erinnerung und dementsprechenden Prägungen durch Bildungs- und Sozialisationsinstanzen? Und was verbirgt sich hinter der Forderung der Autorin, dass „die Lebensleistung vieler Menschen – in einer Diktatur mit Anstand überlebt zu haben – gewürdigt werden muss“ (S. 218, Hervorhbg. i. Orig.)? Doch das sind Marginalien. Pamela Heß’ Studie ist eine Innovation. Sie präsentiert erstmals eine systematische Erhebung von zentralen geschichtspolitischen Dokumenten und rekonstruiert generationenbezogen, ob und inwieweit individuelle DDR-Erinnerungen durch die öffentliche DDR-Erinnerung beeinflusst werden. Im Übrigen lassen sich ihre Befunde auch als Hinweis auf die Versäumnisse der öffentlichen DDR-Erinnerung lesen. Denn das von den Ostdeutschen genutzte Argumentationsmuster „so war es nicht, die DDR war kein diktatorisch geprägter Staat“ oder das häufig gebrauchte Normalitäts-Argumentationsmuster verweist auf trivialisierte Diktatur-Konzepte: Ganz offenkundig wird inzwischen die Frage nach Demokratie oder Diktatur nicht formal, nach dem Institutionensystem und dem Bestehen von Schutzrechten gegenüber dem Staat beantwortet, sondern nach Todesopfern und brutaler Verfolgung.

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