P. Nolte (Hrsg.): Die Vergnügungskultur der Großstadt

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Titel
Die Vergnügungskultur der Großstadt. Orte – Inszenierungen – Netzwerke (1880–1930)


Herausgeber
Nolte, Paul
Reihe
Städteforschung, Reihe A: Darstellungen 93
Erschienen
Köln 2016: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
180 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Yvonne Robel, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Wechselwirkungen zwischen Phänomenen der Urbanisierung und des Vergnügens sind in den letzten Jahren vermehrt ins Blickfeld geschichtswissenschaftlicher Forschungen geraten. Die dabei entstandenen Arbeiten haben nicht nur gezeigt, dass Orte des Vergnügens sich insbesondere in Metropolen etablierten, sondern dass Vergnügungsangebote zugleich wesentlich das Bild der wachsenden Städte und die Erfahrungswelten ihrer Einwohnerinnen und Einwohner prägten.1 In dieses Feld fügt sich auch der von Paul Nolte herausgegebene Sammelband, der Ergebnisse einer 2010 in Münster veranstalteten Tagung zusammenfasst und Diskussionen mehrerer, am Arbeitsbereich Zeitgeschichte der Freien Universität Berlin angesiedelter Projekte zur Urbanisierungs- und Metropolengeschichte einbezieht. Nolte begreift Vergnügungskultur nicht als schmückendes Beiwerk einer modernen Stadtgeschichte, sondern als zentral, wenn es um „Frage[n] nach einer spezifischen Kultur der Moderne bzw. der Modernität überhaupt“ geht (S. 3). Mit dem Untersuchungszeitraum von 1880 bis 1930 rekurriert der Band auf die Idee der „langen Jahrhundertwende“ (S. 2), die sowohl durch eine beschleunigte Urbanisierung als auch durch das Anwachsen von kommerzialisierter Populärkultur geprägt war. In seiner grundlegenden Idee ist er damit wenig neu, gerade deshalb hätte dem Band eine stringentere Strukturierung und Fokussierung gut getan.

Wenngleich es der Titel nicht verrät, steht Berlin mehr oder weniger im Zentrum der enthaltenen Beiträge. In seiner Einleitung beschreibt Paul Nolte die metropolitane Vergnügungskultur zugleich als transnationales Phänomen, das sich „in dichten Netzwerken der wechselseitigen Wahrnehmung und Beobachtung, des Austauschs und auch der strukturellen, z.B. unternehmerischen Verflechtung“ (S. 9) konstituierte. Allerdings spielen Verflechtungen und deren Ausdifferenzierung in diesem Sinne nur bei einigen Autoren und Autorinnen eine Rolle. Explizit zum Thema macht sie Tobias Becker, der nach der Globalisierung des populären Musiktheaters seit den 1880er-Jahren fragt.2 Da Theater zunehmend auch mit Tourneen, Gastspielen oder dem Austausch von Personal und Stücken verbunden waren, vertritt er konsequent eine verflechtende Perspektive und betont eine enge Verknüpfung zwischen dem Wachstum der Metropolen und der Internationalisierung des Theaters um 1900. Die Internationalisierung macht auch Kerstin Lange in ihrem Beitrag als zentrales Merkmal einer urbanen Kultur in der Moderne aus. Dass Vergnügungsorte damit zugleich zu Orten der Erfahrung einer globalen Vernetzung wurden, verdeutlicht Lange anhand der Tangoleidenschaft, wie sie in den 1910er-Jahren in Berlin und Paris herrschte.3 Die „beschleunigte Entwicklung zwischen den europäischen Metropolen“ (S. 78), so konstatiert sie, habe wesentlich zur breiten Begeisterung für die Tänze aus der ‚neuen Welt‘ beigetragen, die ihrerseits Teil einer zunehmenden Vernetzung waren.

Weniger Vernetzungen, sondern vielmehr Parallelen arbeitet Sven Oliver Müller in seinem Beitrag über Opern- und Konzerthäuser in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert heraus. Zwar schreibt er dabei von der „Ausbildung vernetzter Kommunikationsgemeinschaften“ (S. 133), illustriert in seinem Text jedoch vor allem die parallele europäische Entwicklung musikalischer Spielstätten hin zu öffentlichen Opernhäusern und Konzertsälen. Dass internationale Vernetzungen hochgradig instabil sein konnten, betont Peter W. Marx in seiner Rekonstruktion der biografischen Stationen der Schauspielerin Jenny Groß, die er „als Linien metropolitaner Kultur um 1900 zu lesen“ beabsichtigt (S. 99). Dabei rückt er ihre Strategien der Selbststilisierung und deren internationale Anknüpfungspunkte in den Blick, um Metropolenkultur letztlich als Sphäre der wandelbaren Imaginationen, Performationen und Zirkulationen zu diskutieren. Leider bleiben die Beiträge mit jenen verflechtenden Überlegungen wenig verflochten nebeneinander stehen, zumal sie im Band zwischen anderen Beiträgen positioniert sind, die statt einer transnationalen eine nationale Ebene fokussieren.

Explizit mit Berlin befasst sich Henning Holsten, der die zwischen 1925 und 1933 errichtete Großsiedlung Berlin-Britz „als Schauplatz einer avantgardistischen Festkultur“ (S. 31) begreift und fragt, welche Gemeinschaftsutopien darin zum Ausdruck kamen. Dabei zeichnet er den Wandel von einem pluralistischen, integrativen Festkonzept hin zu einer zunehmend exklusiven, parteipolitischen Instrumentalisierung durch die SPD nach und betont, dass soziale und politische Unterschiede stets auch über Vergnügungen ausgefochten wurden. Sylke Kirschnick stellt ebenfalls Berlin ins Zentrum ihrer Überlegungen, indem sie beschreibt, wie der moderne Zirkus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ins städtische Zentrum wanderte und dadurch weithin sichtbar wurde. In ihrer Auseinandersetzung mit Kolonialphantasien, die sich etwa auf Zirkusplakaten niederschlugen, berührt Kirschnik implizit transnationale Aspekte, denen sie jedoch in ihrem weitgehend deskriptiven Beitrag nicht weiter nachgeht. Einen äußerst kurzweiligen Einblick in das „Kiezvergnügen“ des Stralauer Viertels in Berlin liefern Johanna Niedbalski und Hanno Hochmuth, indem sie dortige Kneipen, Festsäle sowie Sommergärten auf ihre Nutzung, Aneignung und Zielgruppen in den 1910er-Jahren hin befragen. Hierbei greifen sie vor allem Diskussionen über eine mit dem „Aufstieg der Massenkultur“4 verbundene umfassende Popularisierung und Demokratisierung von Vergnügen auf. Differenziert argumentieren sie, dass solche Orte einerseits eine breite Teilhabe sicherten, dass einzelne Veranstaltungen in ihrer begrenzten Ausrichtung andererseits jedoch oftmals einer Öffnung des Vergnügens für „die Massen“ entgegenwirkten. Die Verbindung zwischen vergnüglichen und sozial-gesellschaftlichen Fragen nehmen auch andere der bereits genannten Beiträge – ob in transnationaler oder nationaler Perspektive – vor. Sven Oliver Müller arbeitet den spannenden Zusammenhang zwischen Architektur und sozialer Teilhabe an städtischen Konzertvergnügungen heraus. Kerstin Lange verweist darauf, dass die soziale Herkunft des Tango mit dem vornehmlich bürgerlichen Establishments des Tanzes in Paris kollidierte und somit auch soziale Ordnungssysteme infrage stellte. Und auch Sylke Kirschnick stellt fest, dass der moderne Zirkus in den Innenstädten als Versicherung und Verunsicherung der Menschen fungierte und zeitweise soziale Normen aussetzte. Solche Befunde wären es wert, dezidierter herausgearbeitet sowie systematischer gebündelt und diskutiert zu werden.

Welche gesellschaftlichen Herausforderungen mit Vergnügungen einhergingen, ist auch Thema von Kaspar Maase, der in seinem Beitrag nach der Aneignung von populärkulturellem Wissen durch Heranwachsende in Deutschland fragt. Dabei wertet er einerseits Polizeiakten und andererseits Schund- und Schmutzdebatten aus, anhand derer er zeigt, dass eine sich wandelnde Zugänglichkeit zu neuen Medien zwischen 1900 und 1914 mit (erwachsenen) Ängsten vor Kontrollverlust, „Sinnenerregung“ und einer „Disziplinlosigkeit des Wissens“ (S. 90) einherging. Ein Grund hierfür sei, dass gesellschaftlich tradierte generationelle Hierarchien durch die zunehmende Präsenz populärkultureller Phänomene infrage gestellt worden seien. Auch Matthias Warstats Ausführungen über „inszenatorische Inbesitznahme[n]“ (S. 173) städtischer Räume durch die deutsche Arbeiterbewegung befassen sich mit der Verquickung vergnüglicher, sozialer und politischer Fragen. Indem er den Einfluss der Theateravantgarde auf die sozialdemokratische Feierpraxis hervorhebt, hinterfragt Warstat die oftmals übliche Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur sowie zwischen Avantgarde und Massenkultur. Die Verquickung zwischen politischen Bewegungen und städtischen Vergnügungen, wie sie bereits bei Henning Holsten zur Sprache kommt, hätte es ebenfalls verdient, in vergleichender Perspektive vertieft zu werden.

So bleibt der Eindruck, dass eine konzisere gemeinsame Fragestellung dem gesamten Band und teils auch den einzelnen Aufsätzen mehr Gewicht verliehen hätte. Die Beiträge bieten dabei vielerlei Ansatzpunkte für einen möglichen engeren Zuschnitt. „Die Vergnügungskultur der Großstadt“ scheint hier eine zu große Klammer. Der Band entwickelt keine übergreifende Erzählung oder These, was offensichtlich auch nicht gewollt ist, da die Beiträge alphabetisch geordnet sind. Dass sich auch die drei Untertitel „Orte – Inszenierungen – Netzwerke“ nicht wirklich für die Strukturierung eignen, wird schnell deutlich, zumal sie sich auf unterschiedlichen Ebenen bewegen. So führt der Band zwar einmal mehr das breite Feld einer in Einzelaspekten durchaus vergnüglichen Vergnügungsforschung vor, vermag es jedoch nicht wirklich, neue Akzente zu setzen.

Anmerkungen:
1 Etwa: Tobias Becker / Anna Littmann / Johanna Niedbalski (Hrsg.), Die tausend Freuden der Metropole. Vergnügungskultur um 1900, Bielefeld 2011; Daniel Morat u.a., Weltstadtvergnügen. Berlin 1880–1930, Göttingen 2016.
2 Vgl. seine Dissertation: Tobias Becker, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930, München 2014.
3 Vgl. auch hier die Dissertation: Kerstin Lange, Tango in Paris und Berlin. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900, Göttingen 2015.
4 Kaspar Maase, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt am Main 1997.