O. Zimmer: Remaking the Rhythms of Life

Cover
Titel
Remaking the Rhythms of Life. German Communities in the Age of the Nation-State


Autor(en)
Zimmer, Oliver
Reihe
Oxford Studies in Modern European History
Erschienen
Anzahl Seiten
395 S.
Preis
€ 51,51
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Lehnert, Freie Universität Berlin

Gerade auch „in the Age of the Nation-State“ (Untertitel), also wesentlich der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als Untersuchungszeitraum dieses Buches, ist noch von ausgeprägter Regionalisierung der Entwicklungsmuster deutscher Städte auszugehen. So hat der Autor Oliver Zimmer, Professor of Modern European History in Oxford und hervorgetreten unter anderem durch Studien über „Nationalism in Europe, 1890–1940“ (2003), eine interessante Auswahl getroffen: So liegen die quellengesättigt betrachteten Städte Augsburg, Ludwigshafen am Rhein und Ulm (die jedoch weder im Untertitel noch im Inhaltsverzeichnis genannt sind), in einem zum konkordanten Vergleich geeigneten süd- bzw. südwestdeutschen Geschichtsraum. Das mag es rechtfertigen, diese Städte mehr wie Fallstudien zu übergeordneten Leitfragen zu behandeln. Dabei sind die Seitenblicke auf weitere bayerische Städte wegen deren Zahl und Größe häufiger als im Falle Ulms, das sich – mit freilich zunehmend beträchtlichem Abstand zu Stuttgart – gern „Württemberg’s zweite Stadt“ (S. 21 u. S. 31) nannte; sie lag direkt an der Grenze zum schwäbischen Teil Bayerns mit Augsburg als ‚dritter Stadt’ Bayerns (hinter München und Nürnberg). Die von Zimmer herangezogenen drei Städte bewegten sich damals in jener mittleren Kategorie von 20.000–100.000 Einwohnern, die zwischen der Reichsgründung und dem Ersten Weltkrieg von 13% auf 40% im Bevölkerungsanteil mehr wuchs als die Großstädte (von 5% auf 25%, S. 17). Andererseits sind deren Stadtprofile sehr unterschiedlich, bieten sich also darin zum kontrastierenden Vergleich an.

Ludwigshafen, in manchem ein kleines „German Chicago“ (S. 39), entsprach in seiner industrialisierungsbedingten Wachstumsdynamik von knapp 3.000 auf 71.500 Einwohner zwischen 1859 und 1903 (S. 40) am ehesten dem vormals einflussreichen modernisierungstheoretischen Paradigma, wie es sonst vornehmlich anhand des Ruhrgebiets exemplifiziert worden ist. Nicht Kohle und Stahl waren die ökonomische Basis des Urbanisierungstempos in Ludwigshafen, sondern wesentlich die Chemie (BASF). Die integrierende „Communalschule“, mit der sich Besuchsanteile von Konfessionsschulen auf max. 40% begrenzen ließen, ist ebenso aus der weniger traditionsbelasteten Entwicklungsdynamik begreiflich wie der geringere Einfluss auch des politischen Konfessionalismus (S. 69–75): Das 1869 zur Einführung der konfessionsübergreifenden Communalschule abgehaltene Votum ergab 100prozentige Zustimmung der protestantischen und jüdischen Abstimmenden (bei 95% protestantischer und sogar 100% jüdischer Teilnahme) und immerhin von stimmberechtigten Katholiken nur gut 2% Ablehnung bei allerdings ca. 18% Nichtteilnahme. Niedrigere Konfessionsbarrieren indizierten auch 38% Mischehen in Ludwigshafen gegenüber 25% in Ulm (entsprechend dem geringeren Anteil der Katholiken), aber nur 10–15 % in dem von Konfessionsgegensätzen deutlicher erfassten Augsburg (S. 246). Die mit dem Industriewachstum nach Ludwigshafen einwandernde (ungefähr zur Hälfte katholische) Arbeiterschaft trug später dazu bei, dass die SPD nach Einführung des Proportionalwahlrechts (1908) mit 50% der Sitze in der Stadtvertretung dominierte (S. 190). Das wäre aber ohne ein bereits weitgehend inklusives bayerisches Kommunalwahlrecht nicht möglich gewesen, das 80% der Wahlberechtigten zum Reichstag (Männer ab 25 Jahre) auch zur Gemeindevertretung abstimmen ließ. In das Profil geringer Ausprägung eines Lokalpatriotismus und Regionalismus passte auch der Verzicht des Ludwigshafener Bürgertums auf ein eigenes Theater (über die Rheinbrücke erreichte man dasjenige von Mannheim in einer guten halben Stunde, S. 202) – so wie der zunächst mangels Opposition unbestrittene, deshalb weniger „trommelnde“ Reichspatriotismus von Pfälzern, die erst seit napoleonischer Zeit zu Bayern gehörten (S. 228).

Ein Kontrastprofil zu Ludwigshafen zeigte Ulm mit unterdurchschnittlichem Bevölkerungszuwachs infolge eines langsameren sozioökonomischen Strukturwandels bei fortdauernder Prägung durch Handwerk und (ortsnahen) Handel (S. 3 u. 21f.). Geradewegs symbolträchtig erlebten – anders als in den meisten anderen Städten – die Festungsmauern als Begrenzung des Stadtraums noch das 20. Jahrhundert (S. 26). Ebenso symbolträchtig mag das Projekt eines Gewerbemuseums anmuten, das von einem Museumsverein vorangetrieben und Ende 1882 eröffnet wurde, aber nicht die erhoffte überregionale Anziehungskraft entfaltete (S. 37–39). Andererseits war der Stadttraditionalismus mit verdichtetem Engagement dieses lokalpatriotischen mittelständischen Bürgertums in der Armenpflege verbunden (S. 119). Überdies senkte Ulm die Kosten für den Erwerb des Bürgerrechts zeitweise um mehr als 90% bis auf nur mehr symbolische 3 Mark, wodurch um 1890 nahezu 70% der Reichstagswähler auch das Gemeindestimmrecht innehatten (S. 140f.). Zu diesem Zeitpunkt lag diese Quote in Ludwigshafen noch unter 20%, in Augsburg nicht viel über 25% (S. 147 u. 150). Auch wenn der von 1863 bis 1890 amtierende Ulmer Oberbürgermeister ein Freikonservativer und sein Nachfolger ein gemäßigter Nationalliberaler war (S. 94), blieb in der Stadtvertretung eine Mehrheit von (anderen) Liberalen, Demokraten und Zentrumskatholiken vorhanden, die einen dezidiert reichsnationalen Kandidaten verhinderte (S. 185).

Gewissermaßen einen Kombinationstypus bildete Augsburg, indem um einen analog zu Ulm langsam wachsenden Altstadtkern nur in Vororten eine Industrialisierungsdynamik stattfand; damit ging auch eine soziale Segregation zwischen eingesessenem Bürgertum und Vorstadtproletariat einher (S. 54f.). Allerdings war neben der MAN (bis 1898 vor einer Firmenfusion mit Nürnberg: Maschinenfabrik Augsburg) vor allem Textilproduktion unter den beschäftigungsintensiven Sektoren zu finden und entsprechend wenig zukunftswachstumsfähig (S. 56f.). Abweichend von sozioökonomischer Prägung Ludwigshafens und dem konflikteinhegenden Stadtbürgermilieu Ulms war das Entstehen von Bürgerrechtsvereinen sozialdemokratischer und zentrumskatholischer Provenienz (S. 154f.) gegen die (national-)liberale Minoritätsherrschaft in Augsburg Ende des 19. Jahrhunderts ein Indikator der verstärkten Profilierung des wahlsoziologisch bekannten Dreilagersystems. Für den bürgerlichen Dominanzanspruch symbolträchtig errichtete Augsburg in den 1870er-Jahren ein neues Stadttheater als Repräsentationsbau, im Sinne zugleich einer Bühne des Stadtbürgertums, während Ulm ebenso bezeichnend für die volksparteiliche Balance das seit 1781 bestehende Stadttheater um eine Zirkusansiedlung ergänzte (S. 196f. u. 200f.). Die kostspielige Augsburger Prioritätensetzung erscheint vor dem Hintergrund fragwürdig, dass gleichzeitig diese Stadt eine auffällig hohe Kindersterblichkeit aufwies und erst nach dem Theaterbau seit 1879 mit einem neuen Wasserwerk den ersten Sanierungsschritt unternahm (S. 209f.). Während in Ludwigshafen und Ulm der Sedanstag (siegreiche Schlacht gegen Frankreich 1870) am Folgewochenende ohne Geschäftsunterbrechung bzw. offiziell im Fünfjahrestakt begangen wurde (S. 231 u. 239), erfolgte in Augsburg die Feier stets am 2. September; sie hatte dort Volksfestcharakter mit – angesichts von registrierten 43.000 Litern Bier auf insgesamt ca. 25.000 Beteiligte – wohl teilweise mehr als allein nationalen Rauschzuständen (S. 245 u. 247). Das katholische Gegenstück der Straßenpräsenz war die alljährliche Fronleichnamsprozession, die in Augsburg bei ca. 70% Katholikenanteil (S. 261) die bevorzugte und staatlich garantierte Form der öffentlichen Milieumobilisierung auch jenseits der Wahlen darstellte. Angesichts zugleich der umgekehrten Konfessionsverteilung und des kompromissorientierteren politischen Stadtklimas führte der Genehmigungsbedarf in Württemberg zu der Übereinkunft, den Ulmer Prozessionszug so zu gliedern, dass er den Verkehr nicht wesentlich behinderte (S. 280f.).

Nur fast am Ende vor dem Fazit klingen beiläufig Gesichtspunkte wie die Annäherung der Ulmer Konfessionen in gemeinsamer Abwehr der Sozialdemokratie und antisemitisch motivierte Einheitsappelle in Augsburg an (S. 290f.). Über die Fülle der Stadtdetails in dichter Beschreibung hinaus systematisch interessierte Lesende wird es kaum befriedigen, den eindimensionalen Urbanisierungs-, Industrialisierungs-, Nationsbildungs- und Modernisierungs-Paradigmen letztlich entgegenzuhalten: „what is modern and what is traditional depends on one’s standpoint“ (S. 295f. u. 299). Dass die zuweilen vielleicht doch etwas neo-historistisch anmutende Verabschiedung von distinkten Theoriebegriffen zugunsten eher halbliterarischer Kategorien wie „Rhythms of Life“ (Buchtitel) oder „Journeys“ (tatsächlich behandelt jener Teil: „Economies“ und „Schools“) auch konkret ihre Tücken haben kann, wird am – wegen größerer Toleranz mit Sympathie resümierten – Ulmer Beispiel deutlich: Dort sei nicht gegenüber der früheren „klassenlosen Bürgergesellschaft“ (L. Gall) die bürgerliche Klassengesellschaft des Kaiserreichs zum Hauptproblem geworden, sondern die Irritation gegenüber einer „community of strangers“ (S. 301). Wenn man aber diese mentale Bindung an Vertrautheit, fast noch eine vergrößerte Gemeinde möglichst guter Nachbarschaften, als damaliges örtliches Leitbild identifiziert, macht es wenig Sinn, etwaigen Nutzen einer Rückbeziehung auf (wohlverstandene) Spannungsfelder von „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ zu dementieren (S. 297). Die schon damals unterstellte „emphasis on individual success“ (S. 302) könnte nämlich auch eine – liberale – Unterschätzung der „kommunitarischen“ und darin zugleich „kommunalistischen“ Bindekraft nicht nur anderenorts etlicher katholischer und sozialdemokratischer Milieus von Nicht-Fremden, sondern auch eine Besonderheit der südwestdeutschen stadt(klein)bürgerlichen Volkspartei-Demokraten gewesen sein.

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