B. Mayrhofer u.a.: Orchestrierte Vertreibung

Cover
Titel
Orchestrierte Vertreibung. Unerwünschte Wiener Philharmoniker. Verfolgung, Ermordung und Exil


Autor(en)
Mayrhofer, Bernadette; Trümpi, Fritz
Erschienen
Anzahl Seiten
278 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Werner Boresch, Musikpädagogik, Bergische Universität Wuppertal

Mit ihrem Buch ergänzen Bernadette Mayrhofer und Fritz Trümpi eine drei Jahre ältere Studie zu den Berliner und Wiener Philharmonikern im Nationalsozialismus1, indem sie die rassistisch und politisch motivierten „Säuberungen“ nach dem 12. März 1938 in den Fokus rücken. An den Einzelschicksalen von 17 Mitgliedern des Wiener Eliteorchesters wird beispielhaft deutlich, wie eine monströse, zur Willkür neigende Unrechtsbürokratie, (un)eigennützige Hilfsaktionen und durchaus persönlich motivierte Intrigen (auch unter Musikern) zusammenwirkten.

Wie schon in der früheren Arbeit Fritz Trümpis konnten Versammlungsprotokolle, Korrespondenzen usw. aus dem Archiv der Wiener Philharmoniker benutzt werden, als weitere Quellen dienen Interviews mit Nachkommen. Ferner wurden zum ersten Mal Tonband-Aufnahmen von Versammlungen ausgewertet, die seit den 1950er-Jahren angefertigt wurden und wichtige Quellen für das von Fritz Trümpi verfasste Kapitel „Philharmonische Schuldabwehr“ (S. 199–269) sind. Die Auswertung der Tonbänder erlaubt zum Beispiel eine differenzierte Darstellung der Reaktionen auf Pensionsansprüche exilierter Musikerkollegen (S. 258–263). Die Nachkriegszeit wurde einbezogen, weil einerseits in den Jahren nach 1945 intern „die exilpolitische Thematik mitunter überdeutlich in Vorstandssitzungen und Hauptversammlungen der Philharmoniker aufschien“ (S. 13) und sich andererseits in offiziellen Darstellungen eine „Ausklammerung der Ermordung und Flucht ins Exil von Mitgliedern der Philharmoniker […] bis in die 1960er-Jahre“ fortsetzte (S. 253, Fußnote 1014). Breiten Raum nimmt mit Recht die Planung der USA-Tournee ein, die 1948 initiiert, aber – nicht zuletzt wegen der langwierigen Suche nach einem „unbelasteten“, aber prominenten Dirigenten – erst acht Jahre später durchgeführt wurde. Dabei verstand es der Orchestervorstand, „die ehemaligen, in die USA geflohenen Kollegen als strategische Faktoren des Tourneeplans einzukalkulieren“ (S. 244). Methodisch wichtig ist Trümpis Hinweis, dass die (schriftlich oder durch Tonband festgehaltenen) Protokolle dem Forscher „die zeitgenössische Perspektive auf die Relevanz der einzelnen Gegenstände“ – und keinesfalls diese selbst – überliefern (S. 201).

Bernadette Mayrhofer ist die Verfasserin des Kapitels „Vertreibung aus dem Orchester“ (S. 17–57) und der „Biographische[n] Porträts der vertriebenen, ermordeten und ins Exil geflüchteten Wiener Philharmoniker“ (S. 59–197). Sie beschreibt das „Rechtschaos“ (S. 46) in den Monaten nach dem „Anschluss“ 1938 ebenso überzeugend wie die spätere „Ausblendungsstrategie“, die „für die österreichische Nachkriegszeit durchaus typisch“ gewesen sei (S. 26). An einigen Stellen entstehen durch ungeschickte Zusammenstellung der Informationen Unstimmigkeiten, zum Beispiel wenn der (auf Hans Mommsen und Karl Dieter Bracher fußende) Hinweis, die Beamtenschaft sei grundsätzlich „anfällig“ (S. 27) für nicht-demokratische Strukturen gewesen, und die (von Margret Feiler übernommene) Bewertung des ausgebliebenen Widerstands der Wiener Gemeindebürokratie als „remarkable“ (S. 28) unmittelbar und ohne Vermittlung aufeinander folgen. Im Text über Arnold Rosé wird im Kontext des Jahres 1938 über die „Distanzierung seines alten Freundes Richard Strauss“ berichtet und im nächsten Satz dessen Position als Vorsitzender der Reichsmusikkammer erwähnt (S. 156). Von diesem Amt war Strauss aber bereits 1935 – im Zusammenhang des Skandals um die Oper „Die schweigsame Frau“ – zurückgetreten.

Mit den Porträts der 17 „unerwünschten“ Philharmoniker erweitert Bernadette Mayrhofer die Liste von bereits vorliegenden Biographien verfolgter Musiker und Musikerinnen2. Erschütternd ist zum Beispiel das Schicksal des Oboisten Armin Tyroler, der noch von Gustav Mahler eingestellt und dem der Ehrenring der Stadt Wien – nicht zuletzt wegen seines sozialen Engagements – verliehen worden war (S. 79). Tyroler und seine Ehefrau wurden etwa ein halbes Jahr vor Kriegsende in Auschwitz ermordet. Ganz anders die Lebensumstände des Geigers Leopold Föderl, der als „Versippter“ aus dem Orchester ausgeschlossen wurde, sich aber zuvor schon als kritischer Geist (auch Wilhelm Furtwängler gegenüber) und durch seine „antifaschistische und liberale Einstellung“ (S. 125) bei maßgeblichen Orchestermitgliedern unbeliebt gemacht hatte. Mayrhofer kommt zu dem nachvollziehbaren Schluss: „Man berief sich vordergründig auf die menschenverachtende Rechtsordnung, um sich in Wahrheit eines politisch unbequemen Kollegen entledigen zu können“ (S. 125). Der ebenfalls „versippte“ Klarinettist Rudolf Jettel wurde aufgrund einer Denunziation durch Orchestermitglieder 1939 vom Dienst suspendiert, dann aber nach einer Intervention Furtwänglers wieder eingestellt (S. 191–194).

Sehr differenziert und jenseits jeglicher Schwarz-Weiß-Zeichnung ist die Darstellung der Haltung des Fagottisten Hugo Burghauser, dessen Porträt den Titel trägt: „Opfer des Nationalsozialismus – 'Täter' im Austrofaschismus? Zur Ambivalenz des politischen Menschen Burghauser“ (S. 92). Auch er gehörte zu den „Versippten“, ließ sich von seiner Frau scheiden und beschuldigte diese „der Täuschung in Bezug auf ihr 'Abstammungsverhältnis'“. Bernadette Mayrhofer berücksichtigt bei ihrer Bewertung die Zeitumstände und gibt zu bedenken, dass es „eine essentielle Überlebensstrategie für die vom NS-Regime Verfolgten darstellte, sich der 'Logik' der Nationalsozialisten scheinbar zu unterwerfen“ (S. 95). Burghausers Mitgliedschaft in der Vaterländischen Front, die ihn nach dem „Anschluss“ zur persona non grata machte, war zuvor seiner Karriere durchaus förderlich gewesen. An Leopold Föderls zeitweiligem Ausschluss aus den Philharmonikern war er ebenso maßgeblich beteiligt wie an der Intrige gegen die Uraufführung von Ernst Křeneks Oper „Karl V.“ in Wien. Da auch Křenek Mitglied der Vaterländischen Front war (und seine Oper als Ausdruck seiner „ständestaatlichen“ Anschauung interpretiert werden kann)3, wird deutlich, dass auch persönliche Motive bei (kultur)politischen Handlungen eine große Rolle zu spielen vermochten. Dass Hugo Burghauser „nie mehr nach Österreich zurückkehrte“ (S. 101), scheint allerdings eine Fehlinformation zu sein, existiert doch ein mit „Wien, 29. Mai 1974“ datiertes Foto, das Burghauser mit vier weiteren ehemaligen und aktuellen Vorständen des Orchesters und dem Geiger David Ojstrach zeigt.4

Das Buch gehört zu den Publikationen, bei denen man einen redigierenden Zugriff vermisst. Die Zahl der orthographischen Fehler ist recht groß (vor allem bei Worttrennungen), in den Fußnoten sind die Verweise auf Seitenzahlen innerhalb des Buches fehlerhaft (keine der zahlreichen Stichproben zeigte ein richtiges Ergebnis), Friedrich Buxbaums Geburtsjahr 1869 wird zum Beginn seiner Tätigkeit beim Symphonieorchester Glasgow (S. 102) usw. Auch die häufigen Redundanzen – vor allem in den Porträts – könnten vermieden werden: Oftmals wird ein Briefauszug innerhalb weniger Seiten zweimal zitiert (beispielsweise S. 92 und 99, S. 121 und 127, besonders nah: S. 138 und 139). Kurios mutet es an, wenn der gleiche Auszug aus einem Brief von Katja Wittels (der Witwe des Geigers Ludwig Wittels) in zum Teil abweichender Orthographie, zuerst mit und dann ohne „sic“-Vermerke, zitiert wird (S. 86 und S. 181).

Insgesamt knüpft das Buch gut an biographische Forschungen zu Verfolgten und Exilanten im Nationalsozialismus an. Neue Aspekte werden vor allem in Fritz Trümpis Kapitel zur Nachkriegsgeschichte der Wiener Philharmoniker eröffnet. Die Porträts finden sich fast wortgetreu – manchmal auch um Zitate erweitert – auf der Website der Wiener Philharmoniker, auf die nachdrücklich hingewiesen sei.5

Anmerkungen:
1 Fritz Trümpi, Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus, Wien 2011.
2 Stellvertretend sei genannt: Hanns-Werner Heister / Claudia Maurer Zenck / Peter Petersen (Hrsg.), Musik im Exil. Folgen des Nazismus für die internationale Musikkultur, Frankfurt am Main 1993. Hier wird „Exilmusikforschung“ ausdrücklich als „Vervollständigung der Musikgeschichte“ bezeichnet (S. 23).
3 Hierzu neuerdings: Sarah Noemi Schulmeister, „Ein Festspiel für Österreich“. Ernst Kreneks Oper „Karl V“ im Kontext der politischen Entwicklungen der frühen 1930er Jahre, Diplomarbeit, Universität Wien 2012 (<http://othes.univie.ac.at/23476/1/2012-10-25_0602410.pdf> [15.04.2015]).
4 Clemens Hellsberg, Demokratie der Könige. Die Geschichte der Wiener Philharmoniker, Zürich 1992, S. 511.
5 <http://www.wienerphilharmoniker.at/language/de-AT/Homepage/Orchester/Geschichte/Nationalsozialismus> (15.04.2015).

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