K. Eck u.a. (Hrsg.): Interieur und Bildtapete

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Titel
Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800


Herausgeber
Eck, Katharina; Schönhagen, Astrid Silvia
Anzahl Seiten
250 S.
Preis
€ 29,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Franziska Schößler, Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Universität Trier

Die Cultural und Material Studies haben dafür gesorgt, dass populäre Kunstformen und selbst Alltagspraktiken wie Wohnen und Konsumption, die immerhin ästhetische Bildung, Kalkül und Einbildungskraft verlangen 1, wissenschaftlich erfasst werden können. Waren beispielsweise fordern zur Fiktionalisierung des eigenen Lebens heraus und bieten alternative Lebensentwürfe an 2 – ähnlich wie die Literatur. Sie symbolisieren Lebensstile, ermöglichen soziale Praktiken der Distinktion, wie sie Pierre Bourdieu für den Kunstgeschmack beschrieben hat, sind Schlüsselinstrumente bzw. ‚Autoren‘ sowie Medien von Kultur 3 und verheißen Alterität als Ausnahmezustand ebenso wie Identitätsbildung und Glück.

Ganz ähnliches gilt für die Sujets, die der Sammelband „Interieur und Bildtapete. Narrative des Wohnens um 1800“ untersucht; entstanden ist er im Forschungskontext von „wohnen + / – ausstellen“ am Fachbereich Kulturwissenschaften der Universität Bremen. Im Zentrum der Aufsätze steht ein Phänomen, das in vielerlei Hinsicht als liminales zu beschreiben ist: Die Bildtapete ist an der Schnittstelle von Hochkultur und Populärkultur situiert, denn sie bedient sich der hochgeschätzten antiken Ikonographie sowie literarischer Topoi, wird jedoch seriell (re-)produziert. Sie markiert die Grenze von Innen- und Außenraum, indem sie den Blick auf (gemalte) Landschaften richtet, im Wohnraum Natur simuliert und Vexierspiele zwischen Fläche und Raum entstehen lässt, wie bevorzugt die beliebten Arabesk-Tapeten (vgl. den Beitrag von Angela Borchert). Bildtapeten vergegenwärtigen im privaten Wohnzimmer ferne Welten, exotische Landschaften samt ihrer Bewohner, Tiere und Pflanzen und bieten den Betrachter/innen ‚eine Loge im Welttheater‘, so eine Formulierung Walter Benjamins. 4 Die Tapeten dienen mithin der Identitätsbildung von Bürger/innen zwischen Abgrenzung (im Privatraum), Exklusion des Anderen und Sehnsucht nach diesem und verweisen damit auf disparate Rollenentwürfe: auf den rational kalkulierenden Geschäftsmann, den vernünftigen gemeinwohlorientierten Bürger und den einsam Träumenden, wie Walter Benjamin in seiner Theorie des Interieurs festhält; diese untersucht Cornelia Klinger eingehend in einem erhellenden Beitrag.

Das Interieur und die Bildtapete sind Gegenstände – so verdeutlichen die Beiträge auf überzeugende Weise –, die die grundlegende Fähigkeit des Populärkulturellen, Anschlusskommunikation bzw. Geschichten im Sinne intermedialer Filiationen zu erzeugen und (disziplinäre) Grenzziehungen zu unterlaufen, par excellence vor Augen führen. Katharina Eck und Astrid Silvia Schönhagen betonen in ihrem theoretisch versierten, einleitenden Beitrag, dass die Analyse von Wohnkultur methodisch in einem interdisziplinären Netz zu verorten sei: Knotenpunkte seien die Gender Studies, die Raum-Forschung, die Material Studies und die Interkulturalitätsforschung – die Tapeten, die um 1800 die Wände schmückten, zeigen neben Schweizer Panoramen exotisierte Welten und ‚edle Wilde‘ im Sinne von Jean Jacques Rousseau –, zudem die Konsumforschung, denn der Kauf von Bildtapeten erfordert eine ästhetische Objektwahl, und die Geschichtsforschung; die Tapeten vergegenwärtigen Geschichte zwischen Referentialität und Klischierung, wenn historische Persönlichkeiten, Ereignisse und Gegenstände eindeutig identifiziert werden können, gleichwohl in topische Landschaften eingepasst sind.

Der Band geht von der Prämisse aus, dass die Etablierung einer privat codierten Wohnwelt eng mit der ‚Entdeckung des bürgerlichen Menschen‘ (Michel Foucault) assoziiert ist, das heißt genauer: mit Subjektwerdung durch ästhetische Bildung – die Tapete erlaubt opulente ‚Augenreisen‘ im Zimmer –, durch Selbstausdruck – Frauen beispielsweise vermögen durch die Bildprogramme in ihrem Zimmer auf ihre eigenen prekären Lebenssituationen zu verweisen –, durch Illusionsbildung und die Einübung in Phantasie. Darüber hinaus unterstützen sie das bürgerliche Bildungsprogramm, denn Interieurs und Bildtapeten liefern Wissen wie die naturwissenschaftlich präzisen Gemälde von Rhinozerossen im Zuge der französischen Rhinomanie (vgl. den Beitrag von Silke Förschler) oder die veristischen Abbildungen brasilianischer Botanik; Begleitbroschüren wie die zur Tapete Les sauvages de la mer pacifique klären über die dargestellten historischen Ereignisse auf.

Die Panoramatapete erweist sich auch dann als liminal, wenn sie sich zwischen der stereotypisierenden Ikonographie einer eurozentrischen Hybris und einer „übersetzenden“ kreativen agency bewegt: Die Tapeten entstehen aus der Collage bildkünstlerischer und literarischer Motive, wie das close reading von Betje Black Klier eindringlich zeigt, aber auch aus Basteleien der Besitzer/innen, die Motive zusammenkleben, einmontieren und die Anordnung der Bildbahnen vornehmen (vgl. zum Umgang mit chinesischen Tapeten den Beitrag von Friederike Wappenschmidt). Dass dieser Selbstausdruck von staatlicher Seite um 1800 gefördert und reglementiert wurde, entwickelt Claudia Sedlarz‘ Aufsatz zur Berliner Akademie der Schönen Künste und Mechanischen Wissenschaften, die den guten Geschmack in Preußen zu bilden und die Qualität von Konsumartikeln im Wettbewerb mit anderen Nationen zu steigern versuchte.

Der Sammelband, der in drei größere Abschnitte untergliedert ist – „Subjektbildung im Wohnraum um 1800“, „Ferne Welten an der Wand“ und „Dekor- und Objektgeschichten des Wohnens“ –, kombiniert recht weit auseinander liegende methodische Verfahren. Während der Beitrag von Cornelia Klinger theoretisch ambitioniert mit dem Modernisierungsmodell Luhmanns arbeitet, verbleiben Ausführungen wie die über das Zimmer der Albertine von Grün, das mit Trauerikonen einer eingeschränkten weiblichen Existenz bebildert ist und die Zimmerbeschreibung von Sophie von La Roche zitiert (Tobias Pfeifer-Helke), eher im Material. An manchen Stellen hätte man sich deshalb eine etwas intensivere Vernetzung mit den eingangs entwickelten theoretischen Paradigmen gewünscht, an anderen close readings, denn die Bildtapeten scheinen auch deshalb brisant, weil sie intrikate Übersetzungen vornehmen; Tahitianerinnen beispielsweise werden im Kleidungsstil antiker Grazien abgebildet und so der europäischen Hochwertikonographie angepasst, wie Astrid Arnold in ihrem Beitrag Der ‚Wilde‘ im Wohnzimmer zeigt. Ein Weiteres bleibt anzumerken: Hat die historische Forschung damit begonnen, die Grenzziehung zwischen Moderne und Vormoderne aufzulösen und die damit verbundene Teleologie, die Rede vom Komplexitätszuwachs (Luhmann), in Frage zu stellen, so hätten sich die in dem Sammelband rekonstruierten Narrative, die Kontinuitäten zwischen aristokratischer und bürgerlicher Wohnkultur bzw. Verschiebungen und Übersetzungen kenntlich machen, ausdrücklicher an diesem Projekt beteiligen können. Damit erschiene auch die Foucault’sche These von der ‚Entdeckung des Menschen‘ in einem etwas anderen Licht.

Dessen ungeachtet, handelt es sich um hoch instruktive, gut lesbare und brisante Ausführungen, die den bürgerlichen Innerlichkeitsdiskurs bzw. die Formation von Innenlandschaften materiell wenden und der Wohnkultur als Ausdruck von Konsumkultur und ästhetischer Bildung nachspüren. Eindrücklich sind die zahlreichen medialen Filiationen, die die interdisziplinäre Anlage des Sammelbandes in den Blick zu rücken vermag: literarische Texte, zum Beispiel von Edgar Allan Poe und Honoré de Balzac, erzählen von Interieurs und Bildtapeten, die ihrerseits aus Literatur entstanden sind. Die reich bebilderten Tapeten dienen als Hintergrund für tableaux vivants (wie sie in Gemälden verewigt werden) oder auch für opulente Kostümfeste. Es zeichnet sich zudem eine enge Verbindung zum Theater ab, nicht nur weil die Panoramatapeten häufig wie Theaterstaffagen, wie Kulissen arrangiert sind und so zur Theatralisierung der bürgerlichen Räume beitragen, sondern auch weil ihre Sujets in Opern und Operetten wiederkehren. Darüber hinaus zeigt der Sammelband, dass Bildtapeten eine andere Form von Geschichtsschreibung darstellen und dass selbst Idyllisierung ein politisches Statement sein kann: Die Tapete Die Franzosen in Aigleville, oder die Gründung des Staats Marengo entwirft die Utopie von Bauernsoldaten in einer französischen Kolonie in Amerika, die gegen die Bourbonen gerichtet ist und damit politische Sprengkraft besitzt. Zugleich jedoch spart die ‚Deckgeschichte‘ dieser Tapete gewaltvolle Unterdrückung und Kolonialismus aus, denn die Vertreibung der First Nations findet keinen bildkünstlerischen Ausdruck.

Interieur und Bildtapete sind mithin Sujets, die in hohem Maße intermediale, interdisziplinäre sowie kontextualisierende innovative Erzählungen generieren und im Grunde, ähnlich wie das vom New Historicism bevorzugte Genre, die Anekdote, quer zur etablierten Geschichte stehen – nicht zuletzt dieser Umstand macht die Lektüre dieses gelungenen Bandes kurzweilig.

Anmerkungen:
1 Heinz Drügh, Einleitung, in: Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, in: ders. / Christian Metz / Björn Weyand (Hrsg.), Warenästhetik. Neue Perspektiven auf Konsum, Kultur und Kunst, Berlin 2011, S. 9–44.
2 Wolfgang Ullrich, Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt am Main 2006, S. 59.
3 Grant McCracken, Culture and Consumption. New Approaches to the Symbolic Character of Consumer Goods and Activities, Bloomington / Indianapolis 1990; Gudrun M. König, Konsumkultur. Inszenierte Warenwelt um 1900, Wien, Köln / Weimar 2009, S. 30.
4 Walter Benjamin, Das Passagen-Werk, Bd. 1, Frankfurt am Main 1982, S. 52.

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