C. Schnurmann: Brücken aus Papier

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Titel
Brücken aus Papier. Atlantischer Wissenstransfer in dem Briefnetzwerk des deutsch-amerikanischen Ehepaars Francis und Mathilde Lieber, 1827–1872


Autor(en)
Schnurmann, Claudia
Reihe
Atlantic cultural studies 11
Erschienen
Berlin 2014: LIT Verlag
Anzahl Seiten
553 S.
Preis
€ 89,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Helbich, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Claudia Schnurmann distanziert sich von Forschungen, die sich auf die Untersuchung des Austauschs von Schriften und Mitteilungen aus der Welt des Wissens in Liebers Korrespondenz beschränken. Solche Autoren ließen „das große Feld des praktischen Alltagswissens, seines emotionalen Wissens und Allgemeinwissens jenseits von Fachbüchern und Universitäten, seinen familiären Hintergrund“ und weniger prominente Briefpartner weitgehend unberücksichtigt (S. 33).

„Alltagswissen, briefliche Informationen über sich selbst, die Familie, Freunde, Umgebung und Gesellschaft sind das, was im Folgenden besonders interessieren wird“. Damit gerieten Personenkreise „ins analytische Visier, die bislang von der Lieber-Forschung völlig ausgeblendet wurden“ (S. 33). Schnurmann schließt den wissenschaftlichen Austausch in ihrer Definition mit ein, aber ergänzt ihn durch „Gedichte, Geschenke, Klatsch und Tratsch, Gefühle und Ondits […]“ (S. 472).

Für das Verständnis der einigermaßen ungewöhnlichen Struktur dieses Buches ist gleichfalls nützlich zu wissen, dass Claudia Schnurmann den Standpunkt vertritt, dass eine intensive biographische Recherche zu den beiden Protagonisten sowie eine genaue Kenntnis des Netzwerks der Korrespondenten sowie der Verwandten hüben und drüben für Verständnis und Einschätzung des Wissenstransfers erforderlich seien. Bei Hunderten von Korrespondenten und Tausenden von Briefen wird die Erreichung eines solchen Ziels immens arbeitsaufwändig.

Etwas unglücklich scheint die Kreation „Brevegraphie“, die bereits im Inhaltsverzeichnis mehrfach erscheint und deren gewünschte Bedeutung erst 30 Seiten später mitgeteilt wird. Es handle sich um eine „Kombination von Briefen und Biographie“ (S. 36). Unglücklich, weil der Terminus ohne Erläuterung nicht verständlich und der Teil „graphie“ bereits randvoll besetzt ist mit der Bedeutung Kunde oder Wissenschaft vom vorstehenden Wissensgebiet. Nicht zuletzt bleibt auch eine vor allem auf Briefen basierende Biographie eine Biographie und ein Brief in diesem Zusammenhang eine Quelle.

Das Inhaltsverzeichnis mit seinen vier Kapiteln ist ein nützlicher Leitfaden durch die nicht immer leicht einzuordnende Argumentation: Das erste, einleitende Kapitel heißt „Die Ouvertüre“ und befasst sich mit der Lieber-Rezeption, Briefen als Quelle und Thesen nebst Aufbau; das zweite, „Biographien und Netzwerkbildungen“, enthält detailliert recherchierte Biographien von Franz Lieber und seiner Ehefrau Mathilde, geborene Oppenheimer. Das dritte, „Das Medium Brief“, behandelt dessen Stellenwert im 19. Jahrhundert, die Briefe innerhalb der Familien Lieber und Oppenheimer, die Kategorie Empfehlungsschreiben und deren Nutzen für den Aufbau eines Netzwerks, schließlich Freundschafts- sowie Frauenbriefe. Das vierte und letzte Kapitel, „Atlantischer Wissenstransfer im Brief, 1827–1872“ bietet markante Beispiele dazu, unterbrochen von der Schilderung von Liebers Deutschland-Aufenthalten 1844/45 und 1848, sowie ausführlich der Rolle und Funktion von Essen und Kochen in den Briefen zwischen dem Ehepaar Lieber. Hier und andernorts erscheinen Schnurmanns sonst meist nachvollziehbare psychologische Interpretationen von Brieftexten ziemlich kühn.

Es gibt weitere Orientierungshilfen, etwa die drei „Leitthesen“:
1. „Von besonderer Bedeutung für Liebers wissenschaftlichen und beruflichen Werdegang sowie seine Rolle als atlantischer Broker“ seien nicht nur Gelehrte gewesen, mit denen er korrespondierte, sondern auch Verwandte und Freunde, vor allem deutsche Kaufleute, Unternehmer, Bankiers, Künstler, Plantagenbesitzer und deren Familien und Bekannte. Dies bedeute, dass auch deren Nachlässe und Egodokumente „in die Untersuchung und Rekonstruktion des atlantischen Briefnetzwerks Liebers einbezogen werden müssen […]“. (S. 31f.)

2. Das Netzwerk bestimme über Methodik und Inhalt der Wissensvermittlung, und diese wieder beeinflusse Form und Entwicklung des Korrespondenznetzwerks.

3. „Mathilde Lieber und ihrem Beitrag zu der Korrespondenz [kam] große Bedeutung und Wirkung zu“, was von der bisherigen Forschung nicht erkannt worden sei (S. 31f).

Und noch ein weiterer Wegweiser wird geboten. Im Zentrum der Studie stünden „die drei Kategorien Netzwerk, Briefgattungen und Wissen, die im Wirkungsraum Atlantik miteinander in Beziehung gesetzt werden.“ Deren Basis seien ausgesuchte Briefe (S. 36).

Wenn Beispiele für den Transfer wissenschaftlichen Inhalts beschrieben werden, geschieht das meist knapp und oft kritisch, wie im Fall der Beziehung zu Beaumont und Tocqueville hinsichtlich deren Berichts über amerikanische Gefängnisse (Du système pénitentiaire […], 1833). Lieber bot den beiden an, ihr Werk ins Englische zu übersetzen. In Briefen und auch öffentlich behauptete er bald, die Autoren hätten ihn gedrängt, die Übersetzung zu übernehmen. Damit nicht genug. Lieber bereicherte die Übersetzung durch eine große Zahl von auch sinnverändernden Zusätzen und „new documents“, er platzierte ohne Benehmen mit den Autoren seinen Artikel über das Gefängnissystem Pennsylvanias als Anhang in die amerikanische Version. In der Folge sprach und schrieb Lieber nur noch von „meinem Werk“.

Tatsächlich sein eigenes Werk war der Code 100, das im Bürgerkrieg entstandene Regelwerk für eine humane Kriegführung. Der Code wurde nicht nur im April 1863 vom Präsidenten für die U.S. Army verbindlich gemacht und fand weithin und jahrzehntelang Anerkennung, er bot auch ein Paradebeispiel für transatlantischen Wissensaustausch: Lieber konsultierte zahlreiche, vor allem juristische Werke, ältere und aktuelle von beiden Seiten des Atlantik, und er erbat und erhielt fachliche Auskünfte von den ausgewiesenen Juristen, mit denen er korrespondierte. So entstand ein Text voller transatlantischer Elemente, der seinerseits rasch den Ozean überquerte.

Am ausführlichsten ist die Darstellung des Austauschs mit dem renommierten Heidelberger Juraprofessor Franz Mittermaier. Liebers Korrespondenz mit ihm erstreckte sich über 30 Jahre und umfasste 140 Briefe, etwa ein Drittel davon, meist kurz, aus Heidelberg, der Rest, fast immer lang, von dem amerikanischen Neubürger. Dankenswerterweise hat Claudia Schnurmann einige lange Passagen daraus abgedruckt, und der vielfältige Inhalt – Recht, Politik, andere Wissenschaftszweige in Deutschland und den USA – wird so konkreter fassbar als bloße Paraphrasen es vermögen. Dasselbe gilt für den Austausch von Schriften von beiden Seiten des Atlantiks, von dem gleichfalls einige Seiten lang auch Titel und Preis abgedruckt sind.

Kaum weniger kontinenteverbindend war die von Lieber gerade ein Jahr nach seiner Übersiedlung (1827) in die USA gegründete Encyclopedia Americana, die anfänglich nur als Übersetzung der 7. Auflage des Brockhaus Conversations-Lexicons konzipiert war und tatsächlich viele Übersetzungen enthielt, aber bald auch prominente Amerikaner als Artikel-Verfasser anzog und schon 1833 mit Band 13 abgeschlossen war. Die Encyclopedia brachte Lieber rasch nationale Bekanntheit, aber trotz reißenden Absatzes verdiente daran hauptsächlich der Verlag.

Während Schnurmann offenkundig fasziniert ist von ihrem Protagonisten, hält sie doch eine deutliche Distanz und zeigt auch unsympathische Seiten. Sie zeiht ihn der Machoallüren und der Selbstinszenierung; manche seiner Briefe seien „voll ungebremster, gelegentlich befremdend arroganter Selbstüberschätzung“. Sie unterstellt ihm „Geltungsbedürfnis, brennende[n] Ehrgeiz und schwach entwickelte Neigung zur Selbstkritik“(S. 30f). In einem Brief an Charles Sumner bestätigte er diesen Eindruck voll und ganz: „I know that my work belongs to the list which begins with Aristotle […] Thomas More, Hobbes, Hugo Grotius, Puffendorf [sic]“ (S. 21). Auffällig, aber verständlich, ist, dass Liebers Gattin Mathilde von so gut wie jeder Kritik verschont bleibt. Schnurmann analysiert auch, wie Lieber – meist erfolgreich – Beziehungsfäden knüpfte, meist im eigenen beruflichen Interesse: mit einem guten Teil Aufdringlichkeit und Schmeichelei, aber vor allem Geschick und Einfühlungsvermögen.

Ein wenig störend und Hinweis auf eine gewisse Sorglosigkeit des Verlages oder wessen auch immer beim Korrekturlesen sind die zahlreichen Druckfehler, von denen die grammatikalischen am meisten irritieren: z.B. „einziges Mittel, dem Gefühlsüberschwang Herr zu werden“ (S. 397) oder „Anders wie von ihm öffentlich dargestellt […]“(S. 457).

Schnurmanns Aufspüren von Quellen an den unwahrscheinlichsten Orten, die Verarbeitung fast unüberschaubarer Materialmengen sowie das Entwirren und Entschlüsseln des extrem umfangreichen und komplexen Lieber-Netzwerks sind das kaum überschätzbare Verdienst dieses Werkes, aber auch die eng damit verbundenen Biographien, vor allem des Ehepaars Lieber, bringen bisher Unbeachtetes und spannende neue Erkenntnisse. Nicht immer einfach ist das Navigieren in dem unkonventionellen Aufbau des Werkes. Claudia Schnurmanns Buch verdient ungeachtet mancher Kritikpunkte große Anerkennung.

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