Titel
Die Welt der Encyclopédie.


Herausgeber
Selg, Anette; Wieland, Rainer
Erschienen
Frankfurt am Main 2001: Eichborn Verlag
Anzahl Seiten
486 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Wyrwa, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Kaum ein Intellektueller im Deutschland des ausgehenden 20. Jahrhunderts hat sich so vehement und nachdrücklich um die Philosophie der Aufklärung verdient gemacht wie Hans Magnus Enzensberger. Durch seine Überarbeitungen, Übersetzungen und Überschreibungen hat er einen neuen und frischen Zugang zu einer philosophischen Bewegung geschaffen, die hierzulande häufig in schlechtem Ruf stand. Von dem Verdikt der Romantik über die Verunglimpfung als Aufkläricht bis hin zur postmodernen Nachrede zieht sich ein Faden, dem zufolge die Aufklärung ein abgestandenes, seichtes, gefühlloses Denken ist, das von naivem Fortschrittsglauben geprägt sei und dem allein unverbesserliche Weltverbesserer, neudeutsch „Gutmenschen“ anhingen. Als hoffnungsloser Fall galt, wer noch vom Individuum sprach, wer als Kosmopolit sich betrachtete oder an den Intentionen der Aufklärung, dem Prinzip der Gleichheit, dem Gebot der Toleranz und individuellen Freiheitsrechten festhielt.

Umso spannender ist es, 250 Jahre nach seinem Erscheinen an einen Text wieder anzuknüpfen, der einst das Denken befreit und aus überlieferten eingefahrenen Gleisen herausgeführt hatte; umso verdienstvoller ist es, ein Buch neu zu präsentieren, das, wie es im Vorwort heißt, „die Welt neu denken wollte“: die Enzyklopädie von Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert.
In der von Hans Magnus Enzensberger begründeten „Anderen Bibliothek“ haben die beiden Literaturwissenschaftler Anette Selg und Rainer Wieland unter dem neugierig stimmenden Titel „Die Welt der Encyclopédie“ einen prachtvollen und großformatigen Band herausgegeben. Aus den 17.000 Artikeln der zwischen 1751 und 1772 erschienenen 28 Bänden haben sie knapp 400 Artikel ausgewählt und eine neue Übersetzung erstellen lassen beziehungsweise bereits vorliegende deutsche Fassungen überarbeitete. Es ging ihnen darum, wie sie in ihrem Vorwort schreiben, die ‚Encyclopédie’ freizulegen von Vereinnahmungen und Verklärungen, die 250 Jahre „Lorbeer, Tortenguß und Bibliotheksstaub“ hinwegzufegen und dieses Projekt als „Orakel“ auf dem Weg durch das 21. Jahrhundert zu gebrauchen. Die Herausgeber haben sich aber nicht damit zufrieden gegeben, eine neue Auswahl von Artikeln in neuer Übersetzung zu präsentieren, vielmehr haben sie 25 zeitgenössische Autoren gebeten, zu verschiedenen Stichwörtern neue Essays zu schreiben. Darüber hinaus haben sie den ganzen Band mit einer Unmenge von Zitaten, Sinnsprüchen und Merksätzen von Woody Allen bis Virginia Wolf überzogen, vorwiegend aus dem 20., zum Teil aus dem 19. Jahrhundert genommen, gelegentlich auch von Zeitgenossen der Enzyklopädisten, seltener von früheren Autoren. Angefügt ist ein Essay des amerikanischen Historikers Robert Darnton, Autor einer brillanten Studie über das verlegerische Unternehmen Enzyklopädie, den Abschluss bilden Texte von Diderot, der Prospekt der ‚Encyclopédie’, die zusammen mit d’Alembert verfasste Vorrede zum dritten Band und schließlich die Ankündigung der letzten Bände. So faszinierend das Projekt, die ‚Encyclopédie’ „neu zu denken“ auch ist, so prächtig diese Ausgabe auch gestaltet sein mag, das Resultat bleibt eher unbefriedigend. Nicht die Auswahl der Artikel weckt Unbehagen, nicht die Übersetzungen machen diese Edition problematisch, es ist die vordergründige Art der vermeintlichen Aktualisierung.

Aktualität hat die Enzyklopädie in ihrer Entdeckerfreude, in ihrer Respektlosigkeit und in ihrer Humanität ebenso wie in ihrer Bereitschaft, zu den Handwerkern zu gehen, und ihnen auf die Finger zu schauen. Brisanz haben die Beiträge insbesondere dann, wenn sie von individuellen Erlebnissen berichten oder subjektive Eindrücke schildern. Bedeutung für die Gegenwart hat die ‚Encyclopédie’ in den ironischen und sarkastischen Beiträgen, mit denen das vermeintlich ‚Heilige’ abgehandelt wird und schließlich sei auf die vielen faszinierenden Albernheiten und Späße hingewiesen, die die Autoren in das ganze Werk eingestreut haben. Angesichts dieser Aktualität wirkt die vordergründige Aktualisierung durch die Unmenge von teils prätentiösen, teils belanglosen, mitunter auch banalen Zitaten aus dem Zitatenschatz der Weltliteratur (häufig freilich aus früheren Bänden der ‚Anderen Bibliothek’ genommen), störend und ärgerlich. Auch die Notwendigkeit neuer Essays ist nicht unbedingt einleuchtend. Die Erkenntnis, dass in den letzten 250 Jahren „unglaubliche Entwicklungen“ vor sich gegangen sind, so im neuen Essay Physik zu lesen, ist so umstürzend nicht. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, dass einige der Essays in sich interessant und erhellend sind, aber für eine Aktualisierung der Enzyklopädie hätte es ihrer nicht bedurft.

Bedauerlich ist auch, dass vor allem das, was diese Enzyklopädie von anderen enzyklopädischen Wörterbüchern unterscheidet, in dieser Edition weitgehend verloren gegangen ist. Von dem „Stammbaum des menschlichen Wissens“, einem Kupferstich, der den logischen Aufbau und die innere Systematik der Enzyklopädie zeigt, ist lediglich ein kleiner, wenig aussagekräftiger Ausschnitt wiedergegeben, von der Stringenz, die etwa auch in dem umfangreichen System von Querverweisen zum Ausdruck kam, ist kaum mehr etwas übrig geblieben. Bedauerlicher ist auch, dass auf einen Abdruck ausgewählter Bildtafeln, die ein wesentliches Moment der Enzyklopädie ausmachen, verzichtet wurde.

Lediglich am Rande sei bemerkt, dass bei der Lektüre auch deshalb ein ungutes Gefühl entstanden sein mag, weil die Herausgeber in ihrem Vorwort betonen, sie wollten die Enzyklopädie auch von jenen Verklärungen freimachen, die daher rührten, dass dieses „unbändige Werk in kostbares Leder“ eingepackt wurde, gleichzeitig aber auf der gegenüberliegenden Seite auf die handgebundene und nummerierte Ganzlederausgabe dieser Edition verwiesen wird. Schließlich sei darauf hingewiesen, dass auch der viel versprechende Titel, „Die Welt der Encyclopédie“ kaum eingelöst wird, von den Erfahrungen und der Lebenswelt der Enzyklopädisten erfährt der Leser nichts.

Trotzdem bleibt es ein Verdienst, auf das Abenteuer der ‚Encyclopédie’ aufmerksam und einzelne der Stichwörter dieses faszinierenden Werkes neu zugänglich gemacht zu haben, sowie an eine Aufklärung anzuknüpfen, die vom Menschen ausging, jenem „sonderbaren Wesen, gemischt aus erhabenen Eigenschaften und beschämenden Schwächen“, eine Aufklärung, die zwar vom „Fortschritt der Vernunft“ sprach, dennoch aber skeptisch blieb und sich sehr wohl darüber im Klaren war, dass die Welt, wie Diderot in der Ankündigung der letzten Bände schrieb, sich nicht ändern werde. „Die Summe der schädlichen Leidenschaften bleibt sich immer gleich.“

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