G. Rühle: Theater in Deutschland 1945–1966

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Titel
Theater in Deutschland 1945–1966. Seine Ereignisse – seine Menschen


Autor(en)
Rühle, Günther
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: S. Fischer
Anzahl Seiten
1519 S.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manfred Brauneck, Hamburg

2014 legte Günther Rühle die Fortsetzung seiner Chronik des „Theaters in Deutschland“ vor, dessen erster Teil 2007 erschien und den Zeitraum von 1887 bis 1945 umfasst: das Kaiserreich, die Republik von Weimar und die Jahre der NS-Herrschaft.1 Sein neues Buch berichtet vom deutschen Theater in den Jahren von 1945 bis 1966, von jenen zwei Jahrzehnten also, in denen es nach den materiellen und geistigen Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs zunächst um die „Wiederherstellung und den Neuaufbau“ des deutschen Theaters ging aber auch um „Besinnung, neue Wertermittlung, neue politische Zielsetzung, Kontaktsuche in der Welt“ (S. 20). Mitte der 1960er-Jahre trat schließlich jene Generation von Bühnenkünstlern ab, die diesen Neuaufbau bewältigt, die „ihre Arbeit getan“ (S. 20) hatte, und eine neue Generation trat an. Rühle nennt sie die „Akteure der Zukunft“ (S. 1189). Allenfalls als Kinder oder Jugendliche hat diese Generation den Zweiten Weltkrieg noch erlebt, gehörte nicht mehr der Mitläufer- bzw. Tätergeneration an, mussten sich aber mit einer Welt auseinandersetzen, die in Ost und West geteilt war – gespalten das Land und auch das deutsche Theater, dieses freilich „wieder völlig intakt, […] geistig neu instrumentiert“ (S.21), im Westen wie im Osten Deutschlands.

Rühle nennt sein Buch eine „Biographie“ des Theaters (S. 19). Mit dieser eher ungewöhnlichen Genrebezeichnung nimmt er für sich offenbar eine gewisse Freiheit des Erzählens in Anspruch, eine Freiheit auch in der Bewertung der Ereignisse und der Menschen, der „treibenden Personen“ (S. 21), um die es ihm hauptsächlich geht – dies mitunter in einem ambitionierten sprachschöpferischen Duktus, bei dem die Bewertung der künstlerischen Leistung, gelegentlich auch die der Person, stets mitschwingt. Dies ist sein gutes Recht. Rühle schreibt aus der Position des engagierten Insiders, des versierten Kritikers und Publizisten, der die Welt des Theaters viele Jahre, von 1985 bis 1990 auch als Intendant des Frankfurter Schauspiels, schließlich als vielfach ausgezeichneter Ehrenpräsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste mitgestaltet hat, – jene Welt des deutschen Theaters, die ein Leben lang auch die Welt des Günther Rühle ist.

Berichtet wird in diesem Buch über ein Theater, dem noch zugemutet wurde, „moralische Anstalt“ zu sein; ein Ort auch, an dem die Menschen mit ihrer Geschichte konfrontiert wurden, an dem es um „geistige Erneuerung“ gehen sollte. Berichtet wird auch über eine Zeit, in der Lessings Traum eines „Nationaltheaters der Deutschen“ wieder in die (politische) Diskussion gebracht wurde, im Osten mehr als im Westen. Dergleichen Ansprüche hat – aus heutiger Sicht – die Postmoderne dem Theater freilich auszutreiben versucht. Doch davon handelt dieses Buch nicht mehr. Die „Akteure der Zukunft“ schufen zwar noch, wie Rühle schreibt, das „Theaterwunder der siebziger Jahre“ (S. 1188), bereiteten aber auch die radikalsten Veränderungen mit vor, die das deutsche Theater, das zwei Jahrhunderte lang eine Bastion bürgerlicher Selbstverständigung und Repräsentation war, je erfahren hat.

Günther Rühle gliedert sein Buch in drei große Kapitel, die dem Gang der politischen Zeitgeschichte folgen. Überschrieben sind sie: „Der Anfang im Ende 1945–1948. Tugenden der Not“ (S. 25–240), „Die Jahre der Trennung 1948–1961. Weimar – ein Zeichen?“ (S. 243–849) und „Im zermauerten Land 1961–1966“ (S. 853–1189). Diese Kapitel bilden jeweils den historischen Rahmen für eine Vielzahl kleiner, mit Zwischenüberschriften pointierter Berichte über Personen und Ereignisse. Es sind Überschriften wie: „Wo ist wer? – Wer ist wo?“ (S. 39), „Hilperts Hin und Her“ (S. 107), „Brecht zeigt, was eine Harke ist“ (S. 426), “Wer küsst Deutschland wach?“ (S. 788) oder „Eine Minna namens Käthe“ (S. 794) – kleine, mitunter witzige Überschriften also, die zum Lesen einladen, den Blickwinkel aber schon mal vorgeben. Das Inhaltsverzeichnis vermerkt Hunderte solcher Überschriften. Dies macht das umfängliche Buch (1519 Seiten) gut lesbar, ebenso der leichte, feuilletonistische, oftmals aber auch an Informationen überbordende Stil des Autors. So werden etwa alle Mitglieder des Ensembles einer Bühne oder alle Emigranten aufgezählt, die Deutschland in Richtung Westen oder Osten verlassen hatten, Erwähnung finden auch nahezu alle Rückkehrer. Einige wurden „gerufen“, manche sahen sich großen Vorbehalten gegenüber, insbesondere von den Amerikanern und den Engländern, und dies mit der fatalen Begründung: „[…] wer so lange fort war, (habe) ihnen und dem deutschen Volk nichts zu sagen“ (S. 51). Rühle jedoch vermutet zu Recht, dass die, die „von draußen nach Deutschland zurückkamen, […] klarer (sahen) und leichter die störenden Fragen“ stellten (S. 354). Den westlichen Besatzungsmächten mögen solche Fragen freilich nicht opportun gewesen sein.

Rühle rekonstruiert immer wieder einzelne Inszenierungen, erzählt den Lesern den Inhalt der Stücke – auch solcher, die heute kaum jemand noch kennt. Er kommentiert die Profilierung der Rollen durch den Regisseur oder die Darsteller, zitiert dazu oft noch Kritikerstimmen; der Berliner Großkritiker Friedrich Luft ist der am meisten zitierte. Theaterereignisse, ebenso die Zeitverhältnisse sollen „spürbar und nacherlebbar“ (S. 21) sein. Dem Autor gelingt dies immer wieder in bemerkenswerter Weise. Selten auch wurde so deutlich beschrieben, – heute mag dies kaum noch vorstellbar sein – wie dicht in diesen Jahrzehnten die Geschichte des deutschen Theaters mit der politischen Zeitgeschichte verwoben war. Der stetige Blickwechsel auf den Fortgang der Entwicklungen des Theaters im Westen und im Osten Deutschlands vermittelt gerade diese Perspektive eindringlich: Der von dem amerikanischen General Lucius D. Clay 1947 eingeleitete ideologische „Kreuzzug gegen den Kommunismus“ (S. 196), die Währungsreformen in West und Ost 1948 (die ein „Theatersterben“ auslösten: „In der Spielzeit 1949/50 waren von den 419 Theatern nur noch 49 Theater übrig“, S. 298), die Blockade Berlins noch im selben Jahr, 1949 die Gründung der beiden deutschen Staaten, schließlich der Mauerbau im August 1961 – dies waren zwar durchweg exzeptionelle politische Ereignisse, sie haben aber auch das Theater in Deutschland verändert, haben Zäsuren gesetzt und die Spielpläne „gespalten“. Seit 1949 gab es ein ostdeutsches und ein westdeutsches Theater. Noch ein paar Jahre existierte der Austausch von Schauspielern und Regisseuren zwischen den beiden deutschen Staaten. Das Publikum in Ost und West aber sei von einer „Habgier nach Kunst“ (S. 107) geradezu besessen gewesen, schreibt Rühle. Berichtet wird von „halbstündigem“, von „tosendem Applaus“, von „Tumult des Beifalls (S. 256), von „über 40 Vorhängen am Ende und viermal der eiserne“ (S. 592), von „Auftrittsapplaus“ und unvergleichbaren „Huldigungen nach 540 Vorstellungen“ (S. 751). Aus heutiger Sicht kann man nur mit Staunen registrieren, welche Emotionen das Theater in jenen Jahren beim Publikum offenbar auszulösen vermochte.

Nützlich ist auch die „Zeittafel“ (S. 1354–1438) am Ende der „Biographie“. Sie vermerkt vom 1. September 1944 bis Ende Dezember 1966 unzählige Ereignisse des Theaters und der Zeitgeschichte, beinahe Tag für Tag. Es folgt eine Übersicht über den „Neubau und Wiederaufbau“ 1945–1951 (S. 1439-1442) der deutschen Theater und eine Auflistung der Besetzung der Intendanzen in West- und Ostdeutschland: „Wer kam woher?“ (S. 1443–1448). Den Abschluss bildet ein „Verzeichnis der erwähnten Personen und Werke“ (S. 1449–1519). Mehr an Informationen kann der Leser wohl nicht erwarten.

Im Anhang werden die Quellen genannt (S. 1193–1211), die der Autor für sein Buch herangezogen hat. „Bevorzugt“ wurde die „unmittelbare Berichterstattung in den Zeitungen“ (S. 1193). Rühle hält diese Theaterkritiken – in den großen, überregionalen Zeitungen, weniger die in einigen „Regionalblättern in Ost und West“ – offensichtlich für die authentischsten Belege, um den künstlerischen Rang und die zeitgeschichtliche Bedeutung einer Aufführung festzustellen. Das Theater „erlebt“, dies ist Rühles Überzeugung, „seinen intensivsten Augenblick, wenn seine Arbeit auf die Öffentlichkeit trifft“ (S. 1193). Dem kann man an sich nur zustimmen. Es impliziert dies aber auch ein Prinzip der Darstellung: Die (Tages-)Berichterstattung wirft Schlaglichter auf einzelne Inszenierungen in den alten Theaterhochburgen (die zumeist auch die neuen sind) und bewertet diese, ebenso einzelne Karrieren; stellt die Leistungen der Regisseure in den Fokus, ebenso die der Darsteller. Immer wieder auch geht es um das Hin und Her prominenter Akteure, vornehmlich der Intendanten. Nie ist von Mittelmaß, kaum vom Spielbetrieb in der Provinz die Rede. Der Leser oder die Leserin erfährt, was sich in den Theaterzentren – an Highlights – ereignet hat. Dass Fritz Kortner das deutsche Theater noch 1948 in einem Brief an Kurt Hirschfeld als „erbarmungswürdig provinziell mit geringen Ausnahmen“ charakterisiert hat, ist aus dem Blickwinkel dieser „Biographie“ schwer nachzuvollziehen. Seltener thematisiert Rühle größere Zusammenhänge. Die kleinteilige Gliederung des Buches steht dem wohl eher im Wege. Vielfach wird auch aus Briefen oder Autobiographien von Regisseuren oder Schauspielern zitiert, gelegentlich gar eine ganze Passage aus einem Stück. Der Anschaulichkeit und dem Nach-Erleben ist solches Vorgehen aber durchaus dienlich.

In Österreich stehen das Wiener Burgtheater, ein paar Spielzeiten lang auch die Neue Skala, das „Russentheater“, fast ausschließlich im Blick; in der Schweiz ist es vor allem das Zürcher Schauspielhaus, das nach 1933 so vielen deutschen und österreichischen Emigranten zur künstlerischen Heimat geworden war. In Deutschland sind es die „traditionsstarken Bühnen von Berlin-Mitte […] das Deutsche Theater, seine Kammerspiele und die Volksbühne“ (S. 273), zumindest so lange Berlin als gesamtdeutsches Theaterzentrum wahrgenommen wurde – also bis Anfang der 1950er-Jahre. In der Bundesrepublik existiert seitdem ein „flutendes System wechselnder Bedeutung der Theater“, eine Art „Polyzentrismus“ (S. 274), der sich bis heute erhalten hat. Im Gegensatz zur DDR gab (und gibt) es in der BRD kein Staatstheater, das das ganze Land repräsentiert, vergleichbar dem Deutschen Theater in Ostberlin in diesen Jahrzehnten. Es waren dies aus Rühles Sicht offenbar aber auch jene Bühnen, an denen die „wegweisenden“ (S. 340) Personen tätig waren; an denen sich künstlerisch und/oder politisch Relevantes ereignete. Zu diesem methodischen Vorgehen wäre gewiss einiges zu sagen. Die zahlreichen wissenschaftlichen Arbeiten, die zu vielen dieser Themen längst erschienen sind, werden überwiegend links liegen gelassen. Über theaterästhetische, gar dramentheoretische Diskurse, wie sie in diesen Jahren lebhaft geführt wurden und das Theater dieser Jahrzehnte auch mitgeprägt haben, erfahren die Leserinnen und Leser kaum etwas.

Dennoch ist ein wunderbares und überaus informatives Buch über das Nachkriegstheater in Deutschland entstanden. Dies ist dem subjektivem Zugriff des Autors, dessen Eigenwilligkeit in mancher Bewertung aber auch der unstrittigen Kompetenz Günther Rühles und nicht zuletzt seinem ungebrochenem Glauben an die Kraft des Theaters zu verdanken. Über das, was sich auf den Bühnen der alten und der neuen Theaterzentren in den Jahren von 1945 bis 1966 ereignet hat und über die Menschen, die dies bewirkt haben, wird in keinem anderen Buch kompetenter und umfassender informiert als in dieser „Biographie“ des Theaters in Deutschland.

Anmerkung:
1 Günther Rühle, Theater in Deutschland 1887–1945. Seine Ereignisse – seine Menschen, Frankfurt am Main 2007, vgl. die Rezension von Christopher Balme in: H-Soz-Kult, 15.10.2008, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-9524> (28.12.2015).

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