Becker, Thomas P.; Schröder, Ute (Hrsg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer - Chronik - Bibliographie. Köln 2000 : Böhlau Verlag, ISBN 3-412-07700-3 381 S. € 39,90

Gassert, Philipp; Richter, Pavel A. (Hrsg.): 1968 in West Germany. A Guide to Sources and Literature of the Extra-Parliamentarian Opposition. Washington 1998 : German Historical Institute, ISBN *

: Die 68er-Bewegung. Deutschland, Westeuropa, USA. München 2001 : C.H. Beck Verlag, ISBN 3-406-47983-9 138 S. € 7,50

Holl, Kurt; Glunz, Claudia (Hrsg.): 1968 am Rhein. Satisfaction und Ruhender Verkehr. Köln 1998 : Verlag Joachim Schmidt von Schwind, ISBN 3-932050-11-8 312 S., 600 Abb. € 35,00

: Studentenbewegungen der 60er Jahre. Frankreich, BRD und USA im Vergleich. Wien 1998 : WUV - Universitätsverlag der Hochschülerschaft an der Universität Wien, ISBN 3-85114-378-7 312 S. € 14,50

: 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur. . Hamburg 2000 : Hamburger Edition, HIS Verlag, ISBN 3-930908-59-X 370 S. € 25,00

: Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969. Göttingen 1999 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 3-525-35795-8 412 S., 6 Abb. € 42,00

: Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany. Berkeley 2000 : University of California Press, ISBN 0-520-21138-3 26 s/w Abb., Register $ 19.95

Deutsche Schillergesellschaft (Hrsg.): Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv. Marbach 1998 : A. Francke Verlag, ISBN 3-929146-69-X 672 S., 220 Abb. € 20,45

Rosenberg, Rainer; Münz-Koenen, Inge; Boden, Petra (Hrsg.): Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft - Literatur - Medien. Berlin 2000 : Akademie Verlag, ISBN 3-05-003480-7 XIV, 351 S. € 49,80

: Um 1968. Die Repräsentation der Dinge. Marburg 1998 : Jonas Verlag für Kunst und Literatur, ISBN 3-89445-238-2 142 S., 95 Abb. € 15,00

Schubert, Venanz (Hrsg.): 1968. 30 Jahre danach. St. Ottilien 1999 : EOS Verlag (Erzabtei St. Ottilien), ISBN 3-88096-090-9 256 S. € 12,00

Schulenburg, Lutz (Hrsg.): Das Leben ändern, die Welt verändern!. 1968. Dokumentation und Bericht. Hamburg 1998 : Edition Nautilus / Verlag Lutz Schulenburg, ISBN 3-89401-289-7 480 S. € 20,80

Kermer, Wolfgang (Hrsg.): "1968" und Akademiereform. Von den Studentenunruhen zur Neuorganisation der Stuttgarter Akademie in den siebziger Jahren. Ostfildern 1999 : Hatje Cantz Verlag, ISBN 3-89322-446-7 260 S., 102 Abb. € 39,88

Teppe, Karl (Hrsg.): Westfälische Forschungen: Zeitschrift des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe. Band 48. Münster 1998 : Aschendorff Verlag, ISBN 3-402-09227-1 XIII, 881 S., 25 Abb. € 69,60

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Detlef Siegfried, Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg

Weite Räume, schneller Wandel. Neuere Literatur zur Sozial- und Kulturgeschichte der langen 60er Jahre in Westdeutschland

Noch vor wenigen Jahren schnurrten die 60er Jahre in der deutschen Geschichtskultur zumeist auf die Zeit “um 1968” zusammen. In der allgemeinen Wahrnehmung war es erst die Studentenbewegung, die einer vergangenheitsgebundenen und lethargischen westdeutschen Gesellschaft neues Leben einhauchte oder — aus einer anderen Perspektive — die neugewonnene Stabilität gefährdete. Bei einer Sichtung der neueren Literatur fällt auf, dass eine Fixierung auf das Datum 1968 nach wie vor dominiert, aber doch inzwischen ergänzt wird durch einen stärker werdenden Forschungsstrom, der sich den 60er Jahren in einer erweiterten zeitlichen Perspektive zuwendet. Schon vor längerer Zeit haben einzelne Autoren auf den eigenständigen Charakter des Jahrzehnts hingewiesen, in dem nicht nur, wie der Begriff “Studentenbewegung” suggeriert, ein Teil der jungen Generation in Bewegung geriet. Vielmehr befand sich eine ganze “Gesellschaft im Aufbruch”.1 Doch erst vor wenigen Jahren, um 1998, wurde in einer breiteren Linie das Bemühen sichtbar, 1968 zu historisieren. Dreißig Jahre nach dem “Annus mirabilis” war der Abstand groß genug, sich diesem Gegenstand auch wissenschaftlich zu nähern.2 Der Streit, der um 1968 und seine Akteure in der westdeutschen, dann auch in der gesamtdeutschen Geschichtskultur immer wieder aufgeflackert war, hatte gezeigt, wie wenig abgesichert die Deutungen dieses Phänomens nach wie vor waren. Der Begriff “1968” hatte sich als Unschärfeformel zur suggestiven Vereinheitlichung eines schwer fassbaren Gemeinsamen entpuppt. Als wissenschaftliche Kategorie hingegen war und ist er kaum zu gebrauchen.
Der um 1998 einsetzende Historisierungsschub kam aus verschiedenen Richtungen: Zunächst sollte “1968” als historisches Ereignis in seiner internationalen Dimension vergleichend untersucht werden — so der Ansatz einer Berliner Tagung des Deutschen Historischen Instituts Washington von 1996 und, ergänzt durch den Zugriff über eine analytische Kategorie, einer Bielefelder Tagung von 1997. Die Ergebnisse beider Tagungen lagen bereits 1998 in gedruckter Form vor.3 Andere versuchten das Datum zu historisieren, indem sie aus einer längeren zeitgeschichtlichen Perspektive nach Einschnitten und Transformationsmechanismen fragten. Eine Konferenz der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg und der Universität Kopenhagen von 1998 erkundete — eingebettet in einen deutsch-deutschen Bezugsrahmen — die dynamischen Folgewirkungen der “Modernisierung im Wiederaufbau” und umriss ein eigenständiges Profil der 60er Jahre.4 Eine Tagung des Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte in Münster von 2000 knüpfte an die dortigen Projekte zur regionalen Gesellschaftsgeschichte an, die den Zeitraum zwischen 1930 und 1960 umfassen, um den Stellenwert der 60er Jahre in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte zu ermitteln.5 Wie schnell die Forschung auf diesen Historisierungsschub bereits jetzt reagiert, zeigt sich etwa daran, dass inzwischen weitere Konferenzen stattgefunden haben, die nun bereits nicht mehr die Entwicklungen der gesamten Dekade in den Blick nehmen, sondern einzelne Aspekte näher untersuchen.6 Großflächige theoretische Zugriffe treten zunehmend zurück zugunsten einer empirischen Rekonstruktion von Ereignissen und Strukturen, synchronen und diachronen Zusammenhängen. Eine stärkere Hinwendung zum Konkreten signalisiert auch die Tatsache, dass sich unter den neueren Veröffentlichungen eine beträchtliche Anzahl von Dokumentationen sowie Quellen- und Archivführer finden. Insgesamt wird deutlich, dass sich der Blick auf “1968” in drei Richtungen signifikant erweitert hat: durch die Einbettung in einen internationalen Kontext, die eine genauere Bestimmung des Verhältnisses von transnationalen Bedingungsfaktoren und nationalen Spezifika ermöglicht, durch Regionalisierung, die eine Differenzierung unterhalb der nationalen Ebene ermöglicht, und schließlich durch die Einbettung in längere zeitliche Entwicklungslinien, die überhaupt erst eine Antwort auf die Fragen ermöglicht, wie es in den materiell besser gestellten Nachkriegsgesellschaften zu derartigen Protestbewegungen kommen konnte und in welchem Verhältnis diese Bewegungen zur Entwicklung der Gesamtgesellschaften standen.

Vorliegender Literaturbericht soll einige neuere Veröffentlichungen zur Sozial- und Kulturgeschichte der 60er Jahre vorstellen, die zwischen 1998 und 2001 erschienen sind.7 Aus zeitgeschichtlicher Perspektive spricht vieles dafür, die Dekade etwas weiter zu definieren und die „langen“ 60er Jahre zwischen etwa 1959 und 1973 in den Blick zu nehmen.8 Dass unter den besprochenen Publikationen diejenigen, die auf “1968” fokussiert sind, das Gros ausmachen, widerspiegelt noch die augenblickliche — allerdings im Wandel begriffene — Forschungslage. Es fällt auf, dass die meisten Publikationen unter dem Label “1968” alle möglichen “progressiven” Tendenzen des langen Jahrzehnts zusammenfassen, so dass die zeitliche Perspektive oftmals sehr viel weiter spannt als angesichts der Titel vermutet werden kann. In dieser Chiffre verdichten sich Entwicklungen, die bereits lange zuvor begannen, weit darüber hinaus ausstrahlten und mehrdeutiger waren als das Label suggeriert. Stärker als bisher hat die diesbezügliche Forschung die Kontexte und Entstehungsfaktoren als eigenwertige Gegenstände thematisiert, so dass die Literatur über “1968” inzwischen bereits zahlreiche Anhaltspunkte für sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte der 60er Jahre bietet, die mit der “Studentenbewegung” nicht unbedingt etwas zu tun hatten.

Während die materiellen, politischen und kulturellen Spielräume der Westdeutschen in den 50er Jahren noch verhältnismäßig eng waren und nach einer enormen Erweiterung ab der Mitte der 70er Jahre wiederum enger wurden, eröffneten sich ihnen in der dazwischenliegenden Dekade scheinbar unbegrenzte Horizonte, so dass schon die Zeitgenossen von “goldenen Jahren” sprachen.9 Sie hoben sich insbesondere deshalb so scharf von der vorangegangenen Zeit ab, weil seit den späten 50er Jahren die situative Evidenz der “Kriegsfolgengesellschaft” zurücktrat und die grundlegenden Muster der politischen Kultur und der Lebensstile umbrachen.10 Allerdings verflüchtigte sich die “Tiefenprägung” der deutschen Gesellschaft durch Traditionalismus und akute Gewalterfahrungen zunächst keineswegs. Sie imprägnierte die kollektiven Vergangenheitsdeutungen und Gegenwartswahrnehmungen, wurde dann aber immer stärker überlagert von Besserstellungs- und Liberalisierungsschüben. In wirtschaftlicher Hinsicht konnten die Zeitgenossen ab dem letzten Drittel der 50er Jahre vom vorangegangenen Aufschwung profitieren. Er schlug sich in einer verlässlichen Absicherung der Existenzgrundlagen nieder — Wohnung und Nahrungsmittelversorgung, Alterssicherung, Vollbeschäftigung. Weil die materiellen Grundlagen weitgehend stabilisiert waren, entstanden Freiräume, die für nicht unmittelbar existenzsichernde Interessen genutzt werden konnten. Die Zunahme der Freizeitbudgets wurde begleitet von einer Explosion an Angeboten zur Freizeitnutzung: Fernsehen, Automobilisierung und Tourismus lieferten die materielle Basis. Hinzu kam, dass sich auch die Arbeitsverhältnisse wandelten und der tertiäre Sektor gegenüber der Industrie, vor allem aber im Verhältnis zur Landwirtschaft an Bedeutung gewann. Heranwachsenden aus unterprivilegierten Schichten versprach die Bildungsreform verbesserte Möglichkeiten der Aneignung “kulturellen Kapitals” und damit des sozialen Aufstiegs. Auf der politischen Ebene sorgte der Übergang vom konservativen Traditionalismus über eine konservative Modernisierung hin zu einer sozialliberalen Modernisierung für die Erweiterung der Spielräume.11 In diesem politischen Modernisierungsvorgang trugen die Integrationsbemühungen der Westalliierten, die Abschottung nach Osten und die massenmediale Erfassung dazu bei, dass sich die Aktionsräume und geistigen Horizonte der Bundesbürger hauptsächlich nach Westen hin erstreckten.12 Gleichzeitig erleichterte die Deeskalation des Kalten Krieges eine innere Liberalisierung der Gesellschaft. In dieser Umbruchsituation hin zu einer “postindustriellen” Gesellschaft begann jener “Wertewandel”, der in den 70er und 80er Jahren sowohl manche Verhaltensstandards als auch das kollektive Selbstbild der Bundesbürger veränderte.13 Die Ausdehnung der Möglichkeitshorizonte stand in einem dynamischen Wechselverhältnis mit der Ausdehnung der Erwartungshorizonte: Mit der Nutzung der neuen Spielräume durch die sozialen Akteure entstanden sogleich Zukunftshoffnungen und Reformerwartungen, die das besondere Aufbruchklima der Zeit prägten. Diese Phase endete, als die wirtschaftlichen, ökologischen und politischen „Grenzen des Wachstums“ erreicht wurden.14

Gleichwohl vollzogen sich die Prozesse der Diversifizierung, Enttraditionalisierung und Individualisierung nicht in einem freien Raum, sondern innerhalb eines flexiblen Rahmens, der durch Klassen- und Schichtenzugehörigkeit, Geschlecht, Milieubindungen, Kriegs- und Migrationserfahrungen etc. geformt war. Auch weil dieser Rahmen zwar in Grenzen variabel, aber keineswegs beliebig veränderbar war, kann die Sozial- und Kulturgeschichte der 60er Jahre nicht als ungebrochene Modernisierungsgeschichte gesehen werden. Noch in der zweiten Hälfte der 60er Jahre waren traditionalistische Haltungen weit verbreitet – nicht zuletzt, weil die Gesellschaft sich immer stärker und schneller von den ihnen zugrunde liegenden Normen verabschiedete. Sie behinderten den gesellschaftlichen Wandel teilweise erheblich, gerieten allerdings auch immer mehr unter Druck. So signalisierte etwa der Aufstieg der NPD, dass es in einem nicht unerheblichen Teil der Bevölkerung im Laufe des Jahrzehnts zu einer Radikalisierung kam, die sich gegen die politische und kulturelle Verwestlichung und den schnellen Wandel moralischer Normen richtete. Die existentialistische Schärfe, die die Auseinandersetzungen der 60er und frühen 70er Jahre oftmals annahmen, rührte auch aus der Unsicherheit vieler Akteure über die Substanz der westdeutschen Demokratie und die Standfestigkeit ihrer Bürger.

1. Pfade in die Sozial- und Kulturgeschichte der 60er Jahre

Eine Reihe von jüngst erschienenen Publikationen widmet sich Fragestellungen, die nicht in jedem Falle zentral auf die 60er Jahre bezogen sind, aber doch das beschleunigte Transformationstempo am Dekadenwechsel aufspüren und damit ein wesentliches Charakteristikum der Zeit herausarbeiten: den raschen und tiefgehenden gesellschaftlichen Wandel, der nicht erst das Ende des Jahrzehnts, sondern bereits die Jahre zwischen 1958 und 1963 kennzeichnete. Dies gilt etwa für zwei sehr unterschiedliche Arbeiten, deren Erkenntniswert für die Erschließung der fraglichen Dekade hier skizziert werden soll.15 Während Uta G. Poigers Arbeit über Amerikanisierungstendenzen in den Jugendkulturen der beiden deutschen Staaten sich auf die Jahre des Übergangs konzentriert,16 umgreift Christine von Oertzens Studie zur Entwicklung der Teilzeitarbeit explizit die 50er und 60er Jahre und verfolgt damit Transformationstendenzen in einer längeren Linie.17 Oft sind die “Halbstarken” der späten 50er Jahre als eine Art Vorgänger der aufrührerischen Studenten von 1968 angesehen worden. Von anderem sozialen Zuschnitt zwar, mit anderen Stilen, aber doch einig in der Rebellion gegen ein fest gefügtes kulturelles Normensystem. Poigers Studie zeigt nun, dass es eine Konfrontation der Stile durchaus gab, dass Lederjacken, Elvistolle, feminisierte Männer und maskulinisierte Frauen die traditionellen Normen und Werte tatsächlich fundamental attackierten, dass jedoch die politische Klasse der Bundesrepublik auf die Herausforderung keineswegs konfrontativ, sondern sogar außerordentlich flexibel reagierte. Fokussiert auf die Jahre etwa zwischen 1955 und 1959, mit einer regionalen Konzentration auf die noch nicht durch eine Mauer geteilte ehemalige Reichshauptstadt, unternimmt Poiger eine Expedition in die Tiefen der Wertewelten nicht nur der West-, sondern auch der Ostdeutschen. Ihre Arbeit unterscheidet sich von den bisherigen Studien, aus denen viel über die “Halbstarken” und die Amerikawahrnehmung westdeutscher Jugendlicher zu lernen war, vor allem dadurch, dass sie nun auch die DDR mit einbezieht und dadurch zu einer Vielzahl neuer Einsichten auch im Hinblick auf die westdeutschen Verhältnisse kommt. Gerade wegen der konsequenten Durchführung der doppelten Perspektive handelt es sich um eine kulturgeschichtliche Pionierstudie. Poiger geht der Frage nach, inwiefern sich in den amerikabezogenen, mit Jazz und Rock ‘n’ Roll verbundenen Verhaltensweisen junger Deutscher Veränderungen in den Geschlechterverhältnissen und in „rassischen“ Affinitäten ankündigten und wie diese Praktiken im öffentlichen Diskurs verhandelt wurden. Im positiven Bezug auf schwarze Musiker sahen Kritiker eine unerwünschte Verwischung der Rassengrenzen, in hüftschwingenden Jungs und hosentragenden Mädchen eine gefährliche Auflösung der Geschlechterdistinktionen. Nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik stand man den kulturellen Angeboten aus den USA mit beträchtlicher Skepsis gegenüber und suchte ihren Einfluss durch die Förderung traditionaler Massenkulturen einzudämmen. In beiden Staaten wurde die Adaption amerikanischer Jugendkulturen durch deutsche Jugendliche zunächst als politische Stellungnahme gedeutet: im Westen als Protest gegen die Gesellschaft, im Osten als Parteinahme für den imperialistischen Westen. Während die politisch Verantwortlichen in der DDR an dieser Position im Prinzip festhielten und erst spät und immer notgedrungen fein dosierte Spielräume zugestanden, so erkannten die Opinion leader im Westen bereits frühzeitig, dass sich westliche Kultur als Waffe im Kalten Krieg einsetzen ließ und zwangen sich zu einer toleranten Haltung. Die entscheidenden Wegbereiter dieser Wende sieht Poiger in den “Cold War liberals”, Politikern und Meinungsführern wie Ludwig Erhard oder Helmut Schelsky, die sich vom traditionellen Kulturpessimismus dadurch unterschieden, dass sie die Lokomotive des Fortschritts nicht aufhalten, sondern sich als Lokomotivführer betätigen und die Richtung bestimmen wollten. Sicherlich kann man darüber streiten, ob diese Personen als “liberal” treffend gekennzeichnet sind — Verteidigungsminister Franz Josef Strauß etwa müsste hier wohl auch einbezogen werden, denn er bemühte sich eingehend darum, der eben gegründeten Bundeswehr den Jazz nahe zubringen, mit der Begründung, dass dieser eine gemeinschaftsbildende Kraft besäße und im übrigen von den totalitären Systemen Nationalsozialismus und SED-Diktatur abgelehnt würde. An der Haltung von Strauß zeigt sich, worüber am Ende der 50er Jahre weitgehende Einigkeit bestand: Während der Osten, in einem Boot mit dem Nationalsozialismus, westliche Kultur verbot, war die Bundesrepublik so frei, auch deren gelegentliche Übertreibungen gelassen zu ertragen. An der Tatsache, dass gerade nicht die fortschrittlicheren Sozialdemokraten, sondern Modernisierer des Konservatismus die Wende zu einer unaufgeregten Haltung gegenüber den Konsumgewohnheiten junger Leute einleiteten, zeigt sich überdeutlich, wie stark der Druck des gesellschaftlichen Wandels bereits geworden war und wie geschmeidig sich die Kraft des Konsums als Kampfmittel im Kalten Krieg verwenden ließ — zur Integration der eigenen Bevölkerung und zur Abgrenzung vom Osten. Poiger zeigt sehr überzeugend, dass dies gelang, weil die westdeutschen Meinungsführer Jazz und Rock ‘n’ Roll “depolitisierten” und zu einem harmlosen Privatvergnügen junger Leute umdeuteten. Allerdings machte gerade die absichtsvolle Depolitisierung der jugendlichen Stile evident, dass Konsum ein politischer Faktor war und blieb. Auch bedeutete die politische Instrumentalisierung der Konsumkultur durch manche westdeutschen Meinungsführer keineswegs, dass auch Volkes Stimme zum kulturellen Eigensinn Jugendlicher künftig schwieg. Vielmehr war diese Front, wie sich dann im weiteren Verlauf der 60er Jahre zeigen sollte, keineswegs pazifiziert. Und schließlich trieben die Sozialwissenschaftler ihre demonstrative Unaufgeregtheit so weit, dass sie noch unmittelbar am Vorabend der Studentenunruhen von einer reibungslosen Einpassung der jungen Generation in die gesellschaftliche Norm sprachen und damit die unübersehbaren Anzeichen für die Ausbreitung jener Subkulturen ignorierten, die kurz darauf als Agenturen des Umbruchs von sich reden machten. Der Mangel an Prognosefähigkeit, den viele Zeitgenossen nach 1968 der westdeutschen Sozialwissenschaft bescheinigten, wird vor dem Hintergrund von Uta Poigers Untersuchungsergebnissen überhaupt erst verständlich.

In geschlechtergeschichtlicher Perspektive gelten bislang weniger die 60er, sondern mehr die 70er Jahre als eigentliche Um- und Aufbruchzeit. Die Auseinandersetzung um den § 218, die Entstehung einer autonomen Frauenbewegung, die Reform des Ehe- und Familienrechts in der zweiten Hälfte der 70er Jahre — all dies legt eine derartige Sicht nahe. Direkter als viele andere Wandlungsprozesse wird dieser Umbruch unmittelbar auf die Impulse von 1968 bezogen, als nämlich Frauen in der Studentenbewegung die politischen Aspekte der privaten Lebensverhältnisse in den Vordergrund rückten und damit die Reproduktion der klassischen Rollenverteilung durch ihre männlichen Genossen attackierten. Die Ergebnisse von Christine von Oertzens akribischer Studie geben Anlass, dieses Bild deutlich zu differenzieren. Denn die Veränderung weiblicher Arbeitsverhältnisse in den 60er Jahren deutet darauf hin, dass sich die feministische Bewegung der darauf folgenden Dekade weniger vor dem Hintergrund fest zementierter Geschlechterverhältnisse herausbildete, sondern ihre Durchschlagkraft gerade deshalb gewann, weil ein Emanzipationsprozess von Frauen auf wichtigen gesellschaftlichen Feldern bereits in vollem Gang war, allerdings auch an seine Grenzen stieß.

Es gehört zu den Legenden über die angeblich so “bleiernen” 50er Jahre, dass Frauen an Heim und Herd gefesselt worden seien. Tatsächlich war die gesellschaftliche Wirklichkeit auch auf diesem Gebiet vielfältiger als das konservative Ideal von der Alleinernährerfamilie es gerne gehabt hätte. Frauen waren immer erwerbstätig, teils als Vollzeitarbeitskräfte, mehr aber stundenweise, oft nach Tätigkeit und Arbeitszeit wechselnd, vor allem mit dem einen Ziel: Existenzsicherung und Kinderbetreuung unter einen Hut zu bekommen. Weil jedoch die Berufstätigkeit verheirateter Frauen den allgemein üblichen Geschlechterstereotypen nicht entsprach, sondern vermeintlich Rückschlüsse auf den Zustand der familiären Finanzen zuließ und damit die Leistungsfähigkeit des männlichen Ernährers infrage stellte, sollte sie am besten so unscheinbar wie möglich vonstatten gehen. Christine von Oertzen untersucht die Entwicklung der Teilzeitarbeit als derjenigen Arbeitsform, die für Ehefrauen und Mütter typisch war, um der Frage nachzugehen, wie Frauenarbeit in der Bundesrepublik gesellschaftsfähig wurde. Sie zeigt, dass dies um die Mitte der 60er Jahre schließlich der Fall war. Dabei handelte es sich um einen sehr weitgehenden Bruch mit gesellschaftlichen Konventionen, denn seit dem Ende des 19. Jahrhunderts herrschte ein allgemeiner Konsens darüber, dass außerhäusliche Erwerbsarbeit für verheiratete Frauen kein erstrebenswerter Zustand sei, sondern lediglich aus Gründen materieller Not akzeptiert werden könne. Materielle Not war nach dem Zweiten Weltkrieg allgegenwärtig, und daher wurde die weit verbreitete weibliche Erwerbsarbeit als Ausnahme von der Norm akzeptiert — immer mit dem Ziel, bei Besserstellung wieder davon abzulassen. Und tatsächlich änderten sich die Verhältnisse mit dem “Wirtschaftswunder”, allerdings letztlich in einer anderen Richtung als erhofft. In der Mitte der 50er Jahre wollten viele Unternehmen verkürzte Arbeitszeiten einführen, um mit ihrer Hilfe den zunehmenden Arbeitskräftebedarf zu decken. Denn dadurch waren verheiratete Frauen und Mütter zu mobilisieren, die auf diese Weise Berufstätigkeit und Familienarbeit miteinander vereinbaren konnten. Dem widersetzten sich jedoch Frauenverbände und Gewerkschaften, die ganz in traditionellen Bahnen dachten und in der Teilzeitarbeit lediglich eine Möglichkeit sahen, bereits Vollzeit arbeitenden Frauen zu mehr Zeit für die Familienarbeit zu verhelfen. Gegen derartige Widerstände wurde seit 1958 Teilzeitarbeit zunehmend eingeführt und schließlich mehr und mehr auch gesellschaftlich akzeptiert. Der Arbeitskräftebedarf der Wirtschaft trieb die Eingliederung von Frauen in den Arbeitsprozess wohl voran, jedoch bedingte er ihn keineswegs allein. Vielmehr handelte es sich um einen komplizierteren Aushandlungsprozess, in dem sehr viele Faktoren eine Rolle spielten — nicht zuletzt die verheirateten Frauen selbst, die mit ihrer Entscheidung für die Teilzeitarbeit schließlich auch die widerstrebenden Gewerkschaften zur Revision ihrer Positionen bewegten. Die SPD hingegen förderte schon früh, unmittelbar in der Nachfolge der pragmatischen Wende von Godesberg, die Teilzeitarbeit für “Hausfrauen” und setzte damit in der Folgezeit die CDU beträchtlich unter Druck, deren geschlechterpolitischer Traditionalismus immer mehr hinter den sozialen Realitäten zurückblieb. Schon in den frühen 60er Jahren war es nicht mehr materielle Notwendigkeit allein, die verheiratete Frauen und Mütter an einen außerhäuslichen Arbeitsplatz zwang — auch wenn dies von den Betroffenen aus Akzeptanzgründen immer wieder als Begründung angeführt wurde. An die Stelle der blanken Not trat als Motiv die “Lust am Zuverdienen” — eine schillernde Kennzeichnung, mit der von Oertzen eine ganze Reihe von Motiven einfängt: die partielle Loslösung von rein materiellen Aspekten ebenso wie den “Eigensinn”, mit dem Frauen ihre Entscheidung trafen und durchsetzten, das Moment der individuellen Selbstentfaltung ebenso wie die Befriedigung durch das selbstverdiente Geld und die außerhäusliche soziale Einbindung, die die Arbeitsverhältnisse vieler Frauen kennzeichnete — selbst wenn es sich um Fließbandarbeit handelte. Dies alles kann die Autorin so überzeugend zeigen, weil die Fragestellung aus der Perspektive der Geschlechtergeschichte alle gesellschaftlichen Sphären berührt. Untersucht werden nicht nur die Veränderungen auf dem Arbeitsmarkt und die Debatten in Parteien, Gewerkschaften und Verwaltungen. Um die Etablierung der Teilzeitarbeit in der Praxis so genau wie möglich zu erkunden, richtet die Autorin ihr Untersuchungsobjektiv auch auf einzelne Betriebe und Individuen. An den Beispielen Blaupunkt in Salzgitter und Bahlsen in Hannover wird die Ein- und Umstellung auf Teilzeitarbeit in der betrieblichen Praxis untersucht, und Interviews mit früheren Teilzeitarbeiterinnen erlauben tiefe Einblicke in die lebensgeschichtliche Bedeutung der Arbeitsaufnahme, aber auch in die innerfamiliären Problemlagen, denn oft genug musste diese Entscheidung gegen unwillige Ehegatten durchgesetzt werden. In der Familie, aber auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene wurde Teilzeitarbeit schließlich auch nur deshalb akzeptiert, weil es sich um einen Kompromiss handelte. Während verheirateten Frauen und Müttern damit grundsätzlich ein Recht auf außerhäusliche Erwerbsarbeit eingeräumt wurde, blieb doch die Geschlechterhierarchie prinzipiell unangetastet: der Ehemann behielt seinen Status als Hauptverdiener und selbstverständlich durfte die Gattin nur arbeiten gehen, wenn die ordnungsgemäße Haushaltsführung nicht darunter litt.

Es ist schon auffällig, dass die Debatten der 70er Jahre allgemein als zentrale Drehpunkte für die Emanzipation von Frauen angesehen werden, während die nicht weniger spektakulären Diskussionen um Frauenarbeit in den 60er Jahren hingegen in ihrer Bedeutung bislang völlig unterbewertet blieben. Dies hat natürlich auch damit zu tun, dass aus dem Blickwinkel der Gleichstellung die Nachteile des Teilzeitkompromisses kaum zu übersehen waren. Christine von Oertzen hat mit ihrer vorzüglichen Studie nicht nur eine Forschungslücke geschlossen, sondern auch gezeigt, dass die Durchsetzung der Teilzeitarbeit als gesellschaftliche Norm keineswegs auf die Zementierung der Geschlechterhierarchie reduziert werden kann, sondern einen erheblichen geschlechterpolitischen Wandel bedeutete.

2. Wandlungsprozesse in Wissenschaft und Alltagskultur

Einen alltagskulturellen Ansatz für die Interpretation der 60er Jahre bietet der anregende, von Wolfgang Ruppert herausgegebene Band zur „Repräsentation der Dinge“ an.18 Hier operationalisiert der Herausgeber für die 60er Jahre sein bereits anderenorts umrissenes Konzept, in den Artefakten des Alltags “Chiffren” zeitgenössischer Lebenswelten zu sehen. Damit wird eine Dimension erschlossen, die ansonsten eher verborgen bleibt. Vier Detailstudien präsentieren Objekte, die als “dingliche Spuren” (S. 8) zeitgenössischer Sozialkultur interpretiert werden: Plakat, Stereoanlage, Fernsehgerät und modische Kleidung. Der Blick auf die profanen Dinge des Alltags macht deutlicher als viele Studien zu den politischen Aspekten der Studentenbewegung, in welch starkem Maße die Akteure dieser Bewegung in die kulturellen Entwicklungstendenzen ihrer Zeit eingebunden waren, wie stark auch Kritiker der Konsumgesellschaft an der innovativen Kraft der Konsumindustrie partizipierten. Besonders überzeugend gelingt dies Stefan Gauß in seinem Aufsatz über die “Stereoanlage als kulturelle Erfahrung”.19 In einem weiten Zugriff umreißt er die Geschichte der Stereoanlage, die Verbesserungen in der technischen Wiedergabequalität, den Weg des Qualitätslabels “High Fidelity” von der Erfindung zur allgemeingültigen Norm für Hörgenuss, seine Vermarktung zunächst insbesondere für ein männliches und sozial bessergestelltes Publikum, aber auch die allmähliche soziale Egalisierung, die im Niedergang der ausladenden Musiktruhe, Eiche rustikal, und im Aufstieg der schlichten Bausteinelemente etwa aus dem Hause Braun sichtbar wurde. An der Stereoanlage zeigt sich exemplarisch, wie sich “um 1968”, und zwar auf internationaler Ebene, eine bestimmte Art der Musikproduktion, -reproduktion und -konsumtion zu einem sehr wesentlichen Faktor generationeller Identität entwickelte. Der Herausgeber selbst bettet die spezifische “Repräsentation” der 60er-Jahre-Dinge — kulturelle Bedeutungen, die den materiellen Artefakten eingeschrieben sind — in die explosionsartige Ausweitung des Massenkonsums seit den späten 50er Jahren ein, arbeitet die stark von Herbert Marcuse inspirierte Kritik vieler junger Intellektueller an der Konsumgesellschaft heraus und fragt nach der Praxis der sozialen Akteure im Umgang mit den Gegenständen der materiellen Kultur.20 Die Kommune I, wenn auch keineswegs repräsentativ für die Wohnform damaliger Studierender, machte es vor: Plattenspieler und Fernseher im Dauerbetrieb, Filmplakate an der Wand und am Weihnachtsabend ein ausschweifendes Festmahl, zu dem die Rolling Stones den zeitgemäßen Sound lieferten. Lange Haare, Parka, Afghanenmantel, Cordjeans, Drogen — auch dies zeitgenössische Elemente einer materiellen Kultur, die in jeweils individuellen Mischungen mit anderen “Dingen” zur präzisen Markierung des jeweiligen Oppositionsgrades herangezogen werden konnten.

Der Blick auf einzelne Institutionen und Wissenschaftsdisziplinen hat das Bild von den Entstehungszusammenhängen, Verläufen und Folgewirkungen von “1968” erheblich differenziert. Was die Institutionen betrifft, so konzentrierte sich das Interesse bislang auf jene Bereiche, die von der Studentenbewegung besonders stark beeinflusst wurden — die Hochschulen, insbesondere ihre geistes- und sozialwissenschaftlichen Fachbereiche. Dass sich daran bis heute noch nicht viel geändert hat, zeigen zwei Publikationen, die sich mit der Entwicklung der Germanistik und in den Bildenden Künsten beschäftigen. Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen und Petra Boden haben einen Sammelband vorgelegt, der, mit dem Fokus auf die Entwicklung der Literaturwissenschaft, sehr viel mehr Aspekte berücksichtigt als zumeist üblich.21 Sie gehen der Frage nach, inwieweit „1968“ als “wissenschaftsgeschichtliche Zäsur” angesehen werden kann und verfolgen sie aus drei Perspektiven. Im ersten Schritt richtet sich der Blick nach Westen, um transnationale Elemente der Protestbewegungen in Westeuropa und den USA herauszuarbeiten. In einem zweiten Abschnitt werden Entwicklungstendenzen in der Literaturwissenschaft in West- und Ostdeutschland untersucht, im dritten schließlich über Literatur und Medien in der DDR berichtet — mit einem kurzen Seitenblick auch auf die Tschechoslowakei. Exemplarisch für viele andere Publikationen demonstriert dieser Band, wie unter dem Catchword „1968“ zunehmend lange Transformationsprozesse gefasst werden, die sich über viele Jahre erstreckten. So werden etwa die Untersuchungen zur Entwicklung der Literaturwissenschaft explizit auf die “sechziger und siebziger Jahre” ausgedehnt. Rosenberg und Boden umgreifen in ihren Aufsätzen die gesamten — langen — 60er Jahre als “Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft”, und zwar im Hinblick auf die theoretische und die praktische Entwicklung des Faches.22 Die beiden komplementär argumentierenden Aufsätze zeigen, dass die Germanistik am Ende der 50er Jahre nicht nur “theoretisch defizitär”, sondern auch als Ausbildungsfach dem explosionsartig gestiegenen Bedarf an gymnasialen Deutschlehrern überhaupt nicht gewachsen war. Die bereits in den frühen 60er Jahren beginnenden Debatten um eine theoretische Neuorientierung unter den Leitsternen Strukturalismus, Marxismus und Sozialgeschichte auf der einen, eine Neustrukturierung des Faches auf der anderen Seite wurden begleitet und angefeuert von einer Kontroverse um die Rolle der Germanistik im Nationalsozialismus, die bereits 1959 von Rudolf Walter Leonhard angestoßen worden war. Wie lange die neuen theoretischen und praktischen Paradigmen fortwirkten, zeigt sich etwa an den Lehrveranstaltungen zur Sozialgeschichte der Literatur an der FU Berlin, die im Sommersemester 1959 aufgenommen, die ganzen 60er Jahre hindurch angeboten wurden, zwischen 1969 und 1972 dann ihre Hochzeit hatten und teilweise über die Hälfte des gesamten Lehrangebots ausmachten. Der Anteil hielt sich bis 1978 auf relativ hohem Niveau. Angesichts dieser Befunde, die unzweideutig auf eine länger andauernde Transformationsperiode verweisen, ausgelöst von veränderten gesellschaftlichen Problemlagen und internationalen Wissenschaftstrends, wird eigentlich immer undeutlicher, welche besondere Rolle dem Datum 1968 zuzumessen ist.

Auch Helmut Peitsch nimmt in seinem Beitrag den längeren Zeitraum in den Blick und untersucht, wie sich unter jungen Literaturwissenschaftlern in Westdeutschland die Entdeckung des Marxismus vollzog.23 Am Beispiel von Thomas Metscher, Helmut Lethen und Gert Mattenklott werden hier, gestützt auf umfangreiches Quellenmaterial, Bedingungsfaktoren, Verläufe und Ergebnisse dieser weit verbreiteten theoretischen Aneignungsbewegung sehr präzise rekonstruiert. Dabei wird deutlich, dass sich bereits seit dem Ende der 50er Jahre marxistisch orientierte Pole herausbildeten, die immer stärkere Anziehungskraft gewannen — Hans Mayer als Autorität in der Literaturgeschichte etwa oder die Zeitschriften “Das Argument” und “die alternative”. Während sich die einen — hier exemplarisch Metscher und Lethen — schon Mitte der 60er Jahre dem Marxismus zuwandten, steht Mattenklott für jene, die erst im Kielwasser der Studentenbewegung auf Marx rekurrierten. Im weiteren Verlauf der Entwicklung differenzierten sich unterschiedliche Ausformungen des marxistischen Ansatzes heraus. Dabei setzt Peitsch die wissenschaftlichen Ansätze der Protagonisten in Beziehung zu den Argumentationslinien und Hegemoniekämpfen der mit ihnen verbundenen Hochschulgruppen. Während Lethen mit Walter Benjamin den Klassenverrat des bürgerlichen Intellektuellen und die Verschmelzung mit dem Proletariat forderte, hielt Metscher es für möglich, auch innerhalb des Bürgertums “fortschrittliche” Positionen zu beziehen. Nach 1968 verfestigten sich diese unterschiedlichen Lesarten des Marxismus in der Option für unterschiedliche Organisationen: Während Metscher zur DKP ging, entschied sich Lethen für die KPD/AO und wurde von ihrer Studentenorganisation KSV unterstützt, Mattenklott arbeitete mit den SEW-nahen ADSG zusammen. Im Konflikt der Gruppen am germanistischen Fachbereich der Freien Universität Berlin wurden die divergierenden Positionen von Lethen und Mattenklott dann unmittelbar politisch gegeneinander ausgetragen. Am Ende wird aus dieser Mikrostudie sehr deutlich, dass der Marxismus keineswegs allein etwas Modisches war, das den Geisteswissenschaften künstlich von außen appliziert wurde. Vielmehr galt er in den 60er Jahren unter manchen westdeutschen Jungintellektuellen durchaus im wissenschaftlichen Sinne als eine bis dahin unterdrückte “Weise, den Modernisierungsprozeß zu verstehen” (S. 127). Dieser Aufsatz ist vor allem deshalb so instruktiv, weil er ein zentrales Problem der Sozial- und Kulturgeschichte der langen 60er Jahre konsequent aus der Entwicklung der gesellschaftlichen Problemlagen und der sich daraus ergebenen geistigen Strömungen erklärt. Es gab eine innere Logik der Entwicklung, die weder durch äußere Manipulation zu erklären ist — etwa durch Machenschaften der Konsumindustrie, der chinesischen Botschaft in Ost-Berlin oder des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR — noch durch besonders forsche Werturteile erhellt werden kann — “Wiedertäufer der Wohlstandsgesellschaft”, “Verrat an der Wissenschaft” etc. Tatsächlich lag angesichts der ungeheuren Kraft, mit der die Umbrüche an allen Enden der Gesellschaft die Wirklichkeit veränderten, der Bezug auf den Marxismus alles andere als fern. Denn mit den Kategorien der Innerlichkeit, des Rückzugs auf das Private, aber auch mit einer rückwärtsgewandten Kulturkritik war dem neuartigen Gemisch aus sozialer Transformation, Politisierung und Hedonismus nicht mehr beizukommen. Vor allem aber reduzierte der Marxismus den Intellektuellen nicht auf die Rolle des Kommentators, sondern er ermöglichte und forderte den Eingriff in den Lauf der Geschichte.

3. Die internationale Dimension

Dass die Entwicklung der westlichen Industriegesellschaften nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in zunehmend ähnlichen Bahnen verlief, hatten bereits die Zeitgenossen festgestellt. Zwar lösten sich nationale Spezifika keineswegs auf, aber der europäische Einigungsprozess, die allmähliche Etablierung demokratischer Systeme in allen europäischen Staaten, die Entwicklung der Konsumgesellschaft hatten doch zu beträchtlichen Annäherungen in Wirtschaft, Politik und Kultur geführt und auch die Differenzen gegenüber den USA zurücktreten lassen. Dieser Annäherungsprozess erstreckte sich über mehrere Jahrzehnte und er verlief alles andere als harmonisch, so dass zwischenzeitlich durchaus nicht zu übersehen war, welche Richtung die Entwicklung künftig nehmen würde. In den 60er Jahren war es angesichts der Existenz autoritärer Regierungen oder gar faschistischer Diktaturen in westeuropäischen Ländern — Frankreich, Griechenland, Spanien, Portugal — nahe liegend, antidemokratische Tendenzen aufmerksam wahrzunehmen und ihnen frühzeitig entgegenzutreten. Über den westeuropäischen Rahmen hinaus wurden zunehmend auch die Länder der „Dritten Welt“ und die Staaten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ in das für die Selbstverortung relevante internationale Bezugssystem eingerückt. Am Ende des Jahrzehnts war die Sichtweise fest etabliert, dass nicht mehr unbedingt die Differenz der Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme in Ost und West entscheidend war, sondern ihre Gemeinsamkeiten als moderne Industriegesellschaften.

In Wolfgang Kraushaars Buch “1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur” sind für diesen Zusammenhang zwei thematische Blöcke besonders interessant, die durch jeweils zwei Aufsätze behandelt werden und das Spannungsfeld zwischen einem gesamtdeutschen und einem internationalen Bezugsrahmen vor allem westlichen Zuschnitts thematisieren.24 Dass die westdeutsche Studentenbewegung sich als Teil einer internationalen Bewegung sah, hatte mit der Delegitimation des Nationalen nach 1945 zu tun, mit Jazzmusik, Existenzialismus und Beatniks. Eine ganze Reihe von SDS-Aktivisten hatte überdies vielfältige Auslandserfahrungen — als Tramps oder Teilnehmer der zahlreichen Austauschprogramme. Andererseits waren sie Angehörige einer geteilten Nation und verspürten die Folgen dieser Situation, vor allem jene SDSler, die in der DDR aufgewachsen und kurz vor dem Mauerbau in den Westen gekommen waren. Kraushaar misst der Teilungssituation völlig zu Recht beträchtliche Bedeutung zu, mehr als dies in der Regel der Fall ist. Angesichts dessen, was der Autor über Rudi Dutschkes Sicht der Wiedervereinigung herausgefunden hat, kann man eine ganze Reihe von Annahmen getrost über Bord werfen. Zum Beispiel die, dass die Idee der Wiedervereinigung allein eine Phantasie der berühmten “Ewiggestrigen” gewesen sei, in den jungen Eliten hingegen keine Rolle mehr gespielt habe. Vor dem Hintergrund seiner DDR-Sozialisation dachte Dutschke immer in gesamtdeutschen Bezügen. Schon wenige Tage nach den Schüssen auf Benno Ohnesorg entwickelte er das Konzept, West-Berlin zur rätedemokratischen Mustersiedlung umzubauen und damit den festgefahrenen Gesellschaften in Ost- und Westdeutschland einen Dritten Weg vorzuführen — in der Hoffnung, dass die Ausstrahlungskraft dieser autonomen Modellrepublik die beiden von äußeren Mächten abhängigen Teilstaaten zum Einsturz bringen und zu einer Wiedervereinigung auf antiautoritärer Grundlage führen könnte. In den mittleren und späten 70er Jahren wurden nationale Stimmen in den Gruppierungen, die sich aus der Studentenbewegung gebildet hatten, lauter. KPD/AO und KPD/ML führten eine prononciert „nationale“ Politik, die durchaus nicht nur rhetorischen Charakter hatte. Auch Dutschke äußerte sich nun unverblümter als zuvor in diesem Sinne. Kraushaar setzt sich in einem weiteren Aufsatz scharf mit der auffälligen Zuwendung mancher Exponenten der Studentenbewegung zur nationalen Rechten hin auseinander. Wenn Bernd Rabehl 1989 behauptete, die Radikalen des West-Berliner SDS hätten, gestützt auf Mao und Che Guevara, “‘nationale Befreiung’ als einen Kampf gegen Stalinismus und Imperialismus” interpretiert (S. 123), dann vereinnahmte dies sicherlich unzulässig eine größere Gruppe des SDS, die Derartiges nie dachte. Auf der anderen Seite aber lösten Dekolonialisierungsprozesse und nationale Befreiungstheorien in Deutschland mehr noch als in anderen Ländern selbstbezügliche Assoziationen aus, weil das Land geteilt war. Nicht zuletzt in der politischen Linken innerhalb und außerhalb der SPD gab es einen ausgeprägten Neutralismus, der auch von der Hoffnung auf eine Wiedervereinigung lebte. Dass derartige nationale Sentiments, nachdem im Jahre 1990 das große Ziel erreicht war, von manchen teleologisch überzeichnet wurden, ja im Extremfall sogar im Rechtsradikalismus enden konnten, kann kaum verwundern. Allerdings weiß man über Rückhalt und Ausprägung derartiger Einstellungen noch viel zu wenig. Kraushaars kritische Rekonstruktion macht deutlich, dass eine genauere Untersuchung der Verankerung und Transformation nationaler Ideen unter jungen westdeutschen Intellektuellen in den 60er Jahren überaus lohnend wäre.

In zwei Aufsätzen über die Internationalität des Phänomens “1968” interpretiert der Verfasser die verschiedenen Bewegungen und Ereignisse, die sich in diesem Jahr zu einer “weltweiten Explosion” (S. 23) verdichteten, als “erste globale Rebellion”. Tatsächlich ist die These einleuchtend, dass die Vielzahl der Ereignisse dieses Jahres in Vietnam, Washington, Berlin, Paris und Prag den nationalen Öffentlichkeiten schlagartig zu Bewusstsein brachten, dass die Welt ein überschaubares “global village” sei. Die internationalen Verflechtungen durch Politik, Wirtschaft und Konsum hatten schon zuvor stark zugenommen, auch hatte es nicht an medialen Großereignissen gefehlt, doch ihre hohe Verdichtung im Jahre 1968, gekoppelt an die nun nahezu flächendeckende massenmediale Versorgung könnte doch einen qualitativen Sprung bewirkt haben. Gut möglich, dass die Schockwirkung dieser Ersterfahrung dazu beigetragen hat, 1968 gleichzeitig zu “Mythos, Chiffre und Zäsur” werden zu lassen. Kraushaar beschreibt die Mehrdimensionalität der internationalen Kontakte und Einflusssphären vor allem am Beispiel der deutschen Szenerie. Unter der Konzentration auf die deutschen Ereignisse gerät in diesem Text die eigentliche These, die etwas mehr Fundamentierung gut vertragen könnte, etwas aus dem Blick. In dem zweiten Text zu diesem Themenkomplex allerdings wird dann detailliert auf einen bestimmten Aspekt der Globalisierung eingegangen, nämlich auf den Transfer des “zivilen Ungehorsams” der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung nach Westdeutschland. Hier dokumentierte sich bereits 1965 der Versuch, mit Hilfe von “direkten Aktionen” und “begrenzter Regelverletzung” die vermeintliche Hermetik einer manipulierten Öffentlichkeit zu durchstoßen, um Artikulation und Partizipation von Minderheiten zu ermöglichen, die schließlich auch die Mehrheit erfassen sollten. Darin zeigt sich exemplarisch, wie sehr transatlantische Transfers die westdeutsche Ausprägung der Studentenbewegung beeinflusst und zum Eindruck einer “globalen Rebellion” beigetragen haben. Allerdings kann, auch dies zeigt Kraushaar, von einer pauschalen Übernahme nicht die Rede sein. Vielmehr wurden die amerikanischen Ideen diskursiv eingepasst in bestimmte europäische und deutsche Traditionslinien.25

Schon im Jahre 1997 hatte ein Leipziger Herausgeberkreis die Frage aufgeworfen, inwiefern man “1968” als “europäisches Jahr” ansehen könnte.26 Hier wurde besonders intensiv Immanuel Wallersteins These diskutiert, es habe sich bei diesem Phänomen um eine „Revolution im Weltsystem“ gehandelt.27 Anknüpfend an Wallerstein interpretiert Beate Fietze in ihrem Beitrag für den von Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen und Petra Boden herausgegebenen Band „1968“ als internationale Revolution gegen die bereits machtpolitisch etablierten Reformbewegungen.28 Sie ergänzt diesen Ansatz um Eric Hobsbawms These von einem scharfen generationellen Konflikt, der durch die extrem tiefen gesellschaftsgeschichtlichen Einschnitte in der Jahrhundertmitte verursacht worden sei, und entwickelt in Anknüpfung an und in Abgrenzung von beiden sowie unter Rückgriff auf Karl Mannheims Begriffsbestimmung eine anregende Theorie von der „Globalisierung des Generationszusammenhangs“, in der die Generation der „68er“ als sozialer Träger eines internationalen Erneuerungsprozesses interpretiert wird. Tatsächlich gerieten auf der politischen Ebene die staatstragenden Institutionen vieler Länder in diesem Jahr in tiefe Legitimationskrisen.29 Und auch auf der Ebene der von der „68er-Bewegung“ in den Vordergrund gerückten Themen und Aktionsstile lassen sich unschwer transnationale Parallelen ausmachen, zumal über die Universitäten als institutionelle Basis der Akteure derartige Kontakte verhältnismäßig leicht herzustellen waren. Überhaupt sieht Fietze nicht „die Jugend“ an sich als Trägergruppe des Wandels an, sondern insbesondere die besser gebildeten jungen Leute, also in erster Linie Studierende. Den entscheidenden Faktor für den globalen Charakter der „Revolution“ von 1968 lokalisiert sie in der Tatsache, dass nach 1945 ein globaler politischer Bezugsrahmen bipolaren Zuschnitts etabliert wurde, der die einzelnen nationalen Gesellschaften stark bestimmte, sich aber im Laufe der 50er und frühen 60er Jahre überlebt hatte und überwunden werden musste.

So anregend derartige theoretische Deutungsversuche sind, so schwierig ist es oftmals, sie mit dem überbordenden empirischen Material zu einem schlüssigen Gesamtbild zu verbinden — insbesondere dann, wenn es um komplexe internationale Entwicklungen geht. Je umfassender der Gegenstand, desto größer die Neigung, komplizierte Zusammenhänge und widerstrebende Empirie unter das Dach theoretischer Annahmen zu zwängen. Diesen Schluss jedenfalls legt die Arbeit nahe, die Michael Kimmel vorgelegt hat.30 Der Autor umgreift die Studentenbewegungen in Frankreich, der Bundesrepublik Deutschland und den USA, und zwar unter einem doppelten Blickwinkel: Zum einen sollen die in diesen Ländern entstandenen theoretischen Konzepte zur Deutung der Studentenbewegung dargestellt und diskutiert werden, zum anderen werden die jeweiligen nationalen Ausprägungen der Bewegungen selbst als neue soziale Bewegungen interpretiert und verglichen. Jeweils für sich viel versprechende Fragestellungen, doch in ihrer Verbindung schwierig zu handhaben. Kimmels Abhandlung will zuviel und bleibt deshalb oftmals an der Oberfläche — vor allem in ihrem zweiten Teil. Hier werden allzu viele bekannte Interpretationstopoi wiederholt; sie können im Grunde auch nicht überprüft werden, weil es der Arbeit eklatant an Empirie mangelt. So führt das Übergewicht an theoretischen Annahmen zu oft spekulativen Allgemeinplätzen ohne weiterführenden Erkenntniswert. Was etwa ist neu an Kennzeichnungen wie “manichäische Totalperspektive”, “politische Romantik” oder “quasi-religiöser Messianismus” (S. 175) als Bestandteile einer vom Autor idealtypisch gedachten “Psychologie” des Studentenprotests? Ungeprüft übernommen wird auch die Behauptung, Bildungsreform, Planungseuphorie oder die zunehmende berufliche Integration von Frauen seien ursächlich auf die Studentenbewegung zurückzuführen (S. 237). Hier zeigt sich, dass ein genauerer Blick auf die historischen Verläufe auch der theoretischen Präzision zuträglich gewesen wäre. Sehr viel nützlicher ist hingegen der erste Teil des Buches, der kein empirisches Gegengewicht braucht, weil er sich ausschließlich den theoretischen Versuchen zur Verortung der Studentenbewegungen widmet. Er gibt einen recht instruktiven Überblick über die in den fraglichen Ländern entwickelten Zugänge und hilft demjenigen, der sich im Dickicht der Theorien eine erste Orientierung verschaffen will. Die Synopse umfasst zeitgenössische sowie neuere Theorien und überdies auch Versuche, die verschiedenen Ansätze zu systematisieren. Sie bezieht die Analysen des gesellschaftlichen Wandels von Herbert Marcuse, Jürgen Habermas, Daniel Bell oder Alain Touraine ebenso ein wie Selbstinterpretationen der Studentenbewegung und Deutungsversuche insbesondere US-amerikanischer und westdeutscher Sozialwissenschaftler.

Während Kimmels Studie den Eindruck bestätigt, dass manche wissenschaftlichen Annäherungen an die Studentenbewegung noch immer an einem Theorieüberschuss und einem Historisierungsmangel leiden,31 zeigt Ingrid Gilcher-Holteys jüngster Überblick die beträchtlichen Erkenntnismöglichkeiten, die in der Verbindung von theoretisch inspirierter Fragestellung und profunder Empirie liegen. Es handelt sich um eine knappe zusammenfassende Darstellung der “68er Bewegung” in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien und den USA.32 Die Arbeit besticht vor allem dadurch, dass sie in einem konzentrierten Durchgang die internationalen Interdependenzen der nationalen Bewegungen herausarbeitet und damit deutlich macht, dass und inwiefern “die 68er Bewegung” eine internationale Bewegung war, die durch einen nationalen Blickwinkel allein nicht adäquat erfasst werden kann. So wird etwa die Gleichzeitigkeit bei der Herausbildung der intellektuellen Strömung der “Neuen Linken” deutlich, die Anfang der 60er Jahre entstand. Auch arbeitet die Autorin die unterschiedlichen Ansätze heraus, mit denen studentische “Avantgarde”-Gruppierungen in den USA und der Bundesrepublik wiederum übereinstimmend eine Demokratisierung der Hochschule und der Gesellschaft voranzubringen gedachten. Doch nicht nur intellektuelle Strömungen und Kritik am Zustand westlicher Gesellschaften lösten eine internationale Synchronizität aus. Situative Faktoren wie der Vormarsch der Befreiungsbewegungen in der “Dritten Welt” oder der Vietnamkrieg wurden zu Katalysatoren dieser Gleichzeitigkeit. Auch die Herausbildung rivalisierender Gruppierungen auf dem Höhepunkt der Bewegungen bildet eine strukturelle Gemeinsamkeit — aus der Sicht der Autorin handelte es sich dabei nicht zuletzt um das kontraproduktive Resultat der Versuche, den fluktuierenden Zusammenhängen festere organisatorische Formen zu verleihen. Als wichtigstes gemeinsames Ziel dieser Bewegungen in der westlichen Welt wird die Erweiterung der Partizipationsmöglichkeiten und die Veränderung der Bewusstseinszustände betrachtet.

Wie schon in ihren bisherigen Publikationen zu diesem Thema stützt sich die Verfasserin auf die Annahmen und Kategorien der “Sozialen Bewegungsforschung”.33 Sie sieht ihren Untersuchungsgegenstand als eine solche “soziale Bewegung”, die per definitionem “sozialen Wandel [...] herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen“ will (S. 10). Diesen Annahmen folgt auch der Aufbau des Buches: Zunächst wird die Entstehung der “Neuen Linken” und die Herausbildung der “Avantgarden” künftiger sozialer Bewegungen in den frühen 60er Jahren geschildert. Im zweiten Schritt wird dann “Das Praktischwerden der Theorie” untersucht, das etwa in der Mitte des Jahrzehnts vonstatten ging, drittens die “Mobilisierungsprozesse” auf dem Höhepunkt der Studentenbewegungen in den Jahren 1967/68 und schließlich ihr sich unmittelbar anschließender Zerfall. Diese Struktur bietet sich an, weil sie auf einem diachronen Grundraster ruht, sie entspricht wohl auch tatsächlich dem inneren Verlauf der Entwicklungen innerhalb der “Neuen Linken”. Allerdings stellt sich die Frage, ob damit das Phänomen der “68er Bewegung” angemessen erfasst ist. Das Buch konzentriert sich auf die intellektuellen und politischen Aspekte des Umbruchs, die zweifellos wichtig sind, aber für eine umfassende Bewertung wohl nicht ausreichen. Hinzu kommt, dass das im Grunde genommen recht schlichte Modell, einige Vordenker hätten einige neue Ideen gehabt, die über Avantgardegruppierungen verbreitet und von einer größeren Masse zumindest partiell umgesetzt worden seien, wesentliche Entstehungs- und Bedingungsfaktoren ausblendet. Tatsächlich spielen die sozialen Umschichtungs- und Differenzierungsprozesse, die überhaupt erst die Voraussetzungen dafür schufen, dass eventuell eine Idee zur materiellen Gewalt werden konnte, unter diesem Blickwinkel kaum eine Rolle. Der kulturelle Aspekt der “Bewegung”, die Entstehung und Ausformung der konsumistischen Massenkulturen und der “Counterculture”, wird wohl angerissen, bleibt aber unterbelichtet, weil das theoretische Konzept an dieser Stelle an seine Grenzen stößt. Denn noch viel schwieriger als bei unmittelbar politischen Fragen ist hier zu bestimmen, inwieweit die Praktiken hunderttausender Akteure überhaupt auf die Ideen einzelner Vordenker oder Avantgardegruppen zurückgeführt werden können. Gilcher-Holtey reflektiert diese Probleme durchaus, bleibt aber am Ende doch in der Fixierung auf die Ideen der “Neuen Linken” als positivem Ausgangspunkt der “68er Bewegung” befangen. Konsequenterweise geraten auf diese Weise auch die politischen und organisatorischen Optionen, die viele Akteure nach 1968 verfolgten, als Abweichungen von der reinen Lehre aus dem Blick. Die Zuwendung zur SPD, zu den K-Gruppen oder zur RAF erscheint aus dieser Perspektive vor allem als Bruch, wobei doch gerade das genaue Mischungsverhältnis von Kontinuität und Diskontinuität auszuloten wäre. Nichtsdestoweniger steht außer Zweifel, dass in diesem schmalen Bändchen ein außerordentlich nützlicher Überblick zur Entwicklung der “68er Bewegung” als internationaler Bewegung geboten wird, der reich an Informationen ist, dicht argumentiert und nicht zuletzt durch einen streitbaren theoretischen Ansatz zu weiterführenden Diskussionen anregt.

4. Abseits der „Metropolen“. Die regionale Dimension

Zu den Strukturmerkmalen der Studentenbewegung gehört ihre regionale Differenziertheit. Gruppierungen und Auseinandersetzungen waren stark von örtlichen Spezifika geprägt — der jeweiligen Sozialstruktur der Bevölkerung, den Toleranzgraden von örtlichen Medien und Eliten, den Persönlichkeiten und politischen Präferenzen regionaler Führer. Bislang liegen kaum systematische Darstellungen lokaler Bewegungen vor, oftmals handelt es sich bei dem vorliegenden Material um Collagen aus Überresten der Auseinandersetzungen und reflektierenden Nachbetrachtungen. Dass derartige Publikationen dennoch einen erheblichen Erkenntnisgewinn ermöglichen, zeigen beispielhaft zwei Veröffentlichungen.34 Während in dem von Venanz Schubert herausgegebenen Buch schwerpunktmäßig die Münchener Studentenbewegung behandelt wird,35 konzentriert sich der von Kurt Holl und Claudia Glunz herausgegebene Band “1968 am Rhein” auf die Vorgänge der Jahre 1966 bis 1971 in und um Köln,36 und er entfaltet dabei ein unglaublich buntes Kaleidoskop an Themen. Dieser großformatige Band, in einer Kombination von zumeist unbekanntem Bildmaterial, kürzeren Primär- und Sekundärtexten brillant gestaltet, zeigt eindrucksvoll, wie vielschichtig die Umbrüche in den späten 60er Jahren waren, nicht nur in den Metropolen Westberlin oder Frankfurt, sondern auch abseits der Zentren. Aus der regionalen Perspektive liegt es nahe, sich nicht an den Dutschkes und Krahls zu orientieren noch an der Macht der von ihnen vorgegebenen Ideen, sondern statt dessen genau auf die örtlichen Personen und Ereignisse zu schauen. Und das ist überaus fruchtbar, denn dadurch kommen nicht nur andere, bislang völlig unbekannte Akteure und Themen zur Sprache, sondern es werden auch neue Fragestellungen sichtbar. Insofern zeigt dieses charmante Buch, dass der regionale Blickwinkel — ganz ähnlich wie die internationale Perspektive — den in der öffentlichen Geschichtskultur fest gefügten Kanon der Bilder von 1968 aufbrechen und einen weiterführenden Forschungspfad erschließen kann. Auf der regionalen Ebene ist ganz unübersehbar, dass der politische Umbruch kaum zu trennen ist von den vielen Aufbrüchen im Alltagsleben. Kurt Holl und Claudia Glunz haben keine wissenschaftlich abständige Analyse geschrieben. Sie stellen die Ereignisse aus der Sicht der teilnehmenden Akteure dar, die mehr seien als Ausführende abstrakter Strukturentwicklungen, nämlich autonome Subjekte. Es geht den Herausgebern darum, die Ergebnisse dieser subjektiven Eingriffe zu dokumentieren, sie wollen damit den Aufbruch von 1968 verteidigen — auch gegen den ihrer Meinung nach “miesen Umgang mit der eigenen Geschichte, den viele der ehemaligen AktivistInnen pflegen” (S. 11). Natürlich sind derartige Bekenntnisse angreifbar, doch dürfte etwa die Frage, wie sich in den 60er Jahren längerfristige Veränderungen von Strukturen und Mentalitäten zur Eigenaktivität der Akteure verhielten, die Forschung noch geraume Zeit beschäftigen. Das Buch beeindruckt auch deshalb, weil nicht allein die politischen Aspekte behandelt werden, sondern auch die vielen subkulturellen Szenen, Zeitschriften, Gruppen und Orte: die Popkultur zum Beispiel (man erfährt vom Einfluss Bob Dylans auf die Kölner Popszene oder von “The Can” als international erfolgreichem Kölner Gewächs der frühen 70er Jahre), der rasante Wandel an den Schulen (wie etwa “der schlimme Gottfried”, Direktor des ehrwürdigen “Tricoronatums”, außerschulische Begegnungen seiner Zöglinge mit den Angehörigen des benachbarten Mädchengymnasiums zu verhindern trachtete und sich auf diese Weise der politisch aufsässigen Schülerschaft als Zielscheibe anbot), die Fluxus-Bewegung (wie Wolf Vostell, Josef Beuys und andere schon seit dem Ende der 50er Jahre eine antiautoritäre Kunst forderten, aber am Ende der 60er Jahre von vielen radikalisierten Studierenden als ästhetizistisch-affirmativ geschmäht wurden) oder die “Sozialistische Selbsthilfe Köln” (wie Lothar Gothe und seine Leute sich den “Randgruppen” zuwandten, aus der Wohlstandsgesellschaft ausstiegen und in autarken Wohn- und Arbeitskollektiven alternative Lebenskonzepte praktizierten). Auf diese Weise entsteht aus dem lokalen Blickwinkel ein ungewöhnlich anregendes, in vielen Facetten schillerndes Bild der politischen und kulturellen Umbrüche in der zweiten Hälfte der 60er Jahre.

Einen lokalen Schwerpunkt, durch übergreifende Beiträge in einen weiteren Rahmen gestellt, bietet auch der von Venanz Schubert herausgegebene Band, der die zu Aufsätzen umgearbeiteten Vorträge einer Ringvorlesung an der Universität München versammelt. Die Geschichte der Münchner Studentenbewegung wird auf zweierlei Weise erschlossen: Ein instruktiver Abriss von Stefan Hemler gibt einen vorzüglichen Rahmen ab, den knapp die Hälfte der Autoren mit sehr persönlich gehaltenen Rückblicken füllen.37 Diese weniger durch wissenschaftliche Analyse als durch eine Verarbeitung des selbst Erlebten geprägten Retrospektiven vermitteln einen besonders farbigen Einblick in die heterogenen Wahrnehmungswelten der Betroffenen — zumal die Verfasser dieser Beiträge durchweg nicht zu den Aktivisten der Studentenbewegung gehörten, ganz im Gegenteil. So erfahren wir von Manfred Schreiber, seinerzeit Münchener Polizeipräsident, später Kriminologe an der dortigen Universität, etwas darüber, wie die Unruhen der 60er Jahre den Umgang der Polizei mit derartigen Formen des Protests veränderten. Die Religionswissenschaftlerin Hann-Barbara Gerl-Falkovitz berichtet über den mehrdimensionalen “Schock” (S. 56), der sie als eine in der katholischen Jugendarbeit sozialisierte junge Frau erschütterte, als sie im Wintersemester 1965/66 die Münchener Universität betrat. Während manche ihrer Kommilitoninnen und Kommilitonen ebenfalls begannen, die bekannten Autoritäten in Frage zu stellen, entwickelte die Autorin demgegenüber eher eine grundsätzliche Widerborstigkeit. Auch Peter Glotz, seit 1964 bereits Assistent, trat den Studentenaktivisten mit beträchtlicher Skepsis entgegen — im Hinblick auf ihre Aktionsformen, ihr Parteilichkeitspostulat und ihre Leitfiguren. Als “im Kern gegnerischer Zeitgenosse” (S. 80) hatte er später einige Mühe, sich innerparteilich gegen die vielen “Achtundsechziger” durchzusetzen, die die SPD aufgesogen hatte. Und schließlich kommt auch der Politikwissenschaftler und spätere langjährige bayerische Kultusminister Hans Maier zu Wort. Er schildert, wie er als liberaler, ja “linker” Politologe aus dem Alemannischen nach Bayern kam und durch den Radikalismus der Studentenbewegung auf die Seite des entschiedenen Konservatismus gezwungen wurde. Der Radikalismus der Studentenbewegung war ihm völlig fremd — ganz im Gegensatz zu manch anderen wie etwa dem Historiker Karl Dietrich Erdmann, der von Dutschke hingerissen war und Maier mit dem Zuruf: “Der junge Luther! Der junge Luther!” verwirrte. Otto Schily, der sein Jura-Studium zwar in München begann, aber zum Zeitpunkt der Studentenbewegung bereits als Anwalt arbeitete, liegt daran zu betonen, dass er “keinesfalls den Exponenten und Wortführern der außerparlamentarischen Opposition und erst recht nicht der Studentenrevolte zuzurechnen” sei (S. 119). Während Hermann Lübbe eine ausführliche Schadensbilanz von “1968” vorlegt und Michael Wolffsohn einmal mehr nachzuweisen sucht, dass die “68er” nicht die Initiatoren der “Vergangenheitsbewältigung” waren, sondern vielmehr auch im politischen Sinne die Nachfahren ihrer Eltern, nähern sich Marita Krauss und Hans Günter Hockerts ihren Themen aus historiographischer Perspektive.38 Während Krauss einen instruktiven Abriss über die Entstehungsbedingungen und Ausprägungen der Frauenbewegung in- und außerhalb der Studentenbewegung liefert, fragt Hockerts nach der internationalen Dimension der Proteste. In einem weiten Blick auf die USA, West- und Osteuropa und die Staaten der “Dritten Welt” zeichnet Hockerts mit groben Strichen ein außerordentlich heterogenes Bild, das von Bürgerrechtsbewegungen über die Ideen der New Left und die Counterculture bis hin zu nationalen Befreiungsbewegungen viele Aspekte erfasst und überdies auch die soziologischen Gemeinsamkeiten und Unterschiede sowie die politischen und kulturellen Wechselwirkungen zwischen den jeweiligen nationalen Bewegungen skizziert. Völlig zu Recht hebt auch er hervor, dass “1968” “nur ein relativ kleiner Ausschnitt” aus dem länger andauernden Vorgang des “Wertewandels” in den westlichen Gesellschaften darstellt, dessen spezifische Bedeutung innerhalb dieses Prozesses erst noch zu erforschen wäre.

Einen gewichtigen Anteil am Historisierungsschub im 30. Jubiläumsjahr hatte der Jahresband 1998 der “Westfälischen Forschungen”, der Zeitschrift des “Westfälischen Instituts für Regionalgeschichte”. Der Band versammelt 17 Beiträge, die die Transformationsprozesse um 1968 durch zum größten Teil regionalgeschichtliche Zugriffe erkunden. Zwar liefern einige Autoren auch Beiträge aus überregionaler Perspektive — so etwa Hans-Ulrich Thamer, der erstmals systematisch die Debatte um die NS-Vergangenheit in der Studentenbewegung rekonstruiert oder Kristina Schulz, die die Herausbildung der neuen Frauenbewegung im Kontext “der 68er-Bewegung” verortet —, doch das eigentlich weiterführende Konzept des Bandes besteht darin, eine Reihe von bis dahin vorherrschenden allgemeinen Annahmen durch den Blick in die regionale Tiefe und auf bislang noch nicht näher betrachtete Gruppen und Themen zu überprüfen und zu korrigieren.39 Das gelingt hier sehr überzeugend — vor allem deshalb, weil durch die große Anzahl der exemplarischen Studien ein vielschichtiges und relativ dichtes Bild für eine begrenzte Region entsteht. Im Hinblick auf die Periodisierung betont Franz-Werner Kersting, der diesen Schwerpunkt konzipiert und redaktionell betreut hat, dass 1968 als “Scheitel- und Mittelpunkt” einer “ gesellschaftlichen Auf- und Umbruchphase im Übergang von den 60er zu den 70er Jahren” (S. 12) gewählt wurde.40 In den einzelnen Beiträgen variiert der zeitliche Rahmen, im Zentrum stehen vor allem die mittleren 60er bis frühen 70er Jahre. Damit können tatsächlich zumindest Hinweise zur Beantwortung der großen Frage gewonnen werden, inwiefern die Studentenbewegung “in einem Überlagerungs-, Durchdringungs- und Beschleunigungsverhältnis zu bereits angelegten, längerfristigen Entwicklungstrends von Politik, Gesellschaft und Kultur” stand. Angesichts der in diesem Band versammelten Befunde kommt Kersting zu dem Schluss, dass es bereits seit den frühen 60er Jahren ein “gesellschaftliches Klima der Veränderung” gab, das die Protestbewegung der späten 60er Jahre überhaupt erst ermöglichte, während diese dann “dem Trend der Vergesellschaftung und inneren Demokratisierung seine eigentliche Dynamik und Breite verlieh” (S. 14). Unabhängig davon, worin nun wirklich das “Eigentliche” bestand, belegen doch eine ganze Reihe von Beiträgen die These, dass es sich um längerfristige Transformationstendenzen handelte, die um 1968 eine besondere Dynamik bekamen. Dies wird vor allem in jenen gesellschaftlichen Bereichen sichtbar, die nicht von vornherein zum Kernbereich der Studentenbewegung gerechnet werden. So zeigen beispielsweise die Aufsätze von Wilhelm Damberg, Traugott Jähnichen/Norbert Friedrich und Thomas Großbölting im Detail die allmählichen Veränderungen der kirchlichen Milieus, die vor dem Hintergrund eines starken Säkularisierungsschubs vonstatten gingen und dann von der Studentenbewegung noch zusätzlich beschleunigt wurden.41 An den Beispielen der katholischen Studentenmilieus in Bochum und Münster demonstriert Großbölting besonders eindrucksvoll die katalysatorische Wirkung von “1968” im Gesamtzusammenhang längerfristiger Enttraditionalisierungstrends. Auch in Kerstings Beitrag zur Psychiatriereform der 60er und frühen 70er Jahre wird deutlich, dass die Studentenbewegung in der Regel nicht der Ausgangspunkt von Reformen war.42 Vielmehr waren auch auf diesem Gebiet die Reformbestrebungen bereits frühzeitig in der Disziplin selbst entstanden, entwickelten aber erst im Kontext der “antiautoritären” Aufbruchbewegungen am Ende der 60er Jahre jene politische Durchschlagkraft, die schließlich zum Erfolg führte. Dabei kam es zu einer auch für andere Bereiche offenbar charakteristischen Absetzungsbewegung: Den radikalen Kritikern der Psychiatrie gingen die Ziele der ursprünglichen Reformer nicht weit genug, so dass es zwischen diesen beiden Gruppen zu extremen Spannungen kam. Hier wie in anderen Beiträgen wird deutlich, dass die charakteristische Dynamik der 60er Jahre keineswegs nur aus linearen Modernisierungsprozessen rührte, sondern gerade wegen der zum Teil erheblichen Reibungen zustande kam, die zum Ende des Untersuchungszeitraums hin eskalierten und sich in unterschiedlichen Formen verfestigten. Die Widerstände waren zum Teil traditionalistischer Natur, oftmals handelte es sich jedoch um Mischformen, in denen bestimmte Tendenzen der Enttraditionalisierung positiv aufgenommen und in konservative Gesamtprojekte integriert wurden. Am Beispiel der Opposition gegen die Bundeswehrreform von 1969 zeigt Detlef Bald, dass sich beträchtliche Teile der Bundeswehr gegen Demokratisierungstendenzen zur Wehr setzten.43 Sie beklagten die “Politisierung” des Militärs und forderten — ganz im Widerspruch zum allgemeinen Zeitgeist — eine Aufwertung des Militärischen gegen die Politik. Während hier die traditionalistischen Gegentendenzen besonders deutlich werden, zeigt sich an einem anderen Beispiel, wie eine modernere Variante des Konservatismus die zeitgenössischen Erneuerungsschübe produktiv verarbeitete. Olaf Bartz untersucht die “Kölner Studentenunion” (KSU), eine lokale konservative Gruppierung, die im Sommersemester 1968 — ganz gegen den linken Bundestrend — die Wahl zum Studentenparlament der Kölner Universität gewann.44 Wie Bartz eindrucksvoll nachweist, rührte dieser Erfolg daraus, dass die KSU sich ein modernes Image gab, Teilaspekte der Studentenbewegung aufnahm und etwa mit einem Periodikum namens “Pop-Kurier” unter der Losung “Revolution muss Spaß machen” für sich warb (S. 249). Derartige politische Vereinnahmungen von Elementen der Popkultur deuten sehr wohl auf Veränderungen im Selbstverständnis auch konservativer Strömungen hin, aber sie machen auch deutlich, warum die linke Konkurrenz dazu neigte, nicht mehr nur schrille Farben und wilde Sprüche für Ausweise revolutionärer Gesinnung zu nehmen, sondern derartige popkulturelle Elemente entweder ganz ablehnte oder zu politisieren und zu radikalisieren trachtete.

5. Quellensammlungen

Die beginnende Forschung zur Sozial- und Kulturgeschichte der 60er Jahre wird begleitet von einer ganzen Reihe von Dokumentationen, die zum Teil bestimmte Themen genauer behandeln — wie etwa Wolfgang Kraushaars voluminöse Publikation zum Verhältnis von Studentenbewegung und Frankfurter Schule, die — neben einer Chronik und einer Aufsatzsammlung — eine Vielzahl von Quellen zusammenbindet, die für diesen Zusammenhang im weitesten Sinne relevant sind.45 Während Kraushaars Dokumentation zeitlich extrem weit gespannt ist — sie beginnt im Jahre 1946 und endet 1994, mit einem Schwerpunkt allerdings in den Schlüsseljahren 1967 bis 1969 —, so ist eine andere Publikation, die hier näher vorgestellt werden soll, auf die zweite Hälfte der 60er Jahre begrenzt, sichtet aber inhaltlich ein weites Spektrum. Unter dem Titel „Das Leben ändern, die Welt verändern!“ hat Lutz Schulenburg eine Sammlung vorgelegt, die die Jahre 1966 bis 1969 behandelt und keiner besonderen Fragestellung folgt, sondern vor allem eine Botschaft transportieren soll: „Rebellion ist berechtigt!“ (S. 5).46 Wie der Bildband von Kurt Holl und Claudia Glunz widerlegt auch Schulenburgs Buch, dass ein derart parteiliches Motiv zu schiefen Ergebnissen kommen muss. Schulenburg sieht eines der wesentlichen Merkmale von „1968“ in der internationalen Gleichzeitigkeit der Aufbrüche, und daher werden Quellen aus der westdeutschen Studentenbewegung verbunden mit Dokumenten westeuropäischer und amerikanischer Provenienz. Das Material wird jahresweise in einer groben chronologischen Reihe präsentiert, so dass ein Eindruck von der Dynamik der Geschehnisse entsteht. Einen eindeutigen Schwerpunkt bildet dabei das Jahr 1968, das mehr als die Hälfte des Gesamtumfangs einnimmt. „Alles gerät in Bewegung“ und „Wir sind überall“ — diese Titel zweier Dokumentenblöcke signalisieren, warum der Herausgeber diesem Jahr eine derartige Bedeutung beimisst: Hier verdichteten sich viele verschiedene kulturelle und politische Bewegungen, Projekte, Stile und Meinungen zu einem bis dahin unbekannten Aufbruchklima. 1966 und 1967 kündigte sich dies erst an und verbreiterte sich, 1969 begann bereits der Niedergang, als viele Akteure versuchten, die bunte Vielfalt unter das Dach einzelner politischer Interpretationen zu zwingen. Es ist das spontane Element, das Schulenburg als Kern des Aufbruchs ansieht. Die Akteure waren nicht allein Studierende, auch wenn diese einen bedeutsamen Faktor darstellten, und so macht sich der Herausgeber die Auffassung Rudi Dutschkes zu eigen, dass das, was 1968 geschah, mit der Bezeichnung „Studentenbewegung“ nicht hinreichend gekennzeichnet sei. Der Herausgeber will nicht beurteilen, welche Kennzeichnung treffender wäre, und so bleibt es bei der Chiffre „1968“, die alles bündelt. Sicherlich erwartet man von einer Quellenedition nicht unbedingt eine tiefgehende Begriffsreflexion. Doch immerhin formen die präsentierten Quellen ein gewisses Bild, sie lassen Rückschlüsse auf das zu, was gemeint sein könnte. In diesem Band finden sich manche der bereits bekannten Quellen zur Geschichte des SDS wie etwa Dieter Kunzelmanns „Notizen zur Gründung revolutionärer Kommunen in den Metropolen“ von 1966. Vor allem aber wird eine große Menge bislang noch unbekannten oder an entlegener Stelle publizierten Materials abgedruckt, darunter Stellungnahmen einzelner SDS- oder AUSS-Gliederungen zu bestimmten Ereignissen, Flugblätter zu universitären Auseinandersetzungen oder zu betrieblichen Konflikten. Besonders instruktiv sind überdies die vielen Quellen, die den internationalen Kontext beleuchten und einen Eindruck davon vermitteln, welche theoretischen Positionen und praktischen Konflikte jenseits der westdeutschen Grenzen die hiesigen Debatten beeinflussten. So finden sich hier etwa programmatische Aussagen der Amsterdamer Provo-Bewegung, der linksradikalen Arbeiterbewegungen in Turin oder Barcelona sowie ein ganzer Dokumentenblock zu den Maiunruhen in Paris. Einzelne Quellen zum Surreaslimus, zum YIPPIE-Konzept oder zur Popkultur deuten zurückhaltend Anschlussstellen zu jenen nicht von vornherein politischen Szenen an, die nicht nur für den atmosphärischen Hintergrund relevant waren und z.T. auch politische Theorien beträchtlich beeinflusst haben. Insgesamt repräsentiert dieser anregende Band die bunte Vielfalt der verschiedenen internationalen Aufbrüche um 1968. Dass ein strukturierender inhaltlicher Fokus fehlt und bei der internationalen Reichweite des Blicks knapp 500 Seiten immer noch viel zu wenig sind, muss dabei in Kauf genommen werden.

Von der Stuttgarter Akademie der Bildenden Künste aus trat im Januar 1968 ein Plakat seinen Weg in viele westdeutsche Studentenbuden an. “Alle reden vom Wetter. Wir nicht.” Den bekannten Werbeslogan der Bundesbahn hatte der Stuttgarter Kunststudent Ulrich Bernhardt zu einem SDS-Plakat verfremdet, auf schrillrotem Grund um die Häupter der Klassiker Marx, Engels, Lenin arrangiert und so mit einer neuen Bedeutung versehen. Der von dem langjährigen Rektor, Wolfgang Kermer, zusammengestellte Band versammelt Dokumente zur Geschichte der Akademie, die aus seiner Amtszeit zwischen 1971 und 1984 stammen, oftmals von ihm selbst verfasst: Reden, Berichte, Vorworte für Publikationen der Akademie, Gedenkartikel, Zeitungsinterviews.47 Das eigentlich Erstaunliche an dieser Kollektion von Bruchstücken einer Institutionengeschichte ist die Tatsache, dass sie unter dem Titel “‘1968’ und die Akademiereform” veröffentlicht wurde. Bei genauerer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass dieser Titel nicht ganz unzutreffend ist, denn die Folgewirkungen der Studentenbewegung für den Mikrokosmos der Stuttgarter Akademie waren tiefgreifend. Aus den Dokumenten, die der Herausgeber zusammengetragen hat, wird deutlich, dass die Studentenbewegung schon 1967/68 keineswegs nur die Universitäten berührte, sondern auch hier, an den durchaus nicht von vornherein besonders politischen Kunsthochschulen, erhebliche Wirkungen entfaltete. Dies hatte wohl auch damit zu tun, dass am Ende der 60er Jahre eine Strukturreform überfällig war. Die noch aus dem Jahre 1950 stammende Verfassung der Akademie schloss viele Lehrende von der Mitwirkung aus, von den Studierenden ganz zu schweigen. Insofern gab es strukturelle Rückständigkeiten, die Anlass für eine nachholende Modernisierung gaben. Dem fiel 1969 der seit zehn Jahren amtierende Rektor zum Opfer, der zwar durchaus Verbesserungen herbeigeführt hatte, aber ohne Fingerspitzengefühl auf den Wandel des Zeitgeistes reagierte. Nicht nur Bernhardts Plakat deutete darauf hin, dass sich die Stuttgarter Kunststudenten sehr viel stärker als zuvor mit politischen Fragen beschäftigten. Wie an vielen Orten Westdeutschlands waren die Schüsse auf Ohnesorg auch an der Akademie Auslöser einer massiven Politisierungswelle gewesen, die sich schnell auf alle möglichen Felder ausdehnte und das Rektorat vollständig überforderte, das bis dahin mit einem AStA ausgekommen war, der primär das soziale Miteinander der Studenten organisiert hatte. Attackiert wurde nicht nur die Staatsmacht, sondern nun sollte unter dem Motto “Entrümpelt die Akademien” auch massiv die Strukturreform der künstlerischen Ausbildung angegangen werden. Über die Zukunft der Akademie diskutierten Bazon Brock und Josef Beuys, von studentischer Seite wurde gefordert, die Idee vom individuellen Schöpfergenie zu verabschieden und sich der Gesellschaft zu öffnen, auch sollten neue Fächer eingerichtet werden, allen voran ein Lehrstuhl für Kunstsoziologie. Nun gibt die Amtszeit eines Rektors nicht unbedingt einen sinnvollen zeitlichen Rahmen für eine Publikation ab, die den Folgewirkungen von 1968 gewidmet ist. Tatsächlich sind es kaum mehr die späten Jahre dieser Amtszeit, die von den Impulsen von 1968 beeinflusst wurden, sondern vor allem die Jahre bis etwa 1977. Auch hat eine ganze Reihe der hier versammelten Dokumente nur am Rande mit diesem Thema zu tun. Für den eigentlichen Kernzeitraum zwischen 1968 und 1977 jedoch wird plastisch, wie stark die Forderungen nach einem neuen Kunstverständnis und nach einer Demokratisierung der Institution die Akademie veränderten. Auch als sich in den frühen 70er Jahren der Sturm der Empörung gelegt hatte, wurde der innere Strukturwandel vorangetrieben, nun sogar von der Spitze der Akademie aus. Dieser Band verweist sehr deutlich darauf, dass der dringende Reformbedarf neues Personal an die Schaltstellen brachte, das diese Aufgabe anpacken konnte. Kermer jedenfalls war sich mit den Studierenden sehr weitgehend einig, wenn es darum ging, traditionelle Privilegien abzubauen, Kooperation und Transparenz zu befördern. An Konflikten mangelte es freilich nicht. So etwa, als im Zeichen der neuen Demokratisierung die Kandidaten für einige Professuren im Jahre 1969 einer öffentlichen Befragung unterzogen und je nach politischem Bekenntnis vom studentischen Publikum ausgebuht oder bejubelt wurden. Am Ende setzte sich von den von studentischer Seite Präferierten nur einer durch: Alfred Hrdlicka kam 1971 an die Stuttgarter Akademie und blieb bis 1986.

Im Gegensatz zu den Büchern von Kermer und Schulenburg schlägt eine andere Dokumentation, ein Ausstellungskatalog, einen ausgearbeiteten konzeptionellen Zugang zur Erschließung von „1968“ vor.48 Die hier dokumentierte Marbacher Ausstellung von 1998 befasste sich mit der Rolle der Literatur um 1968, der Frage, wie die Studentenbewegung die Produktion und Rezeption von Literatur beeinflusst hat, aber auch, welchen Einfluss Literaten auf die Studentenbewegung nahmen. Bei einer derartigen Fragestellung muss bereits früh angesetzt werden, denn spätestens seit der Bundestagswahl von 1961 mischten sich westdeutsche Schriftsteller direkt in politische Angelegenheiten ein, engagierten sich für einen Regierungswechsel zugunsten der SPD, manche von ihnen waren wegen deren Beteiligung an der Großen Koalition enttäuscht und radikalisierten sich schließlich im weiteren Verlauf der Studentenbewegung. Um den Kontext noch genauer zu umreißen, wird gelegentlich auch auf Tendenzen zurückgegriffen, die sich bereits in den 50er Jahren bemerkbar machten, so etwa im Hinblick auf die Gruppe 47 oder den Situationismus. Bis etwa in die Mitte der 70er Jahre werden die Folgewirkungen des Umbruchs von 1968 in den verschiedenen Szenen verfolgt. Durch die Einbettung in einen längeren Analysezeitraum kommen Brüche und Ausdifferenzierungsprozesse in den Blick. Der Katalog macht deutlicher als viele andere Publikationen, dass in diesem Jahrzehnt ein grundlegender gesellschaftlicher Umbruchprozess vonstatten ging, der mehr war als “1968”.

Die Kernthese des Katalogbuches besagt, dass sich in der Literatur im Laufe der 60er Jahre zunehmend eine Spannung zwischen politischem Protest auf der einen und “postmodernen” Tendenzen auf der anderen Seite entwickelte. Während die eine Richtung, ganz in Übereinstimmung mit den Ideen der Frankfurter Schule, den zunehmenden Konsum als primär manipulativ wahrnahm und auf politische Bewusstseinsbildung setzte, adaptierten andere mehr und mehr Themen und Materialien, die die neuartigen Massenkulturen zur Verfügung stellten. Offen ausgetragen wurde dieser Konflikt in der Debatte um den Freiburger Vortrag des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Leslie A. Fiedler vom Juni 1968, der die literarische Moderne für passé erklärte, eine Ausdehnung des Literaturkonzepts auf Trivialliteratur forderte und populäre Mythen für legitim hielt. In dieser Debatte, die in der Wochenzeitung “Christ und Welt” geführt wurde, äußerten sich eine ganze Reihe westdeutscher Schriftsteller, die meisten ablehnend. Das hatte sicherlich zum einen damit zu tun, dass sich manche von ihnen als Marxisten verstanden, die von Fiedler als Verteidiger der “letzten Bastionen des Rationalismus und der Vormachtstellung des Politisch-Faktischen” betrachtet wurden: “sie sind daher die natürlichen Feinde des Mythischen und der Leidenschaften, der Phantasie und eines veränderten Bewußtseins” (S. 370). Doch darüber hinaus brachten die Vertreter des kritischen Rationalismus, allen voran damals noch Martin Walser, gegen Fiedler ein spezifisch deutsches Argument in Anschlag: Vor dem Hintergrund der NS-Erfahrung verbiete sich jeder neue Romantizismus. Statt dessen müsse gegen die neuen Methoden der Massenmanipulation mit den Mitteln der Aufklärung angegangen werden, um einem politischen Rückfall vorzubeugen. Auf Fiedlers Seite schlug sich lediglich eine kleine Minderheit, die selbst bereits mit Elementen der Popkultur experimentierte — Rolf Dieter Brinkmann war darunter. Die Macher von Ausstellung und Buch taten gut daran, diesen Konflikt in den Mittelpunkt ihres Projekts zu stellen. Denn über ihre Bedeutung für die neuere Literaturgeschichte hinaus bündelt sich in dieser Debatte eine zeitgenössische Konfliktlinie, die für die Analyse der sozial- und kulturgeschichtlichen Verläufe in den langen 60er Jahren fruchtbar gemacht werden kann. Das von Fiedler verwandte Label “postmodern”, so unklar und umstritten es sein mag, verweist doch darauf, dass nicht zuletzt der Durchbruch der Massenkulturen neue Rezeptionsweisen hervorrief, von denen damals noch nicht klar war, welche Folgen sie für den mentalen Zustand der Gesellschaft haben würden. Tatsächlich, das kann man heute erkennen, bewirkte der zunehmende Konsum nicht eine Verdummung der Bevölkerung, sondern gerade zwischen den späten 50er und den frühen 70er Jahren stieg, wie die empirische Sozialforschung herausfand, das politische Interesse so stark wie in keinem anderen Abschnitt in der Geschichte der alten Bundesrepublik. Insofern reflektierte die Fiedler-Debatte zwar einen realen gesellschaftlichen Umbruch, aber in ihrer bipolaren Kampfstellung zwischen Mythos hier und Aufklärung dort erfasste sie kaum, was die Individuen in der Konsumgesellschaft tatsächlich taten: Idealtypisch gesehen kombinierten sie Elemente der Konsumkultur mit einem gewachsenen politischen Interesse zu einem neuartigen kulturellen Stil. In den Jahren nach 1968 waren viele junge Intellektuelle hedonistisch und politisch interessiert zugleich.

In seinem Schlussessay skizziert der Heidelberger Germanist Helmuth Kiesel einen gesellschaftsgeschichtlichen Rahmen, um den Protest von 1968 und die Rolle der Literatur in einer längeren Linie angemessen einzuordnen. Zu Recht ist Kiesel skeptisch gegenüber Kennzeichnungen wie “Fundamentalliberalisierung” oder “Demokratisierung”, wenn sie auf das Datum 1968 als Ursprungsgröße bezogen werden. Statt dessen hebt er die Ergebnisse der Forschungen zum “Wertewandel” hervor, die zeigen, dass sich die Einstellungen der Westdeutschen im Hinblick auf Partizipation und Liberalität bereits seit den frühen 60er Jahren veränderten. Dabei wird deutlich, wie Literatur in diesen Jahren gerade wegen ihrer stärkeren Hinwendung zu den Massenkulturen in Maßen zum Spiegelbild der Gesellschaft wurde und wiederum auf das Selbstverständnis der Gesellschaft zurückwirkte. Insofern ist dieser Katalog keineswegs nur für diejenigen von Interesse, die sich für Literatur interessieren. Freilich kann und will er keine wissenschaftliche Analyse dieses Zusammenhangs vorlegen, aber er regt dazu an, sich mit einigen zentralen Problemen der langen 60er Jahre differenzierter auseinanderzusetzen. Es ist gerade die Kombination aus Quellenauszügen, vorzüglich recherchierter Kommentierung und theoretischer Konzeptionalisierung, die eine Vielzahl von Ansatzmöglichkeiten für eine derartige Vertiefung bietet.

6. Quellen- und Literaturführer

Alle zeithistorische Forschung ist mit einer ungeheuren Menge an gedrucktem und ungedrucktem Quellenmaterial konfrontiert. Das ist bei der Erforschung der 60er Jahre nicht anders. Weniger noch als bei anderen historiographischen Problemstellungen kann es also darum gehen, enzyklopädische Vollständigkeit in der Quellenerfassung anzustreben. Spätestens hier wird unübersehbar, dass nicht “die ‘sachlichen’ Zusammenhänge der ‘Dinge’, sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme” im Mittelpunkt der Forschung stehen müssen.49 Während die vorliegenden Quellensammlungen einen Schritt in diese analytische Richtung bereits getan haben und dem Publikum nach bestimmten Kriterien ausgewähltes Material liefern, leisten Quellen- und Literaturführer etwas anderes: Sie informieren über das Spektrum des zur Verfügung stehenden Primär- und Sekundärmaterials, um Interessierten eine Orientierung im Forschungsfeld zu ermöglichen. Dass auch hierfür analytische Kriterien nicht ganz vernachlässigt werden können, demonstrieren zwei neuere Publikationen. Philipp Gassert und Pavel A. Richter haben 1998 in einer Reihe des Deutschen Historischen Instituts in Washington, D.C., ein schmales Bändchen publiziert,50Thomas P. Becker und Ute Schröder im Jahre 2000 ein voluminöses Buch.51 Beide Publikationen erschienen nicht von ungefähr in diesen Jahren. Zum einen zeichnet sich ein deutlich gestiegenes Forschungsinteresse ab, zum anderen haben sich aber auch die Voraussetzungen für historiographische Arbeit erheblich verbessert, denn dreißig Jahre nach den fraglichen Ereignissen stehen nun auch die Archivalien staatlicher Provenienz grundsätzlich zur Verfügung. Rechtzeitig zu diesem Datum hat eine Fachgruppe des Vereins Deutscher Archivare die Initiative ergriffen und in einem breit gestreuten Fragebogen eruiert, welche Bestände zur Geschichte der Studentenproteste in den Archiven Deutschlands, Österreichs und der Schweiz verwahrt werden. Das Ergebnis, das Becker und Schröder nun präsentieren, ist beachtlich, und es belegt tatsächlich, dass die Menge des Materials, das der Forschung zur Verfügung steht, geradezu unüberschaubar groß ist. Die Aufstellung umfasst nicht nur die staatlichen Archive, sondern auch einige Archive sozialer Bewegungen, die zumeist aus den Protestbewegungen selbst hervorgegangen sind und eine Vielzahl von Materialien gesichert haben. Hinzu kommen Archive wissenschaftlicher Verbände und Institutionen, es wird informiert über das, was in den Archiven politischer Parteien zu finden ist, besonders wertvoll sind die Bestandsaufnahmen bei Medien-, Stadt- und Hochschularchiven. Das Spektrum der einbezogenen Archive deckt einen großen Teil derjenigen Institutionen ab, die irgendwie mit dem studentischen Protest konfrontiert waren, es ist zudem nicht begrenzt auf die zentralen Archive, sondern bezieht gerade die regionale und lokale Ebene ein. Das ist wichtig, weil das Phänomen selbst regional höchst unterschiedlich ausgeprägt war. Zwar wird in unterschiedlicher Detailliertheit über die Bestände der einzelnen Archive berichtet, und oftmals wäre eine eingehendere Darlegung wünschenswert gewesen, doch insgesamt ist dieses Verzeichnis überaus hilfreich. Dies kann freilich nur mit Einschränkungen von der vorgelegten Literaturübersicht behauptet werden. Sie beinhaltet zwar einen instruktiven Überblick über regionenbezogene Literatur zur Studentenbewegung, doch ansonsten wirkt sie zu wenig strukturiert, um wirklich hilfreich sein zu können. Ihr größtes Manko besteht darin, dass die zwischen 1965 und 1970 gedruckte Primärliteratur nicht systematisch erfasst, sondern lediglich dann vereinzelt mit verzeichnet wurde, wenn es sich um autobiographisches Material oder um “Quellensammlungen” handelte. Die Herausgeber begründen diese eigenwillige Entscheidung damit, dass hier Vollständigkeit nicht erreichbar sei. Dies ist freilich niemals möglich, auch nicht in den anderen Verzeichnissen des Buches. Die publizierten Äußerungen der studentischen Akteure, ihrer älteren Mentoren und ihrer Kritiker stellen sicherlich einen zentralen Quellenbestand dar, der gerade wegen seiner Unübersichtlichkeit einer systematisierenden Sichtung bedürfte, um ihn für die Forschung nutzbar zu machen. Am Ende haben die Herausgeber durchaus viele nützliche Informationen zusammengetragen, doch es fehlt ihnen an einem konzeptionellen Zugriff, um dieses große, in sich amorphe und analytisch schwer zugängliche Thema strukturiert aufzubereiten. Dies wird schließlich auch an dem bei weitem umfangreichsten Teil des Buches deutlich, einer “Chronik der Studentenbewegung”, die die Jahre 1965 bis 1970 umgreift. Hier wird ein buntes Kaleidoskop von teilweise bislang unbekannten Ereignissen präsentiert, wobei sich über Auswahlkriterien und Periodisierungsfragen trefflich streiten ließe.

Wer Wert auf einen problemorientierten Zugang legt, der wird von Gassert und Richter besser bedient. Zwar informiert ihr Band zumeist weniger detailliert über die Archivbestände, auch ist das Spektrum der behandelten Archive deutlich schmaler und weniger instruktiv gegliedert. Doch dafür gibt er neben einer repräsentativen Auswahl an Sekundärliteratur einen vorzüglichen Überblick über die wichtigsten Zeitschriften der Studentenbewegung und ihres Umfeldes, vor allem aber über die wichtigste Primärliteratur. Gegliedert nach einzelnen Themenfeldern wie Hochschulpolitik, Notstandsgesetze, Dritte Welt, Gegenkultur etc. werden breite Schneisen in das Dickicht der Themen und Aspekte geschlagen, die um 1968 von Bedeutung waren. Auf diese Weise identifiziert der Band nicht nur relevante Themenfelder, er bietet darüber hinaus auch erste Zugänge zu ihrer Erschließung über die Primärliteratur an. Dabei ist es besonders verdienstvoll, dass nicht nur Monographien und Sammelbände einbezogen werden, sondern auch Zeitschriftenaufsätze, die ansonsten schwer zu bibliographieren sind. Die Herausgeber, beide durch einschlägige Forschungen ausgewiesen, nähern sich dem Thema über die Frage, warum es so schwierig sei, 1968 und die 60er Jahre insgesamt zu historisieren, sehen hier jedoch eine bevorstehende Wende und umreißen schließlich einen weiten Rahmen für eine künftige Historisierung. Völlig zu Recht weisen sie darauf hin, dass “1968” nur durch die Einbettung in den Verlauf der ganzen 60er Jahre angemessen historisiert werden könne, was wiederum bedeute, die Ereignisse in ihrer Wechselwirkung mit den großen gesellschaftlichen Trends der Zeit zu betrachten: die Entwicklung der Konsumgesellschaft, der Wandel der Geschlechterverhältnisse, die weltpolitischen Veränderungen im Kalten Krieg, die NS-Debatte usw. In der Tat sind dies Teilbereiche, in denen sich jetzt bereits Schwerpunkte der laufenden Forschung abzeichnen. Sie profitiert von diesem Band ganz besonders, weil sich in der Auswahl der präsentierten Literatur auch die Themen niederschlagen, die die Herausgeber als künftig relevante Forschungszugänge identifiziert haben.

7. Die langen 60er Jahre in sozial- und kulturhistorischer Perspektive. Ein Ausblick

In seinem Buch über die linksradikale Szenerie der 70er Jahre hat Gerd Koenen im vergangenen Jahr eine erste Gesamtschau jener Radikalisierungsprozesse vorgelegt, die auf die Studentenbewegung folgten und einen bedeutsamen Aspekt des Übergangs von den 60ern in die 70er Jahre ausmachten.52 Dieser Pfad, der aus den 60er Jahren herausführt, hat eine starke politische Komponente, aber in Koenens Buch wird ganz deutlich, dass die politische Radikalisierung auf widersprüchliche Weise grundiert und flankiert wurde von den sozial- und kulturgeschichtlichen Umbrüchen der Zeit. In einer anregenden Mischung aus autobiographischer Reflexion und wissenschaftlicher Forschung untersucht Koenen die Entstehung des teilweise extrem autoritären Dezisionismus und macht dabei deutlich, dass die informalisierte Alltagskultur gegenüber der radikalen Politik letztendlich die Oberhand behielt. Auch wenn im Schwung der skeptischen Selbsterforschung manche positiven Momente der “Kulturrevolution” gleich mit über Bord gehen, so wird doch deutlich, dass die Grenzen, an die die linksradikalen Organisationen schnell gerieten, nicht nur von einer desinteressierten Gesellschaft gesetzt wurden, sondern nicht zuletzt von den Akteuren selbst. Es waren vor allem junge Intellektuelle, die die Spannung zwischen politischer Disziplin und hedonistischem Lebensstil nur begrenzte Zeit aushielten. Ihr Utopieüberschuss ging noch über die zeittypische Reformeuphorie hinaus, aber in ihrer Praxis verspürten sie bald die Grenzen des Machbaren. Unter den laborähnlichen Bedingungen dieser abgeschotteten Mobilisierungsaggregate differenzierten sich aufgrund der hohen inneren Spannungen einzelne Elemente wieder stärker heraus, die noch in den Jahren 1967/68 auf bis dahin ungekannte Art miteinander verschmolzen waren. Die Fusion heterogener Transformationsströme war so auffällig, dass schon die Zeitgenossen sich an einer historischen Wegmarke wähnten, ohne sich freilich einen Reim darauf machen zu können: “Das Schauspiel ist verwirrend. Mitwirkende sind eine konsumierende und eine demonstrierende, eine narzißtisch mit sich selbst beschäftigte und eine aktivistisch sich engagierende Jugend, Chelsea-girls und Rote Garden, Rudi Dutschke und Twiggy.”53 Heute ist die Forschung dabei, dieses generationelle Gesamtkunstwerk des Jahres 1967 zu entschlüsseln. Dabei ist den politik- und ideengeschichtlichen Aspekten bislang die meiste Aufmerksamkeit gewidmet worden. Sehr viel magerer sieht die Bilanz im Hinblick auf sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte aus. Und schließlich stellt das Phänomen der Fusion selbst eine charakteristische Besonderheit der Dekade dar und müsste eigens untersucht werden.

Inzwischen zeichnet sich bereits ein deutlicher Schwerpunkt der Forschung in einem Feld ab, das im weiteren Sinne als “politische Kultur” bezeichnet werden kann. So liegen neuere Arbeiten zum geschichtspolitischen Wandel in der Frage der Wiedervereinigung vor, mehrere laufende Projekte widmen sich der zeittypischen Planungseuphorie und die vielfältigen Forschungen zur “Vergangenheitsbewältigung” in den 60er Jahren sind inzwischen dabei, sich zu einer regelrechten Subdisziplin zu entwickeln.54 Was die sozialgeschichtlichen Verläufe betrifft, so kann man sich inzwischen auf einzelnen Feldern auf gesicherterem Boden bewegen — das betrifft etwa den Wandel katholischer Milieus, die Umstände und Folgen der zunehmenden Beschäftigung von Arbeitsmigranten oder den Strukturwandel der Polizei.55 Eine Vielzahl einschneidender sozialer Prozesse allerdings ist bislang noch nicht untersucht worden. Dies betrifft etwa die Auswirkungen der Bildungsreform, die Folgen des wirtschaftlichen Strukturwandels und der Medialisierung für das Verhältnis von Stadt und Land, die Folgen der Delegitimation des Militärischen für die Bundeswehr und für die Sozialisation junger Männer. Auch die Frage, wann, inwieweit und in welchen gesellschaftlichen Teilbereichen es eigentlich zu einem generationellen Umbruch in den Eliten kam, stellt ein Desiderat dar.

Allerdings sind auch die kulturellen Umbrüche keineswegs schon erschöpfend untersucht, wie man angesichts des schillernden Bildes vermuten könnte, das gerade derartige Erscheinungen in der öffentlichen Wahrnehmung hinterlassen haben. Vielmehr handelt es sich hier um ein besonders schwer zu erkundendes Terrain. Am ehesten sind hier noch die Entwicklungen auf dem Gebiet der Literatur untersucht, während Studien für andere Bereiche oftmals gänzlich fehlen. Eines der dringlichsten Desiderata besteht in einer genaueren Analyse jenes “Strukturwandels der Öffentlichkeit”, den Jürgen Habermas just zu dem Zeitpunkt in einer historischen Perspektive beschrieben hat, als ein vergleichbarer Wandel vonstatten ging.56 Derartige Untersuchungen müssten sich nicht nur den Konzentrationsprozessen auf dem Zeitschriftenmarkt und dem Aufstieg des Fernsehens aus produktiven wie rezeptiven Blickwinkeln widmen — hier sind immerhin in den letzten Jahren einige Überblickswerke und vereinzelt auch Detailstudien erschienen —, sondern auch jene Ausdifferenzierung in den Blick nehmen, die mit der Entstehung einer Vielzahl von “alternativen” Medien entstand und eine Pluralisierung der Medienlandschaft erheblich beförderte.57 Auch ist nach wie vor nicht viel bekannt über die Rolle, die Presse, Radio und Fernsehen bei der Berichterstattung über die Studentenproteste spielten.58 Immer wieder wird zwar in der Literatur auf die Bedeutung jener “Gegenkultur” verwiesen, in der sich eine “alternative” Infrastruktur mit eigenen kulturellen und politischen Elementen herausbildete.59 Doch liegen über ihren zahlenmäßigen Umfang und ihre soziale Zusammensetzung ebenso wenig historisierende Analysen vor wie über die Motivlagen der Akteure, Bindekraft der Milieus, räumliche und institutionelle Strukturen oder über die Mechanismen der konsumindustriellen Vereinnahmung von Impulsen aus diesem Spektrum.60 Überhaupt ist das widersprüchlich-produktive Wechselspiel von Massenkultur und “Gegenkulturen” noch nicht näher untersucht. Dies betrifft etwa die Entstehung einer spezifisch jugendlich geprägten Popkultur, ihre materiellen Bestimmungsfaktoren und sozialen Reichweiten, ihren Charakter als Konsumfaktor und politisches Medium. Als ein wesentliches Element der “Verwestlichung” ist der in den 60er Jahren einsetzende massenhafte Individualtourismus bislang kaum betrachtet worden. Auch andere Elemente, die im Kielwasser der Konsumkultur die Massenstile veränderten, hedonistische Züge verstärkten und asketische Ideale zurückdrängten, gehören zu den Desiderata. So ist nicht weiter untersucht, inwieweit etwa körperliche “Schönheit” gegen den energischen Widerstand des traditionalistischen Konservatismus zu einem allgemein akzeptierten Statusmerkmal wurde — darauf jedenfalls deutet nicht zuletzt der Aufstieg der Kosmetik- und Modeindustrie sowie bestimmter Typen von Stars hin.61 Überhaupt ist noch nicht klar, wann und auf welche Weise sich der von Uta Poiger herausgearbeitete „Cold-War-Liberalismus“ des avanciertesten Teils der politischen Klasse auch in den Niederungen der Gesellschaft kulturell durchsetzte.62 Auch wenn im Zuge der Debatten um eine “Amerikanisierung” und “Westernisierung” inzwischen bereits zahlreiche Aspekte der Einbindung in ein westliches Kontroll- und Impulssystem genauer untersucht wurden, so stellt sich doch nach wie vor die Frage, wie es im Laufe der 60er Jahre zu der auffälligen Parallelität einer rasch sich vertiefenden kulturellen “Westernisierung” auf der einen und einem ebenso zunehmenden politischen “Antiamerikanismus” auf der anderen Seite kommen konnte. Als Eckpunkte einer empirischen Analyse dieses Spannungsbogens bieten sich die Reaktionen der Westdeutschen auf den neuen amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy auf der einen und auf den Vietnamkrieg auf der anderen Seite an. Der Dekolonialisierungsprozess, der zwischen den 40er und 70er Jahren viele europäische Gesellschaften veränderte, berührte auch die Bundesrepublik, die keine Kolonien mehr in die Selbständigkeit zu entlassen hatte. Nationale Befreiungsbewegungen, Rassenunruhen in den USA, die Erfolgsgeschichte der Blues- und Soul-Musik, kirchliche und politische “Dritte-Welt”-Initiativen — all dies verband sich zu einem veränderten Diskurs über “das Fremde” und “das Eigene”, über “Rasse” und die Rolle Westdeutschlands in einer globalisierten Welt. Und schließlich ist auch der Wandel in der öffentlichen Thematisierung der Sexualität kaum wissenschaftlich untersucht — obwohl an diesem Thema möglicherweise härter als an allen anderen die kulturellen Grundsatzpositionen der 60er Jahre aufeinander prallten. Besonders dringlich erscheinen eingehendere Untersuchungen über die Folgewirkungen jener Trennung von Sexualität und Fortpflanzung, die mit der Einführung der “Pille” möglich wurde. Während erste Anhaltspunkte für vergangenheitspolitische Kampfstellungen an der “Sexfront” (Günter Amendt) inzwischen vorliegen, so fehlt es noch an breiteren Analysen zur sozialen Praxis einer “befreiten Sexualität” oder auch zur kulturindustriellen Verwertung in Gestalt eines expandierenden Pornographiemarktes.63 Eine genauere Betrachtung der hier exemplarisch angedeuteten sozial- und kulturgeschichtlichen Aspekte könnte auch näheren Aufschluss geben über den Verlauf jenes “Wertewandels”, dessen Beginn von der einschlägigen Forschung in den frühen 60er Jahren angesetzt wird. Zwar wurde “1968” schon verschiedentlich thesenhaft als erste Manifestation des Übergangs zu einer “postindustriellen” oder “postmodernen” Gesellschaft interpretiert, aber auch hier stellt sich die Frage, wann genau dieser Prozess in welchen gesellschaftlichen Teilbereichen begann, auf welche Weise er sich durchsetzte und inwiefern sich die Verhaltensnormen der Zeitgenossen veränderten.64

Es spricht vieles dafür, die sozial- und kulturgeschichtlichen Prozesse in einem engen Wechselverhältnis mit politikgeschichtlichen Tendenzen zu betrachten. In den 60er und 70er Jahren verabschiedete der Bundestag eine ganze Reihe einschneidender Reformvorhaben, die soziale und kulturelle Wandlungsprozesse gesetzlich kodifizierten, die sich in den vorangegangenen Jahren zu beträchtlichen Teilen bereits vollzogen hatten. Beispielsweise dokumentierten sich die einschneidenden generationellen Verschiebungen der 60er Jahre in der Herabsetzung des Wahlalters von 21 auf 18 Jahre im Jahre 1970 und in der entsprechenden Herabsetzung der Volljährigkeit im Jahre 1974. Christine von Oertzen hat für ihr Untersuchungsobjekt beispielhaft gezeigt, wie soziale und kulturelle Transformationen von unten entstanden, die auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene allmählich die Normen veränderten. Aus historischer Langzeitperspektive fand in den 60er Jahren ein ungewöhnlich schneller und tiefgreifender Wandel der Sozialkultur statt. Aus der Slow-motion-Perspektive des genauer hinsehenden Historikers betrachtet, handelt es sich dabei allerdings um allmähliche und nach Region, Interessengruppe, Festigkeit der jeweiligen Dogmensysteme ungleichzeitige und von mitunter starken Widerständen begleitete Veränderungen. Von Oertzen zeigt auch, auf welche Weise derartige Wandlungsprozesse vonstatten gingen. Es handelte sich um ein “komplexe[s] Zusammenspiel von öffentlichen Debatten, Rechtsprechung und der Ausbildung der Rechtsstaatlichkeit, von sozial- und arbeitsmarktpolitischen Kursänderungen, sozialrechtlichen Reformen, politischen Machtverschiebungen, sozialen Praktiken, subjektiven Erfahrungen und Handlungen”.65 Die Auseinandersetzung um die Teilzeitarbeit ist ein Musterbeispiel dafür, dass derartige Verschiebungen im kulturellen Selbstverständnis auf verschiedenen Ebenen der Gesellschaft gleichzeitig vonstatten gingen und dabei Mehrheiten gewannen. Dass ein signifikanter Wandel in diesem Fall schließlich bereits vor der Geburtsstunde der neuen Frauenbewegung zustandegekommen ist, wirft ein neues Licht auch auf das Verhältnis von geschlechterpolitischer Transformation auf der einen und feministischer Radikalisierung auf der anderen Seite. Nimmt man Koenens Ergebnisse hinzu, so deutet vieles darauf hin, dass vor der überschießenden Radikalität der politischen Forderungen in den späten 60er und frühen 70er Jahren die vielen tiefgreifenden Liberalisierungs- und Demokratisierungstendenzen geradezu verschüttet wurden, die sich bis dahin bereits vollzogen hatten und eine wichtige Ausgangsbasis für diese Radikalisierung abgaben.

Wenn man die langen 60er Jahre als eine eigenständige Periode des Wandels analysieren will, dann emanzipieren sich die Jahre bis 1967 von dem Makel, lediglich eine “Inkubationszeit” von “1968” gewesen zu sein.66 Bis heute stellt dieses “kalendarische Etikett” (Wolfgang Kraushaar) in der öffentlichen Wahrnehmung zweifellos das “most enduring symbol”67 der 60er Jahre dar — nicht zuletzt wohl deshalb, weil zumeist offen bleibt, was damit jeweils gemeint wird. Fasst man es zumindest zeitlich etwas präziser, so bezieht es sich im Kern auf die Jahre 1967 bis 1969.68 Doch was genau in diesem Zeitraum eventuell wie und in welche Richtung beschleunigt wurde, kann erst angemessen herausgearbeitet werden, wenn es in einer langen Linie gesehen wird. Das empirisch bislang überzeugendste Periodisierungsraster für die Analyse dieser langen Linie hat Arthur Marwick vorgeschlagen, der die Jahre 1958 bis 1963 als Gärungsphase einer “Cultural Revolution” sieht, die ihre Hochzeit in den “High Sixties” zwischen 1964 und 1969 erlebte, denen dann zwischen 1969 und 1974 — “Everything Goes” — eine Phase der Ausdifferenzierung und Pluralisierung folgte.69 Die künftige Forschung muss zeigen, inwieweit dieses Raster auch für die westdeutschen Verläufe Gültigkeit beanspruchen kann. Mag sein, dass Marwick aus britischer Perspektive “1968” weniger stark gewichtet als dies aus westdeutscher Sicht geschehen müsste.70 Auch gibt es Hinweise darauf, dass am Übergang von 1966 zu 1967, unabhängig von und noch vor den Schüssen auf Benno Ohnesorg, auf manchen Feldern ein qualitativer Sprung stattfand — sichtbar etwa im Durchbruch der Jugendmode, in der Präsenz “progressiver” Popkultur in den Medien oder im explosionsartigen Anstieg der Kriegsdienstverweigererzahlen. Insofern spricht manches dafür, bei der Analyse der westdeutschen Verläufe die Jahre 1967 bis 1969 besonders aufmerksam zu untersuchen, aber eben nicht von den „langen“ 60er Jahren zu isolieren.

Anmerkungen:
1 Hermann Korte, Eine Gesellschaft im Aufbruch. Die Bundesrepublik Deutschland in den sechziger Jahren, Frankfurt/M. 1987.
2 Claus Leggewie, 1968 ist Geschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 22-23/2001, S. 3-6.
3 Ingrid Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998 (vgl. die Rezension von Axel Schildt in H-SOZ-U-KULT vom 4.1.1999: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=123) sowie Carole Fink, Philipp Gassert, Detlef Junker (Hrsg.), 1968. The World Transformed, Washington, D.C., Cambridge 1998.
4 Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften, Hamburg 2000. Vgl. die Rezension von Thomas Etzemüller in: H-SOZ-U- KULT vom 26.2.2001: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1229.
5 Vgl. die Tagungsberichte von Dorothee Linnemann und Christiane Streubel in AHF-Informationen, Nr. 19 vom 24.3.2000 sowie Christoph Classen, “Naturtrüb”: Die 60er Jahre zwischen Planung und Protest, in: H-SOZ-U-KULT vom 10.7.2000.
6 So etwa die Tagung: Coming to Terms with the Past in West Germany: The 1960s, German Historical Institute, Washington, D.C., University of Nebraska, Universität Heidelberg, April 2001. Vgl. den Tagungsbericht von Philipp Gassert und Alan Steinweis in: Bulletin of the German Historical Institute, Nr. 30, Spring 2002, S. 153-164.
7 Vgl. auch die Literaturberichte von Wolfgang Kraushaar, Der Zeitzeuge als Feind des Historikers? Neuerscheinungen zur 68er-Bewegung, in: Mittelweg 36, 8. Jg., 1999, H.6, S. 49-72 und Christoph Jünke, Den Ursprung historisieren? Ein Literaturbericht zum 30. Jubiläum der Revolte von 1968, in: 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, 16. Jg., 2001, H. 2, S. 159-184, die sich auf „1968“ und die „68er-Bewegung“ konzentrieren, sowie Klaus Weinhauer, Zwischen Aufbruch und Revolte: Die 68er-Bewegungen und die Gesellschaft der Bundesrepublik der sechziger Jahre, in: Neue Politische Literatur, 46. Jg., 2001, S. 412-432, der den Bezugsrahmen weiter schneidet. Nur ein Teil der im fraglichen Zeitraum erschienenen Publikationen kann hier näher besprochen werden. Unter den weiteren zeitgeschichtlich interessanten Veröffentlichungen findet sich etwa: Marica Tolomelli, “Repressiv getrennt” oder “organisch verbündet”. Studenten und Arbeiter 1968 in der Bundesrepublik Deutschland und Italien, Opladen 2001. Eine ganz eigene Konjunktur erleben autobiographische Veröffentlichungen, die z.T. wesentliche Informationen und atmosphärisch dichte Eindrücke bieten. So z.B. Dieter Kunzelmann, Leisten Sie keinen Widerstand! Bilder aus meinem Leben, Berlin 1998; Ulrike Heider, Keine Ruhe nach dem Sturm, Hamburg 2001 oder jetzt Uwe Wesel, Die verspielte Revolution. 1968 und die Folgen, München 2002.
8 Dies zeigt für andere westliche Länder jetzt überzeugend: Arthur Marwick, The Sixties, Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c.1958-c.1974, Oxford 1999. In der Zäsur am Anfang des Zeitraums übereinstimmend und für die 50er Jahre grundlegend: Axel Schildt, Arnold Sywottek, Modernisierung im Wiederaufbau. Die westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993; Axel Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und “Zeitgeist” in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995. Vgl. demgegenüber jetzt Hanna Schissler (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949-1968, Princeton, Oxford 2001, die den Bruch wiederum im Jahre 1968 lokalisiert.
9 Elisabeth Noelle, Erich Peter Neumann (Hrsg.), Jahrbuch der öffentlichen Meinung 1968-1973, Allensbach 1974, S. 209.
10 Klaus Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001. Vgl. zum Folgenden auch Robert G. Moeller, War Stories. The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley 2001.
11 Ulrich Herbert spricht mit Blick auf die Lebensweisen und politischen Einstellungen von einem “Lernprozeß” der “Liberalisierung”, der in den 60er Jahren einen erheblichen Schub erfahren habe. An dieser Stelle kann nur annotierend hingewiesen werden auf den soeben erschienenen Sammelband: Ulrich Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002.
12 Anselm Döring-Manteuffel, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. Vgl. auch Axel Schildt, Sind die Westdeutschen amerikanisiert worden? Zur zeitgeschichtlichen Erforschung kulturellen Transfers und seiner gesellschaftlichen Folgen nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 50/2000, S. 3-10.
13 Ronald Inglehart, Kultureller Umbruch. Wertewandel in der westlichen Welt, Frankfurt/M., New York 1989; Helmut Klages (Hrsg.), Werte und Wandel. Ergebnisse und Methoden einer Forschungstradition, Frankfurt/M. 1992.
14 Dennis L. Meadows, Die Grenzen des Wachstums. Bericht des Club of Rome zur Lage der Menschheit, Reinbek 1973.
15 Als Beispiele für weitere Arbeiten mit vergleichbarer Öffnungsfunktion für sozial- und kulturgeschichtliche Zusammenhänge: Volker Ackermann, Der “echte” Flüchtling. Deutsche Vertriebene und Flüchtlinge aus der DDR 1945-1961, Osnabrück 1995; Habbo Knoch, Die Tat als Bild. Fotografien des Holocaust in der deutschen Erinnerungskultur, Hamburg 2001; Karl Lauschke, Die Hoesch-Arbeiter und ihr Werk. Sozialgeschichte der Dortmunder Westfalenhütte während der Jahre des Wiederaufbaus 1945-1966, Essen 2000.
16 Uta G. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley, Los Angeles, London 2000.
17 Christine von Oertzen, Teilzeitarbeit und die Lust am Zuverdienen. Geschlechterpolitik und gesellschaftlicher Wandel in Westdeutschland 1948-1969, Göttingen 1999.
18 Wolfgang Ruppert (Hrsg.), Um 1968. Die Repräsentation der Dinge, Marburg 1998.
19 Stefan Gauß, Das Erlebnis des Hörens. Die Stereoanlage als kulturelle Erfahrung, in: ebd., S. 65-93.
20 Wolfgang Ruppert, Um 1968 — Die Repräsentation der Dinge, in: ebd., S. 11-45.
21 Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen, Petra Boden (Hrsg.), Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich Wissenschaft — Literatur — Medien, Berlin 2000.
22 Rainer Rosenberg, Die sechziger Jahre als Zäsur in der deutschen Literaturwissenschaft. Theoriegeschichtlich, in: ebd., S. 153-179; Petra Boden, Probleme mit der Praxis. Hochschulgermanistik zwischen Wissenschaft, Bildung/Erziehung und Politik, in: ebd., S. 181-225.
23 Helmut Peitsch, “Warum wird so einer Marxist?” Zur Entdeckung des Marxismus durch bundesrepublikanische Nachwuchsliteraturwissenschaftler, in: ebd., S. 125-151.
24 Wolfgang Kraushaar, 1968 als Mythos, Chiffre und Zäsur, Hamburg 2000. Darin die Aufsätze “Rudi Dutschke und die Wiedervereinigung” (S. 89-129), “Die neue Unbefangenheit. Zum Neonationalismus ehemaliger 68er” (S. 172-195), “Die erste globale Revoltion” (S. 19-52) und “Die transatlantische Protestkultur” (S. 53-80).
25 Vgl. dazu Michael A. Schmidtke, Reform, Revolte oder Revolution? Der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) und die Students for a Democratic Society (SDS) 1960-1970, in: Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968, S. 188-206.
26 Etienne François, Matthias Middell, Emmanuel Terray, Dorothee Wierling (Hrsg.), 1968 - ein europäisches, Leipzig 1997.
27 Immanuel Wallerstein, 1968 — Revolution im Weltsystem, in: ebd., S. 19-36 sowie Giovanni Arighi, Terence Hopkins, Immanuel Wallerstein, 1989 — Die Fortsetzung von 1968, in: ebd., S. 147-164.
28 Beate Fietze, “A spirit of unrest”. Die Achtundsechziger-Generation als globales Schwellenphänomen, in: Rosenberg, Münz-Koenen, Boden, S. 3-25.
29 Dazu im Detail Fink, Gassert, Junker, 1968.
30 Michael Kimmel, Studentenbewegungen der 60er Jahre. Frankreich, BRD und USA im Vergleich, Wien 1998.
31 So Philipp Gassert, Pavel A. Richter (Hrsg.), 1968 in West Germany. A Guide to Sources and Literature of the Extra-Parliamentarian Opposition, Wahington, D.C.: The German Historical Institute 1998 (=Reference Guide No. 9), S. 8.
32 Ingrid Gilcher-Holtey, Die 68er Bewegung. Deutschland — Westeuropa — USA, München 2001.
33 Vgl. die Einleitung zu Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968, S. 7-10 sowie dies., “Die Phantasie an die Macht”. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt/M. 1995, S. 15-22.
34 Vgl. außerdem: Olaf Dinné, Jochen Grünwaldt, Peter Kuckuk (Hrsg.), anno dunnemals: 68 in Bremen, Bremen 1998 sowie die Monographie von Lothar Strogies, Die Außerparlamentarische Opposition in Nürnberg und Erlangen, Erlangen 1996.
35 Venanz Schubert (Hrsg.), 1968. 30 Jahre danach, St. Ottilien 1999.
36 Kurt Holl, Claudia Glunz, Satisfaction und Ruhender Verkehr. 1968 am Rhein, Köln 1998.
37 Stefan Hemler, Von Kurt Faltlhausen zu Rolf Pohle: Die Entwicklung der studentischen Unruhe an der Ludwig-Maximilians-Universität München in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, in: Schubert (Hrsg.), 1968, S. 209-242.
38 Marita Krauss, 1968 und die Frauenbewegung, in: ebd., S. 133-162; Hans Günter Hockerts, “1968” als weltweite Bewegung, in: ebd., S. 13-34.
39 Hans-Ulrich Thamer, Die NS-Vergangenheit im politischen Diskurs der 68er-Bewegung, in: Westfälische Forschungen, Bd. 48, 1998, S. 39-53; Kristina Schulz, „Bräute der Revolution“: Kollektive und individuelle Interventionen von Frauen in der 68er-Bewegung und ihre Bedeutung für die Formierung der neuen Frauenbewegung, in: ebd., S. 97-116.
40 Franz-Werner Kersting, Entzauberung des Mythos? Ausgangsbedingungen und Tendenzen einer gesellschaftsgeschichtlichen Standortbestimmung der westdeutschen “68er”-Bewegung, in: ebd., S. 1-19.
41 Wilhelm Damberg, Bernd Feldhaus und die “Katholische Gesellschaft für Kirche und Demokratie” (1968-1972), in: ebd., S. 117-125; Traugott Jähnichen, Norbert Friedrich, Krisen, Konflikte und Konsequenzen — Die “68er-Bewegung” und der Protestantismus an der Ruhr-Universität Bochum, in: ebd., S. 127-155; Thomas Großbölting, Zwischen Kontestation und Beharrung. Katholische Studierende und die Studentenbewegung, in: ebd., S. 157-189.
42 Franz-Werner Kersting, Psychiatriereform und ‘68, in: ebd., S. 283-295.
43 Detlef Bald, Bundeswehr und gesellschaftlicher Aufbruch 1968. Die Widerstände des Militärs in Unna gegen die Demokratisierung, in: ebd., S. 297-309.
44 Olaf Bartz, Konservative Studenten und die Studentenbewegung: Die “Kölner Studenten-Union” (KSU), in: ebd., S. 241-255.
45 Wolfgang Kraushaar (Hrsg.), Frankfurter Schule und Studentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotowcocktail. 1946-1995, 3 Bde., Hamburg 1998.
46 Lutz Schulenburg (Hrsg.), Das Leben ändern, die Welt verändern! 1968. Dokumente und Berichte, Hamburg 1998.
47 Wolfgang Kermer (Hrsg.), “1968” und die Akademiereform. Von den Studentenunruhen zur Neuorganisation der Stuttgarter Akademie in den siebziger Jahren, Ostfildern/Ruit 1998.
48 Protest! Literatur um 1968. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs in Verbindung mit dem Germanistischen Seminar der Universität Heidelberg und dem Deutschen Rundfunkarchiv, Marbach 1998.
49 Max Weber, Die “Objektivität” sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: Max Weber. Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 71988, S. 166.
50 Gassert, Richter, 1968.
51 Thomas P. Becker, Ute Schröder (Hrsg.), Die Studentenproteste der 60er Jahre. Archivführer — Chronik — Bibliographie, Köln 2000.
52 Gerd Koenen, Das rote Jahrzehnt. Unsere kleine deutsche Kulturrevolution 1967-1977, Köln 2001. Vgl. zu diesem Spektrum jetzt auch die Dissertation von Michael Steffen, Geschichten vom Trüffelschwein. Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes 1971 bis 1991, Göttingen 2002.
53 Der Spiegel, Nr. 41/1967, S. 156.
54 Der Forschungsschub zur NS-Debatte wird sichtbar in der o.a. Konferenz in Lincoln/Nebraska von 2001 sowie jetzt in einigen Beiträgen in: Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse. Zum Konzept der Planung vgl. Michael Ruck, Ein kurzer Sommer der konkreten Utopie — Zur westdeutschen Planungsgeschichte der langen 60er Jahre, in: Schildt, Siegfried, Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten, S. 362-401 sowie die Beiträge in der Sektion “Planung als Reformprinzip” auf der Münsteraner Konferenz von 2000. Zur Geschichtspolitik siehe Edgar Wolfrum, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Der Weg zur bundesrepublikanischen Erinnerung 1948-1990, Darmstadt 1999. Vgl. außerdem Frank Biess, “Russenknechte” und “Westagenten”. Kriegsheimkehrer und die (De)legitimierung von Kriegsgefangenschaftserfahrungen in Ost- und Westdeutschland nach 1945, in: Naumann (Hrsg.), Nachkrieg, S. 59-89.
55 Wilhelm Damberg, Abschied vom Milieu? Katholizismus im Bistum Münster und in den Niederlanden 1945-1980, Paderborn 1997. Zur Migrationsgeschichte jetzt Karen Schönwälder, Einwanderung und ethnische Pluralität. Politische Entscheidungen und öffentliche Debatten in Großbritannien und der Bundesrepublik von den 1950er bis zu den 1970er Jahren, Essen 2001; Archiv für Sozialgeschichte, 42. Bd., 2002. Zur Polizeigeschichte aus dem Zusammenhang eines inzwischen abgeschlossenen Habilitationsprojekts: Klaus Weinhauer, „Staatsbürger mit Sehnsucht nach Harmonie“ — Gesellschaftsbild und Staatsverständnis in der westdeutschen Polizei, in: Schildt, Siegfried, Lammers (Hrsg.), Dynamische Zeiten, S. 444-470.
56 Vgl. jetzt Christina von Hodenberg, Die Journalisten und der Aufbruch zur kritischen Öffentlichkeit, in: Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse, S. 315-347.
57 Vgl. zur Mediengeschichte Knut Hickethier (unter Mitarbeit von Peter Hoff), Geschichte des deutschen Fernsehens, Stuttgart, Weimar 1998; Jürgen Wilke (Hrsg.), Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1999 sowie als Beispiel für ergiebige thematische Analysen: Christoph Classen, Bilder der Vergangenheit. Die Zeit des Nationalsozialismus im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland 1955-1965, Köln 1999.
58 Vgl. allerdings Stuart J. Hilwig, The Revolt Against the Establishment: Students Versus the Press in West Germany and Italy, in: Fink, Gassert, Junker, 1968, S. 321-350.
59 Vgl. dazu die anregende Skizze von Jakob Tanner, “The Times They Are A-Changin’” Zur subkulturellen Dynamik der 68er Bewegungen, in: Gilcher-Holtey (Hrsg.), 1968, S. 206-223.
60 Vgl. allerdings zu letzterem Aspekt die erhellenden Thesen von Walter Grasskamp, Die große Maskerade. Kritik der Kulturrevolution, in: ders., Der lange Marsch durch die Illusionen. Über Kunst und Politik, München 1995, S. 11-54.
61 Vgl. dazu Marwicks Analyse für andere westliche Länder: Marwick, Sixties, S. 404ff.
62 Tendenziell bestätigt werden ihre Ergebnisse allerdings schon jetzt von einer Arbeit, die sich auch dem Wandel der Mode widmet: Dora Horvath, Bitte recht weiblich! Frauenleitbilder in der deutschen Frauenzeitschrift “Brigitte” 1949-1982, Zürich 2000.
63 Vgl. zum ersten Aspekt: Dagmar Herzog, “Pleasure, Sex and Politics Belong Together”: Post-Holocaust Memory and the Sexual Revolution in West Germany, in: Critical Inquiry 24, 1998, S. 393-444; dies., Antifaschistische Körper. Studentenbewegung, sexuelle Revolution und antiautoritäre Kindererziehung, in: Naumann (Hrsg.), Nachkrieg, S. 521-551.
64 Claus Leggewie, 1968: Ein Laboratorium der nachindustriellen Gesellschaft? Zur Tradition der antiautoritären Revolte seit den sechziger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 20/1988, S. 3-15; Wolfgang Eßbach, Protestbewegung, Scheinrevolution, postmoderne Revolte? Nachdenken über “68”, ungedr. Vortragsmanuskript v. 1997.
65 von Oertzen, Lust, S. 13.
66 So noch Jürgen Habermas, in: Peter Dews (Hrsg.), Autonomy and Solidarity. Interviews with Jürgen Habermas, London/New York 1992, S. 230 sowie Heinz Bude, Das Altern einer Generation. Die Jahrgänge 1938-1948, Frankfurt/M. 1995, S. 55.
67 Gassert, Richter, 1968, S. 7.
68 So der Periodisierungsvorschlag von Kraushaar, 1968, S. 8.
69 Marwick, Sixties.
70 Allerdings spricht selbst er an anderer Stelle von einer “68er Revolution”: Arthur Marwick, Die 68er Revolution, in: Peter Wende, Große Revolutionen der Geschichte. Von der Frühzeit bis zur Gegenwart, München 2000, S. 312-332.

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