S. Jenzer: Private Erziehungsheime für junge Frauen

Titel
Die »Dirne«, der Bürger und der Staat. Private Erziehungsheime für junge Frauen und die Anfänge des Sozialstaates in der Deutschschweiz, 1870er bis 1930er Jahre


Autor(en)
Jenzer, Sabine
Reihe
Zürcher Beiträge zur Geschichtswissenschaft 3
Erschienen
Köln 2014: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
449 S.
Preis
€ 64,90
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Karsten Laudien, Deutsches Institut für Heimerziehungsforschung, Berlin

Sabine Jenzer beschäftigt sich in der Druckfassung ihrer Dissertation mit einem Themenfeld, das durch die Aufdeckung einer Reihe von Heimerziehungsskandalen in den letzten Jahren europaweit für Aufmerksamkeit sorgt. Sie leistet so einen Beitrag zur geschichtlichen Bewältigung der ambivalenten Rolle von Fürsorgebemühungen und deren Einrichtungen. Die Arbeit ist als Teil eines Forschungsprojektes entstanden, das vom Schweizer Nationalfond gefördert wurde und sich um die Rekonstruktion von „Integrations- und Ausschlussmechanismen im Schweizer Nationalstaat“ bemühte.

Konkret geht es Jenzer um die Darstellung des Umgangs mit der Prostitution junger Frauen in der Zeit des sich formierenden Schweizer Sozialstaats. Der Zeitraum ist von 1870 (erste Aktivitäten der sogenannten Sittlichkeitsbewegung) bis zur staatlichen Institutionalisierung der Fürsorge (1930) gewählt und die lokalen Schwerpunkte bilden die reformierten Kantone Basel-Stadt, Bern und Zürich.

Das Thema ist dadurch gekennzeichnet, dass die betroffenen Frauen keine Zeugnisse hinterlassen haben und ihr Schicksal sich allein aus der Interpretation dessen ergibt, was die im Dienste der Fürsorge tätigen Instanzen über sie schreiben. Jenzer verortet sich in der Foucaultschen Diskursanalyse, ohne dass das allerdings im Weiteren sichtbar würde. Sie versucht, die „Geschichte des Schweigens“ derer zu erzählen, die bloßer Diskursgegenstand sind und in dieser Rolle diejenige Gemeinschaft bildet, die durch Exklusion und Fürsorge (Schutz und Repression, Unterstützung und Disziplinierung, Hilfe und Kontrolle) die Geschichte schreibt.

Die Autorin bearbeitet dieses Programm in vier Themenkreisen. Es soll erstens die auf privater Initiative gründende Arbeit der protestantischen Sittlichkeitsvereine und ihrer Heimeinrichtungen (Fürsorgekonzepte, Leitideen) rekonstruiert werden. Zweitens soll die nach der Jahrhundertwende sich formierende staatliche Fürsorge untersucht werden. Drittens wird der Zusammenhang beider Bereiche betrachtet und schließlich soll das Leben der jungen Frauen innerhalb dieser Zusammenhänge eingefangen werden.

Entstehung und inhaltliche Ausrichtung der Vereine zeugen vom Kontext der normativen Aufladung des Sexuellen im Zeitraum der Untersuchung. Das drückt sich bereits in den gebrauchten Terminologien aus, wenn von „Gefallenen“ und „Gefährdeten“, denen Häuser zur „Rettung“ errichtet werden, die Rede ist. Mit einer gewissen Notwendigkeit scheint die christliche Motivation das sexuelle Verhalten des Klientels in der Sprache der Rettung und des Verderbens zu fassen und bringt damit die aufkommende sozialstaatliche Fürsorge in die Tradition der heilgeschichtlichen Bedeutung sexueller Begierden, Praktiken und Objekte, die die Formierung eines bürgerlichen Familienbildes begleitet hat.

Äußerst verdienstvoll ist, dass sehr viele Details zur Geschichte von Einrichtungstypen erhoben und verarbeitet werden. Es wird etwa darauf hingewiesen, dass die Sittlichkeitsvereine in der Tradition der Zucht- und Waisenhäuser, der Armenerziehungsanstalten und der katholischen Magdalenien standen (S. 168ff.). Sabine Jenzer bringt die von ihr ins Zentrum gestellten Heimeinrichtungen aber auch in die Linie der irischen Heime, die 2002 Gegenstand eines bekannten Filmes wurden („Magdalene Sisters“), an anderer Stelle weist sie auf die Tradition der Frauenhäuser hin (S. 248). Exemplarisch vollzieht sie die Finanzierung, Einweisungsmodalitäten, Personal, Angaben über die Zöglinge (Alter, Herkunft, Konfession) nach.

Insbesondere die Einweisungsgründe böten einer weitergehenden Interpretation Raum. Es wird zum Beispiel mit Recht auf unscharf verwendete Charakterisierungen hingewiesen („liederlich“, „leichtsinnig“, „gefährdet“ usw.), die wegen ihrer „paraphrastischen Kapazität“ (S. 192) für vielerlei Maßnahmen zur Rechtfertigung herangezogen werden konnten. In diese Kategorie gehört auch der im deutschsprachigen Raum verbreitete Begriff der „Verwahrlosung“, der in Kombination mit weiteren Einweisungsgründen nach Einschätzung von Jenzer genauer untersucht werden müsste. Dazu zählen aber auch sexuelle Aspekte. Es wird aus den Quellen der betreffenden Einrichtung erhoben, dass die meisten Frauen aufgrund einer sexuellen Auffälligkeit/Normabweichung eingewiesen wurden. Dieser Befund lässt sich andernorts noch 1966 nachweisen. Aber was besagt das? Worauf gründet die vermeintliche Evidenz oder die Begründungskraft dieser aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbaren Einweisungsgründe? Jenzer erklärt diese zunächst auf der Ebene der Quellen. Dass zum Beispiel selbst Vergewaltigungsopfer zu den „Gefallenen“ zählten, wurde dadurch begründet, dass der Akt das Opfer verdirbt, in ihm Triebe weckt, die durch einen Heimaufenthalt gebändigt werden sollen. Andererseits versucht sie plausibel zu machen, dass die paraphrastische Kapazität der unbestimmten Rechtsbegriffe dahingehend interpretiert werden kann, dass sich das Selbstbild der sich konstituierenden Bürgerlichkeit Gegenbilder ersinnt, die zur Abgrenzung dienen. Das Buch stellt exemplarisch die „bürgerliche Tochter“ dem „Arbeitermädchen“ gegenüber. Eine Ursache der „Gefallenheit“ (neben Armut, „Faulheit“ etc.) wird darin gesehen, dass die Unfähigkeit zum rechten Haushalten eine Ursache für den sittlichen Verfall darstellt; ein ungeordnetes Hauswesen (das ist gewissermaßen der Gegenbegriff zur „bürgerlichen Ökonomie“) ist deshalb ursächlich für sittliche Auffälligkeit (S. 196). Entsprechend lassen sich die Erziehungsziele darin zusammenfassen, dass von der einen auf die andere Seite („bürgerliche Sittlichkeit“) erzogen werden soll.

Es ist bemerkenswert, dass in den Sittlichkeitsvereinen durchaus auch „spezifische“ pädagogische Maßnahmen ersonnen wurden, insofern auch die Ursache der Misere in den Blick genommen wurde. Dieser Beobachtung entspricht der Befund, dass die Arbeit der Einrichtungen nicht einfach auf „Kontrolle“ und „Disziplinierung“ reduziert werden kann (S. 248), sondern sie weitere klientenorientierte Hilfen anboten (z.B. das Anstreben von Gerichtsverfahren gegen Vergewaltiger, Schul- und Berufsausbildung, Nahrung, usw.). Dass diese Bestrebungen aus heutiger Sicht nicht den religiös überhöhten Dualismus rechtfertigen, der das Selbstverständnis „barmherziger Wohltäterinnen“ bildete und den sie als göttliche Sendung an die „Verirrten“ verstanden (S. 249), braucht nicht unterstrichen zu werden. Dass die Kehrseite der Sozialfürsorge die Verkennung ihres repressiven Potentials darstellt, war damals noch nicht entdeckt und ist heute schon wieder von denen vergessen, die die Geschichte auf diesen Dualismus reduzieren.

Zwei kritische Bemerkungen. Im Kapitel zu den theoretischen und methodischen Überlegungen (S. 30–35) wird eine Reflexionstradition, die von poststrukturalistischen Ansätzen, Intersektionalität, icon turn, Netzwerkforschung und der These der Sozialdisziplinierung ausgeht, herangezogen. Hier werden Erwartungen geweckt, die das Buch aber nicht wirklich einlöst. Jenzer versucht vielmehr, sehr viel Stoff in sachlicher und chronologischer Abfolge sprechen zu lassen und erzählend eine Form der Wissenssicherung vorzunehmen. Die methodische Reflexion bleibt dem Inhalt des Buches zumeist äußerlich. Zum Beispiel wird an mehreren Stellen von einem Normalisierungsdruck gesprochen, der von der sich bildenden Bürgerlichkeit ausging und zur Etablierung der Heimerziehung für sexuell normabweichende Jugendliche geführt habe (z.B. S. 265). Diese These würde es verdienen, am Material geprüft und reflektiert zu werden. Gerade auch deshalb, weil das moralische Milieu, das in diese Richtung Druck erzeugte, sich „basisdemokratisch“ formierte, das heißt von der „Bevölkerung“ ausging und sich gegen die „Reglementierung“ aussprach und die Bildung der Sittlichkeitsvereine beförderte (S. 82ff.). Aber die Interpretation des reichlich und gründlich erarbeiteten Materials fällt wohltuend vorsichtig aus. Auch dass an einer Stelle ein „asymmetrisches setting“ ausgemacht werden konnte, verdankt sich meines Erachtens keiner der hier angeführten Methoden.

Zweitens ist der „roten Faden“ des Buches nicht durchgängig erkennbar. Zwar erschwert die Fülle des verarbeiteten Stoffes, ein durch inhaltlich aufeinander aufbauende Stoffmomente sich gegenseitig erklärendes Gesamtbild zu erarbeiten. Bedauerlich ist aber, dass dadurch eine durchgehende Fragestellung und ein inhaltlicher Spannungsbogen nicht hinreichend sichtbar werden. Das ist vor allem deshalb zu bedauern, weil die detailliert und kenntnisreich erarbeiteten Sachverhalte eine über das Erzählen hinausgehenden Reflexion verdient hätten.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/