M. Popović u.a.: Istorija privatnog života u Srba

Titel
Istorija privatnog života u Srba [Geschichte des privaten Lebens bei den Serben].


Autor(en)
Popović, Marko; Timotijević, Miroslav; Ristović, Milan
Erschienen
Anzahl Seiten
Preis
RSD 2.592,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Milan Kosanovic, Universität Bonn

Gesellschaftsgeschichte ist, in der noch immer eher ereignis- und politikgeschichtlich ausgerichteten historischen Forschungstradition in Serbien, relativ wenig präsent. Doch im Umfeld des 2013 verstorbenen Belgrader Historikers Andrej Mitrović hat sich eine historische Schule etabliert, die sich schon seit den 1970er-Jahren mit Mentalitätsgeschichte im breiteren Sinne befasst. Aus dem von Mitrović seit 1974 geleiteten „Runden Tisch“ über Gesellschaftsgeschichte entwickelte sich 1994 ein Jahrbuch (Godišnjak za društvenu istoriju). Vier Jahre später wurde, wieder auf Mitrovićs Betreiben, das Udruženje za društvenu istoriju – UDI (Verein für Gesellschaftsgeschichte) in Belgrad gegründet, welches heute etwa 120 Mitglieder zählt. Zu den Gründern gehörte auch einer der Autoren des hier besprochenen Werkes, Milan Ristović, der Andrej Mitrović auch als Leiter des Lehrstuhls für Allgemeine Zeitgeschichte an der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad folgte.

Thematische Schwerpunkte der serbischen Gesellschaftshistoriker sind insbesondere die Wirtschaftsgeschichte, Kulturgeschichte, Sozialgeschichte, Geschlechtergeschichte, Religionsgeschichte sowie Geschichte von familiären Beziehungen. Unabhängig von Mitrovićs Schule ist 1994 in Deutschland ein für Serbien bedeutendes Werk erschienen, welches 2004 vom Belgrader Verlag „Clio“ in serbischer Übersetzung verlegt wurde: Die Sozialgeschichte Serbiens 1815–1941 von Marie-Janine Calic. Calic hatte die erste umfangreiche sozialgeschichtliche Untersuchung Serbiens vorgelegt und ergänzte damit die Arbeiten der serbischen Kollegen. Ihr Buch ist inzwischen als Standardwerk an entsprechenden Lehrstühlen serbischer Hochschulen anerkannt.

Zwischen 2004 und 2007 hatte der auf geisteswissenschaftliche Literatur spezialisierte Belgrader Verlag „Clio“ bereits eine Buchreihe über das private Leben der Serben seit dem Mittelalter herausgegeben. Daran waren auch zwei Autoren der hier besprochenen Publikation beteiligt: der Kunsthistoriker Miroslav Timotijević und der Historiker Milan Ristović, die beide als Professoren an der Universität Belgrad lehren. Auch die serbische Übersetzung der Publikation von Philippe Ariès und Georges Duby „Histoire de la vie privée“, ist 2003 bei „Clio“ erschienen. 2011 hat sich „Clio“ dem privaten Leben bei den Serben erneut gewidmet.

Die „Geschichte des privaten Lebens bei den Serben“, die hier besprochen wird, ist in drei Teile gegliedert. Der Archäologe und wissenschaftliche Mitarbeiter am Archäologischen Institut der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Marko Popović, hat die mittelalterliche Epoche bearbeitet. Miroslav Timotijević die Neuzeit bis zum Berliner Kongress und Milan Ristović die Zeit vom Berliner Kongress bis 1990.

Unter dem Titel „Rahmen des Alltags“ behandelt Popović neben dem Leben der adeligen, auch das der städtischen und ländlichen Bevölkerung sowie des Klerus im Mittelalter – darunter vor allem das Leben der Mönche in den Klöstern, was wahrscheinlich der besseren Quellenlage zu verdanken ist. Er beschreibt einerseits die Lebenskultur der unterschiedlichen Stände, andererseits auch die sozialen Verbindungen innerhalb der Gemeinschaften. Der Autor deutet zum Beispiel auf heute noch vorhandene architektonische Strukturen hin, die wiederum auf die Existenz einer Tradition der Großfamilie im 20. Jahrhundert hinweisen, wie sie schon für das Mittelalter nachgewiesen ist. Im zweiten Kapitel unter dem Titel „Erkenntnisse über die Welt“ widmet er sich einigen Aspekten des Lebens wie dem Reisen, der Kriegführung, aber auch der Kleidung, den Krankheiten und der Heilung sowie schließlich dem Tod. Popović vermeidet es vollständig politische Rahmenbedingungen zu beschreiben. Diese Methode fällt auf und hinterlässt beim Leser streckenweise ein unvollständiges Gefühl. Vielleicht setzt er diese voraus, doch eher scheint es, dass seine Methode diese schlicht ausklammert. Die radikale Vermeidung jeglicher politischer Information ist zumindest ungewöhnlich und erinnert den Leser, dass von den drei Autoren nur einer ein Historiker ist.

Während sich Popović auf Serbien im Mittelalter begrenzen konnte, hat es der Kunsthistoriker Timotijević in seinem Teilbereich mit einem Serbien zu tun, das sich zunächst auf der Peripherie eines Großreiches befand, welches sich zeitweise über drei Kontinente ausstreckte. Serbien hatte mit dem Ende des Mittelalters seine Selbständigkeit verloren und wurde in das Osmanische Reich integriert. Durch den Frieden von Passarowitz (1718) kam Serbien an die Peripherie des Habsburger Reiches, deren Herrschaft zwar nur einige Jahrzehnte andauern aber der kulturelle, wirtschaftliche und politische Einfluss bis zum Zerfall beider Großreiche Anfang des 20. Jahrhunderts nicht mehr nachlassen sollte. Zudem wurde zwischen 1804 und 1812 bzw. ab 1817 unter osmanischer Souveränität (bis 1878) das Fürstentum Serbien Schritt für Schritt selbständig. Timotijević definiert daher zunächst den „geopolitischen Rahmen“. Darin untersucht er den Raum und die Zeit, bezogen auf den Primärgegenstand seiner Analyse – die Serben.

In Folge der osmanischen Eroberungen und der darauf folgenden Herrschaft der Hohen Pforte in Südosteuropa kam es zu erheblichen Bevölkerungsverschiebungen auf dem Balkan. Raum und Zeit sind demnach ganz wesentliche Kategorien bei zeitlich ausgedehnten Untersuchungen in Südosteuropa. Die Bevölkerungsverschiebung hatte unter anderem zur Folge, dass seit der Frühen Neuzeit der südungarische Raum stetig auch durch Serben besiedelt wurde. Im zweiten Teil widmet sich der Autor dem Individuum bzw. dem Leben einzelner Personen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er der Kleidung, der Sexualität, der Krankheit, der schriftlichen Kommunikation und der Bildung. Die Unterschiede zwischen den beiden Großreichen hebt der Autor innerhalb der einzelnen Unterkapitel hervor.

Aufgrund der besseren Quellenlage liegt sein Schwerpunkt auf dem Gebiet der heutigen Vojvodina im damaligen Südungarn und den ebenfalls von Serben besiedelten Ortschaften um Budapest wie z.B. Szentendre (Sankt Andrä). Das private Leben in der Familie ist Gegenstand des dritten Kapitels von Timotijevićs Teilbereich. Darin behandelt er Themen wie Familie, Ehe, Frau, Kind, Wohnhaus, Einrichtung. Schließlich untersucht er in seinem letzten Kapitel das private Leben im öffentlichen Raum. Im Zentrum seines Interesses stehen Aspekte wie Gastfreundschaft, Familienfeste, Freundschaft, Gaststätten, Vereinswesen, Reisen.

Der Historiker Ristović behandelt die Probleme Raum und Zeit gleich in seinem ersten Kapitel. Der Berliner Kongress 1878 brachte Serbien die ersehnte Unabhängigkeit, aber nicht in den erhofften Grenzen. Im einleitenden Kapitel beschreibt der Autor die Veränderungen, die sich in Bezug auf die Bevölkerung und das Territorium im untersuchten Zeitraum ergaben. Serbien hatte 1878 knapp zwei Millionen Einwohner. 14 Prozent lebten davon in den wenigen Städten. Nur sechs Städte im unabhängigen Serbien hatten mehr als 10.000 Einwohner. In Belgrad, der größten Stadt, wurden 1874 etwa 27.600 Einwohner gezählt. Im 20. Jahrhundert stiegen die Bevölkerungszahlen teilweise stark an – insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg. Ein weiteres Problem, welches Ristović behandelt, ist die Veränderung der ethnischen Strukturen durch die Veränderung des Territoriums. Je größer das Territorium des serbischen Nationalstaats wurde, desto größer wurde auch die Zahl der ethnischen Minderheiten in Serbien. Durch die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen (Königreich SHS), seit 1929 Königreich Jugoslawien, ist die territoriale Einheit und die Tradition Serbiens zugunsten eines größeren Staates aufgegeben worden. Die föderalen Einheiten im Königreich SHS/Jugoslawien folgten bewusst keinen ethnischen und historischen Grenzen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die historischen und teilweise auch die ethnischen Grenzen wieder hergestellt. Serbien wurde mit seinen zwei autonomen Provinzen eine der sechs föderalen Einheiten des sozialistischen Jugoslawien. Der Autor weist darauf hin, dass wegen völlig unterschiedlicher Verwaltungsstrukturen zwischen dem Königreich Jugoslawien und dem sozialistischen Jugoslawien vergleichbare statistische Quellen für Bevölkerungsanalysen fehlten.

In seinen weiteren Kapiteln fokussiert Ristović auf verschiedene Aspekte des privaten Lebens: Ehe, Körper, Sexualität, Kinder, das Verhältnis des Staates zur Privatsphäre, öffentlicher Raum, Religion, Kleidung, Nahrung usw. In einem weiteren Kapitel behandelt er die Räume in denen sich das Private mit dem Öffentlichen trifft, also Orte zum „Ausgehen“. In diesem Kapitel wird auch der sozialistische Versuch die Gesellschaft (zu) rasch zu modernisieren beschrieben – „die sozialistische instant Modernisierung“, wie der Autor diesen Versuch bezeichnet. Gleichzeitig untersucht er die Begleitphänomene der Modernisierung, wie die Abwanderung der Bevölkerung vom Land in die Stadt einhergehend mit einer stetigen Wohnungsnot in den Städten. Ristović verfolgt keine chronologische Linie, so kommt er erst zum Ende seines Teilbereichs zum Thema Krieg. Darin behandelt er sowohl den Ersten, als auch den Zweiten Weltkrieg und deren Folgen für das private Leben. Flucht, Vertreibung, Lagerhaft werden allerdings im Verhältnis zu den übrigen Themen kurz behandelt, da gerade die beiden Weltkriege kaum jemanden in Serbien nicht betroffen haben. Auf der anderen Seite wurden die Folgen der zwei Weltkriege in den anderen Kapiteln beschrieben, denn viele soziale Phänomene, die Ristović beschrieben hat, sind vor allem den Weltkriegen zu verdanken. Schließlich beendet Ristović seinen Teilbereich mit dem Tod.

Hervorzuheben ist überdies die ausführliche Bibliographie am Ende des Bandes. Diese wird nicht nur der interessierte Leser, sondern auch der Fachleser außerhalb Serbiens sehr zu schätzen wissen.

Den Autoren ist hervorragend gelungen eine Synthese aus dem ersten, weitaus größeren Projekt über das private Leben, welches „Clio“ zwischen 2004 und 2007 verlegt hat, vorzulegen. Sowohl das erste umfangreiche Projekt als auch der hier vorliegende Band beabsichtigen das international ausgerichtete Standardwerk „Geschichte des privaten Lebens“, das von Ariès, Duby und Veyne herausgegeben wurde und in deutscher Übersetzung 1989–1993 erstmalig erschienen ist, zu ergänzen. Diese Absicht ist mit der „Geschichte des privaten Lebens bei den Serben“ sehr gut gelungen.

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