A. Baerwolf: Mutterschaft und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland

Cover
Titel
Kinder, Kinder! Mutterschaft und Erwerbstätigkeit in Ostdeutschland. Eine Ethnografie im Generationenvergleich


Autor(en)
Baerwolf, Astrid
Reihe
Göttinger Studien zur Generationsforschung 4
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
320 S.
Preis
€ 34,90
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Dr. Sarah Speck, Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main

In ihrer generationenvergleichenden Ethnographie nimmt Astrid Baerwolf kulturelle Wandlungsprozesse von Mutter- und Elternschaftskonzepten sowie Arbeitsbiographien von Frauen in Ostdeutschland in den Blick. Aus historisch-ethnographischer Perspektive untersucht sie „Erfahrungen, Ideologien, innerfamiliäre Tradierungen sowie ökonomische und soziale Rahmenbedingungen“, die berufliche und kinderbezogene Wünsche, Entscheidungen und Praktiken bestimm(t)en (S. 9). Dabei unterscheidet und vergleicht die Autorin drei „Müttergenerationen“: „DDR-Mütter“, die ihre Kinder in den 1960er- und 1970er-Jahre aufzogen, „Wendemütter“, deren Familiengründungsphase in die Transformationszeit der sogenannten Wiedervereinigung fiel, und „Nachwendemütter“, die ihre Kinder im postsozialistischen Ostdeutschland der 2000er-Jahre geboren haben. Die Generationalisierung geht folglich von den biographischen Zeitpunkten der Geburt der Kinder und des Berufseintritts der befragten Frauen aus. Baerwolf versteht den Generationenbegriff in Anlehnung an die Überlegungen Karl Mannheims als „erfahrungsgeschichtliche Kategorie“ (S. 26), die ermöglichen soll, Tradierungs- und Transformationsprozesse sozialer Realitäten zu erfassen. Sie bezeichnet diese drei als „stille Erfahrungsgenerationen“, die bestimmte Generationenthemen verhandeln und so auf zeitspezifische „Mentalitätsfigurationen“ (Norbert Elias) verweisen.

Die methodisch an der Grounded Theory orientierte Untersuchung wurde in einem sehr spezifischen Kontext respektive Milieu durchgeführt – die Autorin sprach mit 25 Müttern aus Marzahn-Hellersdorf, einem der kinderreichsten Bezirke in Berlin. Sie greift zudem auf Daten aus einer standardisierten Erhebung von Verwandschaftsnetzwerken sowie aus ihrer teilnehmenden Beobachtung in verschiedenen vergemeinschaftenden Veranstaltungen im „klein- und gutbürgerlichen“ Teil des Bezirks zurück (Krabbelgruppe, Elternklön und Seniorennachmittag in der ansässigen evangelischen Gemeinde und Veranstaltungen eines SOS-Familienzentrums). Schließlich führte sie Expertinneninterviews, die aus professioneller Perspektive Aufschluss über zeitspezifische Trends zu Mutterschaft und Erziehungsstilen geben sollten. Baerwolf sieht die Erkenntnisse aus ihrer Studie und der „ethnographischen Konstruktion generationeller Fallminiaturen“ zwar nicht als repräsentativ für weibliche Erwerbsbiographien und Mutterschaftskonzepte in Ostdeutschland an (S. 15) – dennoch versucht sie Entwicklungen zu beschreiben, die über diesen spezifischen lokalen Kontext hinausreichen.

Die Arbeit gliedert sich in zwei Teile. Nach der Einleitung, in der Fragestellung, Forschungsdesign und Feldzugang expliziert werden, und einem ersten Kapitel, in dem die Erzählung der „voll berufstätigen Mutti“ als master narrative der DDR und als bis heute wirkmächtige soziale Erzählung rekonstruiert wird, folgen drei Kapitel, die die biographischen Erzählungen der Mütter in den Fokus rücken. Dabei zeigt die Autorin, dass das Narrativ der Vollerwerbstätigkeit als zentrales Deutungsmuster in allen drei Generationen fungiert – selbst wenn die Realität, sprich die individuellen Entscheidungen und Berufsbiographien von Müttern in der DDR, wie anhand dieser Studie abermals deutlich wird, vielfach davon abwich. Anhand zahlreicher Interviewpassagen und einiger Portraits zeigt die Autorin die (Um-)Deutungen und Transformationen dieser sozialen Erzählung und entschlüsselt spezifische „Generationenthemen“. Baerwolf zufolge begegneten die „DDR-Mütter“ den Maßnahmen des Staates zur Vollerwerbstätigkeit von Frauen mit mehr oder weniger ambivalenter Affirmation; bei den „Wendemütter“ hingegen schlugen sich diese als „inkorporierte Selbstverständlichkeit“ nieder (S. 72) – eine volle Berufstätigkeit stand für sie nicht in Frage, stattdessen sind ihre biographischen Erzählungen geprägt von notwendigen Anpassungsleistungen beim Berufseinstieg in der Transformationszeit der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten. Die „Nachwendemütter“ hingegen distanzieren sich vom Leitbild der vollerwerbstätigen Mutter. Das Zitat „das schafft man doch gar nicht“ steht für ein wiederkehrendes Muster: Während die „DDR-Mütter“ die Frage der Vereinbarkeit von Beruf und Kindern in den Interviews nicht thematisieren oder gar problematisieren, wird diese für die „Nachwendemütter“ zum zentralen Thema ihrer (berufs)biographischen und lebensweltlichen Entscheidungen.

Der zweite weniger einzelbiographisch orientierte Teil der Studie versteht sich als „Geschichte von Generationsstilen des Elternseins“ (S. 166) in Ostdeutschland. Er beginnt mit einem allgemeineren und zugleich konzisen Kapitel über kulturelle Kodierungen von Kindheit und Elternschaft, in der die Genese der Idee der Mutterliebe und der modernen Vorstellungen von Familie und Mutterschaft sowie der ebenso jungen kulturellen Konzeption einer „schönen Kindheit“ nachgezeichnet wird, die auf unterschiedliche Weise im ideologischen Wettstreit der beiden deutschen Staaten zum Einsatz kam. Die darauffolgenden zwei Kapitel beleuchten die soziokulturellen Bedingungen von Elternschaft in der DDR sowie in der (Nach-)Wendezeit: In Kapitel sechs konturiert die Autorin die sozialistische Entfamilisierungspolitik, die Re-Familisierungstendenzen im Zuge der „Muttipolitik“ der 1970er-Jahre sowie das weit verbreitete „pragmatische Elternverständnis“, das sich auch in ihrem Interviewmaterial findet. Kapitel sieben schildert die Re-Privatisierung der Kindererziehung und die „Ausweitung der Elternschaft“ im Kontext der Wendejahre. Baerwolf stellt damit zum einen die Transformation der Bedingungen von Mutterschaft in den 1990er-Jahren dar, die viele in der DDR aufgewachsenen Frauen als Rückzug des Staates aus der Verantwortung und als „Überfrachtung der Elternrolle nach westdeutschem Vorbild“ interpretierten, und zum anderen die daraus folgenden veränderten Sozialisationsbedingungen im Kontext einer verlängerten Kindheit und Jugend, die auf einer geringeren Durchlässigkeit sozialer Räume gründet und in der Eltern und insbesondere Mütter nicht nur länger sondern auch intensiver in die Pflicht genommen werden.

Das zeitdiagnostisch ausgerichtete abschließende Kapitel acht stellt die vor allem aus der teilnehmenden Beobachtung generierten Ergebnisse zu gegenwärtigen mütterlichen Haltungen und Praktiken vor. Diese fasst Baerwolf in praxeologischer Orientierung als zeitintensives „doing mother“, im Rahmen dessen das Kind als Projekt respektive als Medium der Selbstentfaltung erscheint. Die neue, sich in einer spezifischen Distinktionslogik vollziehende Zentrierung auf Mütterlichkeit der Nachwendemütter bezeichnet sie als „Professionalisierung des Mütterlichen“, die sich im Wechselspiel von Vergemeinschaftungspraktiken in peer-groups und der intensiven Rezeption von Expertendiskursen um gute Mutterschaft vollzieht und sich zudem auch in den beruflichen Werdegängen niederschlägt: Die Frauen entschieden sich allesamt für eine reduzierte Erwerbstätigkeit und spezifische „Mütterjobs“ (sie arbeiteten als Tagesmutter, Stillberaterin, Vermittlerin von Kind-Kuren oder ähnliches). Damit wird Baerwolf zufolge ein Kapitalientransfer vollzogen, in dessen Zuge gut ausgebildete Mütter ihre Kapitalien verstärkt in ihre Kinder und ihre Handlungskompetenzen als Mütter statt in ihre Berufsbiographien investieren (S. 280). Zugleich eröffnen sie sich ein Berufsfeld, das die „Verbreitung von Fürsorge-, Investitions- und Erziehungsnormen beinhaltet“ (S. 292) und stellen so eine Kontinuität zwischen ihren familiären, sozialen und beruflichen Aktivitäten her. Care wird hier also gänzlich anders organisiert als zwei Generationen zuvor bei den „DDR-Müttern“ – Baerwolf spricht von „neuen Care-Ökonomien“ in Ostdeutschland und in Anlehnung an Silke Chorus1 von einer spezifischen „Widerspruchsbearbeitung zwischen kapitalistischer Produktion und individueller Reproduktion“. Die „entgrenzte Mütterlichkeit“ versteht Baerwolf als „neotraditionelle und – in ihrer historischen Genese – spezifisch ostdeutsche Reaktion auf den individualisierenden Vereinbarkeitsdruck“ auf Frauen mit Kindern (S. 299), die einige Schattenseiten birgt: etwa einen Rückzug aus der Öffentlichkeit und in Mütterräume sowie das Risiko von Altersarmut und Statusverlust, um nur zwei davon zu nennen.

Astrid Baerwolf hat eine sehr lesenswerte Studie verfasst, die nicht nur für die Geschlechter- und Generationenforschung interessante Ergebnisse beinhaltet. Sie gibt auch Aufschluss über Genese und Wandel von Elternstilen in BRD und DDR und die Debatten um Erziehung vor und im Zuge der Zusammenführung der beiden deutschen Staaten. Die materialreiche Darstellung vermittelt zudem eindrücklich die Auswirkungen der Transformationsprozesse der 1990er-Jahre in Ostdeutschland auf Arbeitsbiographien und Lebensentscheidungen von Frauen. Baerwolfs Studie konturiert unterschiedliche soziokulturelle Bedingungen weiblicher Subjektivierung und arbeitet mit ihren Befunden zudem die widersprüchliche Gemengelage der Gegenwart heraus. Ein Einwand, der sich im Zuge der Lektüre allerdings aufdrängt, betrifft die Reichweite ihrer Thesen: So einleuchtend die Ergebnisse auch sind, sie sind insbesondere als milieuspezifische Reaktionen auf Zwänge aus der gegenwärtigen Struktur der Erwerbswelt sowie der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Organisation von Reproduktionsarbeit zu verstehen. Astrid Baerwolf konzentrierte sich in ihrer Untersuchung auf relativ gut ausgebildete Frauen in mittleren Einkommenslagen in einem klein- und gutbürgerlichen Bezirk; die befragten Personen verfolgen bürgerliche Ideale und messen etwa dem Eigenheim einen sehr hohen Wert zu. Doch ist davon auszugehen, dass es in anderen Regionen und lokalen Kontexten (Ost-)Deutschlands respektive in anderen Milieus, etwa in akademischen Milieus mit höherer Erwerbsorientierung, zu anderen Entscheidungen, Begründungsfiguren und Selbstverständnissen als Mütter kommt. Eine explizitere Kontextualisierung im Schlusskapitel und nicht nur in Fußnoten hätte die Argumentation der Studie sicherlich nicht schwächer, sondern eher noch stärker gemacht.

Anmerkung:
1 Silke Chorus, Ökonomie, Geschlecht und Kultur integral gedacht: Kultur als Textur des Sozialen, in: ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften, 1/2009, S. 107–110.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension