N. Wachsmann u.a. (Hrsg.): Die Linke im Visier

Cover
Titel
Die Linke im Visier. Zur Errichtung der Konzentrationslager 1933


Herausgeber
Wachsmann, Nikolaus; Sybille Steinbacher
Reihe
Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 14
Erschienen
Göttingen 2014: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Kurt Schilde, Gedenkstätte Deutscher Widerstand

Die internationale Herkunft der für die Herausgabe und die Studien verantwortlichen Autoren und Autorinnen ist ein wichtiges Merkmal dieses Sammelbandes zur frühen Geschichte des Nationalsozialismus in Deutschland. Die Beiträge des 14. Bandes der Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte stammen je zur Hälfte von englischen und deutschen sowie männlichen und weiblichen Fachleuten. Beides ist sowohl positiv wie leider noch nicht alltäglich. Mit dieser Vorausschau können hohe Erwartungen geweckt werden, und – um es vorwegzuschicken – diese werden auch voll und ganz befriedigt.

Die an der Universität Wien lehrende Zeithistorikerin Sybille Steinbacher ist Projektleiterin des Dachauer Symposiums zur Zeitgeschichte und hat den Band gemeinsam mit dem am Birkbeck College der Universität London tätigen Nikolaus Wachsmann herausgegeben. Wachsmann gibt zunächst einen Überblick über den Terror gegen links – die von der NS-Bewegung als „Marxisten und Bolschewisten“ verfolgten „Sozialdemokraten, Sozialisten, Gewerkschaftsfunktionäre und vor allem Kommunisten“ (S. 7). Die Verschleppung in die frühen Konzentrationslager hatte das zentrale Ziel: „Die Arbeiterorganisationen zu brechen.“ (S. 8) Der frühe Terror traf aber auch andere Menschen, wie „einige aus rassischen Gründen verfolgte deutsche Juden.“1 Während Kommunisten eher pauschal verfolgt worden sind, gerieten im sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Teil der Arbeiterbewegung vor allem Spitzenfunktionäre ins Visier der Verfolger. Wachsmann erinnert an die von Beginn an öffentliche Dimension des Terrors und früh publizierte Augenzeugenberichte darüber. In Bezug auf die Historiographie konstatiert er einen Perspektivenwechsel: Das Forschungsinteresse am politischen Terror hat nachgelassen, demgegenüber ist zunehmend der Rassenterror untersucht worden, verbunden mit einer Verlagerung der Aufmerksamkeit von der Gewalt der Vorkriegszeit zum Massenmord im Zweiten Weltkrieg. In der frühen Zeit des Terrors überlagerten sich die verschiedenen Feindbilder: „Juden sah man als politische Agenten der Linken, und linke Sympathisanten waren verdächtig, Juden zu sein, was sinnfällig Ausdruck im Konstrukt des ‚Judeo-Bolschewismus‘ fand. Am Terror in den frühen Lagern zeigt sich auch, wie Rassenhass oftmals den politischen Hass verstärkte.“ (S. 21)

Nach diesem über eine normale Einführung weit hinausreichenden Forschungsüberblick berichtet Michael Schneider (früher Leiter des Historischen Forschungszentrums der mit der SPD verbundenen Friedrich-Ebert-Stiftung) aus dem Fundus seiner Forschungen über das Ende der Arbeiterbewegung 1933. Er kommt zu dem Fazit: „Alle Zweige der Arbeiterbewegung unterschätzten den Machtwillen und die Rücksichtslosigkeit der Nationalsozialisten.“ (S. 46) Eine offene Frage bleibt, ob eine kommunistische, sozialistische oder gewerkschaftliche Perspektive zu einem ähnlichen oder vielleicht auch anderen Resultat gekommen wäre.2

Die Rolle der Gewalt der SA beim Aufstieg des Nationalsozialismus wird von Richard Bessel exemplarisch behandelt. Er erinnert an die Terrorwelle bereits im August 1932 in Ostpreußen und Schlesien – unter anderem den Mord an einem kommunistischen Sympathisanten in Potempa – und die Rolle von NSDAP und SA: Die Gewaltaktionen gegen Linke wurden „nicht vorrangig von der obersten Führung der NSDAP und der SA geplant und durchgeführt, sondern mehr toleriert, bejaht und benutzt, um politische Ziele zu erreichen“ (S. 59). Die Unterdrückung dieses Terrors erfolgte durch schnelles und effektives Eingreifen des Staates. Es zeigte sich, „wie wichtig es für die Nationalsozialisten war, sich die staatliche Macht zu sichern, damit Polizei und Justiz sie unterstützten und nicht bekämpften“ (S. 60). Tatsächlich ist es nach dem Januar 1933 innerhalb von nur drei Monaten gelungen, die KPD und SPD sowie die Freien Gewerkschaften in Ostpreußen und Schlesien auszuschalten. Die enge Kooperation mit dem alten Polizeiapparat zeigt auch die Untersuchung des SA-Terrors in der Frühphase der NS-Herrschaft in der Reichshauptstadt durch Irene von Götz in den „frühen Konzentrationslagern“. Diese Terrorstätten bildeten zu Beginn der NS-Herrschaft ein „wirkungsvolles Repressionsmittel“ (S. 81), mit dem sich das neue Regime 1933 schnell etablieren konnte.

Im Zentrum der folgenden vier Studien steht das Geschehen im Konzentrationslager Dachau, welches in verschiedenen Facetten behandelt wird. Den Terror der SS hat Christopher Dillon unter der Fragestellung „Situationsbedingt oder Rache?“ untersucht. Daran anschließend geht Barbara Distel auf die ersten Morde im Konzentrationslager Dachau ein. Dirk Riedel hat sich das Verhältnis zwischen kommunistischen und sozialdemokratischen Häftlingen angesehen: „Durch ihre zahlenmäßige Überlegenheit, ihre spezifische Organisationsform und die längere Erfahrung im Konzentrationslager Dachau befanden sich die kommunistischen Häftlinge 1933 in einer stärkeren Position als die Sozialdemokraten.“ (S. 134) Die Versuche der SS-Wachmannschaften, die Konflikte zwischen beiden Häftlingsgruppen zu verschärfen, verloren im Laufe der Jahre durch die Inhaftierung anderer Häftlingsgruppen an Bedeutung.

Kim Wünschmann richtet ihren Blick auf die „Geschichte der jüdischen politischen Häftlinge“ (S. 142) im frühen Konzentrationslager Dachau. Sie hat festgestellt, dass der frühe KZ-Terror der Beschleunigung des gesellschaftlichen „Entsolidarisierungsprozesses“ zwischen Juden und Nichtjuden sowie der „wirkungsvollen Zementierung antisemitischer Feindbilder“ (S. 143) diente. Die Hälfte der 22 in Dachau 1933 zu Tode gekommen Gefangenen waren Juden. Für ihre Dachauer Fallstudie konnte sie die Namen von 112 jüdischen Häftlingen ermitteln, die 1933/34 in das KZ verschleppt wurden – eine im Vergleich zu anderen frühen Konzentrationslagern hohe Zahl. Sie kommt zu der Schätzung, dass die „durchschnittliche Stärke der jüdischen Häftlingsgruppe zwischen 60 und 80 Mann gelegen haben muss“ (S. 144). Im Fazit ihres exzellenten Aufrisses stellt Wünschmann fest, „dass die Todesrate unter den jüdischen politischen Häftlingen im Vergleich zu der aller Dachauer Gefangenen des Jahres 1933 am höchsten war. […] Für die als ‚jüdische Bolschewisten‘ verunglimpften Häftlinge hatte die ideologisch-entfesselte Gewalt allzu oft tödliche Konsequenzen“ (S. 159 f.).

Die auf den frühen NS-Terror fokussierten Studien werden ergänzt durch einen Beitrag von Paul Moore zur öffentlichen Reaktion auf den NS-Terror und das von Daniel Siemens stammende biografische Beispiel des Kriminalisten Albrecht Böhme. Gabriele Hammermann geht auf die gesellschaftliche Rolle der ehemaligen politischen Häftlinge des KZ Dachau in den ersten Jahren nach dem Ende des NS-Regimes ein.

Der frühe NS-Terror richtete sich vorrangig gegen die „Linke“, besaß aber zugleich auch deutliche antisemitische Züge. Diese wichtige Facette hat der Sammelband deutlich herausgestellt. Die Erforschung des frühen Terrors durch Angehörige der etablierten Geschichtswissenschaft wie der Nachwuchsgeneration hat dabei den Schatten der Holocaust-Forschungen verlassen. Der künftigen Forschung würde es gut tun, sich an den hier präsentierten Untersuchungen zu orientieren.

Anmerkungen:
1 Dieses Desiderat wird durch eine bereits abgeschlossene und zwei in der Entstehung befindliche Dissertationen aufgearbeitet: Kim Wünschmann, Before Auschwitz. Jewish Prisoners in the Prewar Concentration Camps, Cambridge, Ms. 2015; Karoline Georg, Manifestation der Ausgrenzung. Das Konzentrationslager Columbia als Instrument der Judenverfolgung in Berlin, und Julia Pietsch, Stigmatisierung von Juden in frühen Konzentrationslagern. Die Häftlinge der ‚Judenkompanie‘ des Konzentrationslagers Oranienburg 1933/34, beide in: Marco Brenneisen / Christine Eckel / Laura Haendel / Julia Pietsch (Hrsg.), Stigmatisierung – Marginalisierung – Verfolgung, Berlin 2015 (im Erscheinen).
2 Vgl. Bernhard H. Bayerlein, Deutscher Kommunismus und transnationaler Stalinismus – Komintern, KPD und Sowjetunion 1929–1943. Neue Dokumente zur Konzeptualisierung einer verbundenen Geschichte, in: Hermann Weber / Jakov Drabkin / Bernhard H. Bayerlein / Aleksandr Galkin (Hrsg.), Deutschland, Russland, Komintern. I. Überblicke, Analysen, Diskussionen. Neue Perspektiven auf die Geschichte der KPD und die Deutsch-Russischen Beziehungen (1918–1943), Berlin 2014; Willy Buschak, Arbeit im kleinsten Zirkel. Gewerkschaften im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Essen 2015.

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