A. Kaldellis: Ethnography After Antiquity

Cover
Titel
Ethnography After Antiquity. Foreign Lands and Peoples in Byzantine Literature


Autor(en)
Kaldellis, Anthony
Reihe
Empire and After
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 275 S.
Preis
$ 75,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Daniel Syrbe, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas, Universität Leipzig

Im Mittelpunkt dieser literaturgeschichtlichen Studie des Byzantinisten Anthony Kaldellis steht die Frage, warum in der mittelbyzantinischen Historiographie des 7. bis 13. Jahrhunderts nur wenig an Ethnographie zu finden ist. Im Gegensatz dazu habe Ethnographie zu den wichtigsten „sub-genres“ der spätantiken und frühbyzantinischen Literatur gehört und in spätbyzantinischer Zeit einen erneuten Aufschwung erfahren. Kaldellis fasst ethnographische Exkurse als „system of representation“ auf: Nicht Realismus, sondern die analytischen Absichten des Autors im Kontext seiner eigenen Gesellschaft seien ausschlaggebend für Art und Weise der Darstellung des Fremden (S. VIII). Dieser Ansatz ist dem zahlreicher neuerer Arbeiten zur Darstellung von Fremdheit und Identität in der Literatur der Antike und des Mittelalters vergleichbar.1

Das Buch ist in fünf Kapitel und einen kurzen Epilog gegliedert. Im ersten Kapitel umreißt Kaldellis am Beispiel von Prokop, Agathias und Theophylakt die Funktion ethnographischer Exkurse in der spätantiken Historiographie („Ethnography in Late Antique Historiography“, S. 1–25). Diese seien als Statements in Diskursen innerhalb der römischen Gesellschaft zu lesen. Das aus der klassisch-antiken Literatur tradierte Bild einer Differenz zwischen Römern und Barbaren fortführend sei eine grundsätzliche moralische und kulturelle Überlegenheit der Römer konstatiert worden. Für römische Rezipienten sei Ethnographie aber zugleich auch ein Spiegel kritischer Selbstvergewisserung und sollte zum Nachdenken über die eigene Gesellschaft anregen (S. 10–25).

Im zweiten Kapitel fragt Kaldellis, woher byzantinische Autoren Informationen über „foreign peoples“ beziehen konnten („Byzantine Information-Gathering Behind the Veil of Silence“, S. 26–43). Grundsätzlich hätten auch in mittelbyzantinischer Zeit vielfältige Quellen zur Verfügung gestanden (Spione, Diplomaten und Gesandte sowie Gefangene); die gewonnenen Informationen seien aber als Archivwissen gespeichert worden und hätten keinen Eingang in literarische Texte gefunden (S. 31–33). Es sei indes auch ein ganz grundsätzliches Desinteresse mittelbyzantinischer Autoren an Ethnographie und Geographie zu erkennen, das sich im offenbar bewussten Auslassen ethnographischer Passagen beim Paraphrasieren älterer Texte zeige (S. 37–43).

Das dritte Kapitel trägt den programmatischen Titel „Explaining the Relative Decline of Ethnography in the Middle Period“ (S. 44–81). Im ersten Abschnitt formuliert Kaldellis die These, dass Ethnographie ihre Funktion als analytisches Werkzeug verloren habe, weil sich der Fokus der Geschichtsschreibung auf innerbyzantinische Themen verlagert habe (S. 55f.). Bei Leon Diakonos hätten die militärischen Leistungen führender byzantinischer Familien des 10. Jahrhunderts im Mittelpunkt gestanden, bei Anna Komnene im frühen 12. Jahrhundert die Glorifizierung ihres Vaters Alexios I. Die im 11. und 12. Jahrhundert entstandenen, sich stilistisch am Vorbild der klassischen griechischen Geschichtsschreibung orientierenden Werke des Michael Psellos, Niketas Choniates und Michael Attaleiates seien als historiographische Kommentare zu innerbyzantinischen Diskursen zu lesen (S. 51–55). Diese Historiographen seien nicht mehr „historians of the world scene“, sondern „social commentators of the vices of their own society“ (S. 52). Im zweiten Abschnitt des Kapitels fragt Kaldellis nach den Auswirkungen des byzantinischen Christentums auf Ethnographie und historiographisches Denken. Kaldellis zufolge wurde die Wahrnehmung kultureller Unterschiede zunehmend von einer Fokussierung auf religiöse Differenz überlagert. Ethnographie habe infolgedessen ihr soziales und politisches Erklärungspotential verloren (S. 70–72). Diesen Ansatz führt Kaldellis im dritten Abschnitt des Kapitels fort: Dass die Auseinandersetzung mit dem Islam in der byzantinischen Literatur vor allem auf theologischer Ebene geführt wurde, habe verhindert, dass der Islam als historische und kulturelle Realität anerkannt und zum Gegenstand von Ethnographie geworden sei (S. 72–81).

Kapitel vier bietet eine Reihe von mitunter recht kleinteiligen Analysen verschiedener Detailfragen („The Genres and Politics of Middle Byzantine Ethnography“, S. 82–139). Am Beispiel der Taktika Leons VI. und der Schrift De Administrando Imperii Konstantins VII. argumentiert Kaldellis, dass beide Handbücher zwar vergleichsweise ausführliche Angaben über Nachbarn der Byzantiner, jedoch kaum Ethnographie im Sinne von Informationen über deren Kultur enthielten. Ethnographie sei hinter die zentralen Darstellungsziele der Autoren zurückgetreten (S. 82–93). Berichte über die Herkunft von Völkern, die sich auf dem Gebiet des Imperiums ansiedelten, fasst Kaldellis als eigenes, neu entstandenes „quasi-ethnographic subgenre“ auf (S. 98). Der Unterschied zu klassischen Erzählungen über die origines gentium sei darin zu sehen, dass aktuelle strategische Konstellationen erklärt werden sollten. Ausführlich diskutiert Kaldellis die Verwendung von Ethnonymen in der byzantinischen Literatur. Er relativiert die bekannte These des byzantinischen „Klassizismus“ und sieht stattdessen einen differenzierten, die Komplexität der gentilen Gruppen im Umfeld des Imperiums widerspiegelnden Gebrauch von Ethnonymen (S. 106–117). Am Beispiel der Petschenegen zeigt Kaldellis, wie literarische Barbarenbilder in Abhängigkeit vom politischen Kontext variiert wurden. Kritisch sieht er das Modell des auf einem gemeinsamen Christentum basierenden „Byzantine Commonwealth“, denn „the fundamental Roman-barbarian polarity continued to operate in Byzantium even when the rhetoric of Christian ecumenism sought to cover it up“ (S. 125f.). Die These, dass die Byzantiner die entscheidende Trennlinie zu den Barbaren nicht im Christentum, sondern in ihrer römischen Kultur sahen, entwickelt Kaldellis am Beispiel der Bulgaren und der Rus’ weiter (S. 126–139).

Um das Revival der Ethnographie in der spätbyzantinischen Literatur geht es im fünften Kapitel („Ethnography in Palaiologan Literature“, S. 140–183). Das sich ergebende Bild sei extrem ungleichmäßig: Zum einen habe die Expansion der Mongolen dazu geführt, dass Ethnographie wieder zum Spiegel innerbyzantinischer Diskurse wurde (S. 158–164). Zum anderen resultierten im 13. und 14. Jahrhundert neue ethnographische Akzente aus der Auseinandersetzung mit dem lateinischen Westen, der für die Byzantiner zum „primary sparring partner“ geworden seien (S. 168), wenn es darum ging, die eigene Identität zu definieren (S. 169–183). Im kurzen Epilog skizziert Kaldellis die byzantinische Wahrnehmung der Osmanen im 14. Jahrhundert („Epilouge: Looking to a New World“, S. 184–186). Endnotenapparat (S. 189–228), Literaturverzeichnis (S. 229–268) und Index (S. 269–275) schließen das Buch ab.

Kaldellis hat ein aufschlussreiches Buch geschrieben, in dem er von einer literaturgeschichtlichen Fragestellung ausgehend eine breite, facettenreiche Perspektive auf die byzantinische Wahrnehmung von Fremdheit entwickelt. Seine mitunter unkonventionellen Interpretationen sind anregend und bieten Ansatzpunkte für weiterführende Diskussionen. Die Frage, warum Ethnographie in der mittelbyzantinischen Historiographie weitgehend verschwand, erklärt Kaldellis letzten Endes mentalitätsgeschichtlich mit einer durch das byzantinische Christentum beschleunigten Wendung der Historiographie nach Innen. Diesen Ansatz weiterzuverfolgen, lohnt sicher.2 Kritisch sehen kann man, dass Kaldellis einerseits von einer weitgefassten Definition von Ethnographie ausgeht (S. VII), andererseits aber in der Textinterpretation immer wieder auf das Vorhandensein kultureller Elemente abhebt. Diesen auf Kultur zugespitzten Ethnographiebegriff legt er auch an Texte an, in denen zwar nicht die Kultur der Barbaren im Zentrum des Darstellungsinteresses steht, die aber andere ethnographische Elemente wie beispielsweise Angaben zu Kampfesweise, Sozial- und Herrschaftsstrukturen oder Religion aufweisen und insofern in einer spezifischen Weise durchaus ethnographisch sein können. Zu fragen wäre daher auch, wie sich die gewandelte Rolle der Ethnographie in historiographischen Texten zur Entwicklung anderer literarischer Genres verhält.

Anmerkungen:
1 Vgl. beispielsweise David Fraesdorff, Der barbarische Norden. Vorstellungen und Fremdheitskategorien bei Rimbert, Thietmar von Merseburg, Adam von Bremen und Helmold von Bosau, Berlin 2005; Alexander Weiß (Hrsg.), Der imaginierte Nomade. Formel und Realitätsbezug bei antiken, mittelalterlichen und arabischen Autoren, Wiesbaden 2007; Erich S. Gruen, Rethinking the Other in Antiquity, Princeton 2011; Greg Woolf, Tales of the Barbarians. Ethnography and Empire in the Roman West, Chichester 2011; Wiebke Vergin, Das Imperium Romanum und seine Gegenwelten. Die geographisch-ethnographischen Exkurse in den Res Gestae des Ammianus Marcellinus, Berlin 2013; Shirin A. Khanmohamadi, In Light of Another’s World. European Ethnography in the Middle Ages, Philadelphia 2014. Erinnert sei aber auch an Kilian Lechner, Hellenen und Barbaren im Weltbild der Byzantiner. Die alten Bezeichnungen als Ausdruck eines neuen Kulturbewußtseins, München 1955, der sich schon mit Fragen von Identität und Barbarenbild in der byzantinischen Literatur beschäftigte.
2 Vgl. auch die Überlegungen von Mischa Meier, Prokop, Agathias, die Pest und das „Ende“ der antiken Historiographie. Naturkatastrophen und Geschichtsschreibung in der ausgehenden Spätantike, in: Historische Zeitschrift 278 (2004), S. 281–310 zum Wandel der Historiographie im 6. Jahrhundert.

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