: Secularism and Religion in Nineteenth-Century Germany. The Rise of the Fourth Confession. Cambridge 2014 : Cambridge University Press, ISBN 978-1-107-04156-1 XV, 304 S. € 85,00

: Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deutschland (1848-1914). Göttingen 2014 : Vandenhoeck & Ruprecht, ISBN 978-3-525-31023-6 615 S. € 84,99

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katharina Neef, Religionswissenschaftliches Institut der Universität Leipzig

Das Thema Nicht-Religion erregt seit einiger Zeit interdisziplinär vermehrt Aufmerksamkeit, auch in der Geschichtswissenschaft. Dabei geraten verschiedenste Fragen in den Blick: methodisch nach der Erfassung von nichtreligiösen Phänomenen und der Relation zu ihren religiösen Pendants oder empirisch nach konkreten sozialen Formen und Inhalten. Die vorliegenden Publikationen reihen sich hier ein, beide fokussieren dabei scheinbar fast deckungsgleiche Phänomene: nicht- und antireligiöse Akteure unter anderem im deutschen Kontext der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei beide Autoren den Minderheitenstatus ihres Gegenstands vermerken. Bei genauerer Betrachtung aber divergieren die Arbeiten beträchtlich – methodisch und inhaltlich. Dies beginnt bereits konzeptuell: Lisa Dittrich spricht von Antiklerikalismus, Todd Weir von Säkularismus. Dementsprechend werden verschiedene rekonstruktive Rahmen herangezogen – Dittrich sieht im Antiklerikalismus, den deutschen Diskurs mit dem französischen und spanischen Diskurs vergleichend, einen europaweit etablierten kulturellen Code , einen „vielschichtigen und variierenden Symbolkomplex“ (S. 451), um ihn als „soziale Einheit im massenmedialen Zeitalter“ (S. 431) zu kategorisieren. Ihn verband „kein kohärentes Weltbild“ (S. 488). Todd Weir dagegen identifiziert im Säkularismus eine „vierte Konfession“, „eine immanente und totalisierende Weltanschauung, die durch die Naturwissenschaften validiert wird. […Er ] war strukturell antiklerikal“ (S. 4).

Kultureller Code und Konfession können gleichsam als Gegenpole in einem Kontinuum von gemeinschaftlicher Verfasstheit gelten: Während also Dittrich dem Antiklerikalismus eine Existenz als transnationalem Referenzrahmen und Meinungsstratum attestiert, setzt Weir die deutschen Säkularisten als Bekenntnisgemeinschaften neben katholische und protestantische Kirchen und israelitische Kultusgemeinde. Der scheinbare Widerspruch löst sich in der Empirie auf, die beide Arbeiten heranziehen, und offenbart die unterschiedlichen Perspektiven auf den Forschungsgegenstand, was letztlich auch die verschiedenen Referenzbegriffe erfordert.

Dittrich wählt den Begriff Antiklerikalismus aus einer Fülle semantisch ähnlicher Schlagworte (wie Laizismus/Laizität, Antikatholizismus, Antijesuitismus oder Kulturkampf), da er phänomenologisch am weitesten sei (S. 14). Er umfasse sowohl Kritik am Klerus als auch an der Religion im Allgemeinen und enthalte nicht zuletzt auch eine politische Stoßrichtung als Anspruch auf die Emanzipation gesellschaftlicher Teilbereiche aus der kirchlichen Einflusssphäre bzw. als Kritik an der Einmischung religiöser Akteure in vermeintlich nicht genuin religiöse Sphären (empirisch allen voran Politik, Jurisprudenz und Schulwesen). Die Alternativbegriffe wie auch der Vergleichskontext Spaniens und Frankreichs deuten allerdings bereits an, dass der mit der Begriffswahl erhobene Anspruch der Überwindung der konfessionellen Schranke nicht eingelöst werden kann: Im deutschen Antiklerikalismus fokussiert Dittrich maßgeblich antikatholische Äußerungen und lässt Kritik an den protestantischen Staatskirchen weitgehend außer Acht, da die strukturellen Entwicklungen innerhalb der katholischen Kirche „in den deutschen Ländern mehr Angriffsfläche boten als die protestantischen Kirchen“ (S. 297). Das ist nicht nur unter Verweis auf Weirs Ausführungen zur Etablierung des (protestantischen) christlichen Staats in Preußen unter Friedrich Wilhelm IV. arg zu bezweifeln: Die protestantische Kirche und ihr Zugriff auf die Öffentlichkeit wurden von den deutschen Antiklerikalen ebenso offen und scharf kritisiert wie die katholische Erneuerung. Das muss aber einer Arbeit entgehen, die die Kristallisationspunkte der Debatte durchweg in katholischen „Skandalisierungen“ (S. 147ff. und 431ff.) sucht.

Dabei ist die Rekonstruktion des internationalen Phänomens antiklerikaler Mobilisierung gegen den Katholizismus äußerst lehrreich. Dittrich präsentiert den im 19. Jahrhundert massenmedial transportierten Antiklerikalismus als transnationalen Referenzrahmen und exemplifiziert dies an drei Punkten, die international Aufsehen erregten: die italienische Mortara-Affäre 1858 um die Entführung eines vermeintlich heimlich getauften jüdischen Jungen durch die katholische Kirche, das Erste Vatikanische Konzil von 1869/70 und das Infallibilitätsdogma sowie die Hinrichtung des spanischen Freidenkers Francisco Ferrers im Jahre 1909. Gegenstand aller Kritik war die katholische Kirche, sodass andere Religionen naturgemäß deutlich schwächer in den Blick gerieten. Zwar kam es auch zu vergleichbaren protestantischen Skandalen (etwa die causa Jatho 1911 und die causa Traub 1912), doch erregten sie nur auf nationaler Ebene Aufsehen und stießen in mehrheitlich katholischen Ländern auf wenig Resonanz, so dass sie sich für die Rekonstruktion internationaler Diskurse nicht eignen.

In jedem Fall stellt Dittrich mehrere Entwicklungen innerhalb des Untersuchungszeitraums fest, die in verschiedenen Zusammenhängen relevant sind: Die Debatten in Frankreich, Spanien und im Deutschen Reich vollzögen sich einerseits innerhalb ihrer nationalen Rahmungen. Zwar seien auch internationale Geschehnisse gut rezipiert worden, allerdings immer in Bezug auf nationale Referenzen. Andererseits dienten die Skandalisierungen aber auch als Vehikel, um sich in Vorstellungen einer europäischen Kultur- und Wertgemeinschaft einzuschreiben. Die antiklerikale Kritik formierte sich dabei entlang einer binären Struktur von gut/schlecht, Fortschritt/Rückschritt und Freiheit/Unterdrückung, wobei sich die Antiklerikalen als letztlich menschheitliche aufklärerische Bewegung auf dem Vormarsch sahen. Die Argumentationen, Semantiken, Diskursmittel und Stereotype zu diesen Selbst- und Fremdkonstruktionen beschreibt Dittrich ausführlich und anschaulich aus dem Quellenmaterial, dabei Gemeinsamkeiten ebenso wie Unterschiede und Rezeptionslinien darstellend. Inhaltlich werden diese Topoi logisch geclustert als Argumentationen um 1) die Legitimität politischer Teilhabe der Religionsgemeinschaften und die (individuelle wie kollektive) Freiheitsfrage, 2) die epistemologische Infragestellung religiöser Wahrheiten, 3) die Korruption der „alten“ bzw. Formulierung einer „neuen“ Moral und 4) das Verdikt der Unzeitgemäßheit kirchlicher Strukturen. Dazu tritt 5) die Betonung eigener Glaubensmaximen. Für die Rekonstruktion wurden maßgeblich zeitgenössische Periodika und Broschüren herangezogen, die besonders für den französischen und spanischen Kontext beeindruckend breit repräsentiert sind.

Auf der diskursiven Ebene stellt Dittrich also fest, dass antiklerikale Narrative weithin geteilt wurden. Verschiedene Konkretisierungen sind bemerkenswert: Erstens argumentiert sie gegen die oft vorgenommene Trennung in intellektuellen (bürgerlichen) und populären (radikalen) Antiklerikalismus – sowohl inhaltlich als auch in der Tonlage lasse sich weder eine inhaltliche noch soziale Grenze ziehen. Antiklerikale Kritik finde sich „quer zu sozialen Schichtungen“ (S. 500). Zweitens verdeutlicht Dittrich den intimen Nexus zwischen der europäischen Etablierung eines antiklerikalen Codes und der Etablierung massenmedialer Kommunikation (S. 455f.): Die notwendigerweise vereinfachten, konsumerablen Informationseinheiten der Massenpresse passten zum binären antiklerikalen Code, der sich so homogenisierte und leichter wie schneller verbreitete. Am Beispiel Edgar Mortaras etwa wird die Diffusion verschiedener Narrative gezeigt, die eine vorrangig emotionale Identifikation mit antiklerikalen Überzeugungen generierten. Und drittens lokalisiert sie die Akteure vornehmlich im linken politischen Spektrum von Liberalismus, Sozialismus und Republikanismus. Allerdings wird verschiedentlich auf lagerübergreifende Zusammenarbeit mit konservativen Kräften hingewiesen, die sich etwa in den Kulturkämpfen ergab. Daraus ein antiklerikales Stratum abzuleiten, das situativ Teile des antiultramontanen protestantischen Establishments mit einschloss (wie es die Darstellung der deutschen Verhältnisse S. 119ff. impliziert), erscheint allerdings zu weit gehend, auch weil so eben die sozialen verfassten Teile des Antiklerikalismus aus dem Blick geraten: Zwar bildeten sich internationale zivilgesellschaftliche antiklerikale (Freidenker-)Organisationen, doch werden hier lokale und nationale Akteure vergessen, die durchaus als diskursprägend gelten können.

Und genau diese Akteure bilden den Gegenstand der Studie Weirs: Grundsätzlich zeichnet er die Entstehung und Entwicklung der säkularistischen Szene in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach. Dabei liegt ein besonderer Fokus auf Berlin, was sowohl in der Besonderheit und Vitalität der lokalen Szene als auch ihrer Bedeutung im Reich gründe. Weir unterscheidet dabei mehrere Phasen: Beginnend mit der Entstehungsphase der Freireligiösen 1844 bis 1847, folgt einer Phase der Repression wie auch der inneren Konsolidierung in den 1850er-Jahren und einer Blüte der Gemeinde und Beteiligung an politischen Aktivitäten in den 1860er-Jahren, die Phase der Positionierung im Kulturkampf der 1870er-Jahre, die dann letztlich durch eine Neupositionierung im Zeichen der Sozialistengesetze einerseits und des Antisemitismusstreits andererseits in den 1880er-Jahren beschlossen wird; der Ausblick auf die Jahre nach 1893 bis 1914 folgt hernach verkürzt.

Weir beschränkt sich dabei nicht auf die organisationsgeschichtliche Darstellung der größten freireligiösen Gemeinde des Deutschen Reichs, sondern thematisiert inhaltliche ebenso wie soziologische Fragen. Besonders stark ist die Studie im Aufzeigen der Verbindungen zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen: Weir beschreibt den ideengeschichtlichen Wechsel vom noch christlich geprägten Rationalismus der frühen freireligiösen Bewegung über den Materialismus in den 1850er-Jahren hin zur Ethischen Kultur, zum Sozialismus und dem weltanschaulichem Monismus, wie sie nach 1890 in verschiedenen Subdiskursen dominant wurden – dabei geht es weniger um die argumentativen Verlagerungen als vielmehr um ihre Verknüpfung mit sozialen und politischen Entwicklungen. Anhand der Mitgliederlisten und der Funktionäre einiger freigeistiger Vereinigungen im Berliner Raum werden unter anderem nachvollzogen: Der Wechsel vom intellektuellen, publizistischen zum sozialen Phänomen und zum Teil des öffentlichen und politischen Diskurses in den 1860er-Jahren, die faktische, nicht aber nominelle Partizipation großbürgerlicher und aristokratischer Kreise, die zunehmende Abstinenz des handwerklichen Stadtbürgertums, das Hinzutreten kleinbürgerlicher und tendenziell sozialdemokratischer Zirkel, die personellen Überschneidungen säkularistischer Funktionäre ins politische Feld hinein (besonders im progressiven, linksliberalen, demokratischen Spektrum, das sich in der Berliner Lokalpolitik als dominante politische Kraft im Untersuchungszeitraum fest behauptete) oder die Positionierung der Freireligiösen zur „Jüdischen Frage“, die sich zwar mehrheitlich gegen den Antisemitismus positionierten, doch mit der Überwindung der Religion letztlich auch gegen die jüdische Religion bzw. für ihre Ablösung zugunsten einer postkonfessionellen oder szientistischen Weltanschauung argumentierten (S. 220ff.).

Bereits eingangs (S. 1–65, besonders aber S. 17ff.) diskutiert Todd Weir seine Rahmung des Säkularismus als „vierte Konfession“, die vor allem dazu dient, die Position der Gruppierungen, Akteure und Standpunkte sowohl als Gegner des religiösen Feldes als auch als dessen Teil zu beschreiben (S. 1). Die dazugehörigen Konflikte sind multidimensional – sie sind antiklerikal, können aber eben auch neureligiös, antireligiös, laizistisch oder antihegemonial ausgerichtet sein. Dabei strukturiert Weir das anfangs scheinbar vierpolige „quadrikonfessionelle“ (S. 17) Feld letztlich binär: Katholiken und Protestanten als privilegierte Groß- und teilweise Staatskirchen auf der einen, Juden und Säkularisten als notorisch marginalisierte und diskriminierte Gruppierungen auf der anderen Seite (S. 20).

Der Nutzen beider Operationalisierungen – des Säkularismus als vierter Konfession bzw. des Antiklerikalismus als europäisch ubiquitärem kulturellem Code der politischen Linken – liegt auf der Hand: Zahlenmäßig sind die Gruppen marginal, dennoch meinen sowohl Weir, dass der „Säkularismus breitere Entwicklungen in der deutschen Geschichte formte“ (S. 7), als auch Dittrich, dass der Antiklerikalismus in den Umbruchsprozessen des 19. Jahrhunderts „Teilnehmer, Betroffener und bestimmender Akteur gleichermaßen“ (S. 49) war. Während also Weir in den verhältnismäßig wenigen organisierten deutschen Säkularisten spezifische, minorisierte, aber dennoch auf den Diskursverlauf einflussreiche Akteure in den Debatten um die Aushandlung der Staat-Kirche-Beziehungen sieht, zeigt Dittrich die europaweite, teilweise lagerüberspannende breite Akzeptanz kirchen- bzw. religionskritischer Positionen. Dass diese Akzeptanz weit über den engen Rahmen organisierter Freigeistigkeit hinausging (und bis heute hinausgeht) und trotz ihrer latenten Diskriminierung und Repression erfolgreich sozietal diffundierte, ist ein Erkenntnisgewinn des diskursorientierten transnationalen Zugangs, den Dittrichs Arbeit auszeichnet und der im mesohistorischen Zugang Weirs nicht annähernd deutlich werden kann.

Es bleibt als Fazit zweierlei festzustellen: Zum einen liegen zwei empfehlenswerte Arbeiten zum Thema Nicht-Religion im 19. Jahrhundert vor – einmal zu Etablierung und Strukturen europäischer antiklerikaler Diskurse, sodann zu deutschen säkularistischen Vergemeinschaftungen. Gerade in ihrer Zusammenschau offenbart sich die Multidimensionalität des Phänomens hier als ideengeschichtlicher Kontext, dort als soziale Formation – in beiden Fällen wird die Wirkung auf gesellschaftliche Kontexte außerhalb ihres unmittelbaren Aktionsfeldes eindrücklich gezeigt. Dabei ist der Einfluss auf soziale, politische oder kulturelle Entwicklungen oft indirekt und letztlich auch anders, als von den Akteuren intendiert (die Entwicklung der deutschen Religionspolitiken des 20. Jahrhunderts zeigt dies eindrücklich, vgl. dazu überblickhaft Weirs Epilog, S. 269–277). Zum anderen verdeutlichen beide Arbeiten die Komplexität und Interdependenz des Verhältnisses von Religion und Nicht-Religion: Während Dittrich in der Existenz des antiklerikalen Diskurses und seiner Forderung nach separaten gesellschaftlichen Sphären bereits eine vollzogene Säkularisierung identifiziert – die Antiklerikalen eben nicht nur Agenten, sondern auch Produkte des von ihnen geforderten Prozesses waren – verweist Weir mehrfach darauf, dass trotz ihres Anspruchs darauf, der weltanschaulichen Konkurrenz enthoben zu sein, die Säkularisten letztlich immer als konfessionelle Akteure im religiösen Feld agierten.

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