T. Itgenshorst: Denker und Gemeinschaft

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Titel
Denker und Gemeinschaft. Polis und politisches Denken am archaischen Griechenland


Autor(en)
Itgenshorst, Tanja
Erschienen
Paderborn 2014: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Horst, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Die im Jahr 2011 von Tanja Itgenshorst an der Universität Bielefeld eingereichte Habilitationsschrift „Denker und Gemeinschaft. Polis und politisches Denken im archaischen Griechenland“ steht mit der Frage nach der Entstehung des politischen Denkens einer langen Forschungstradition gegenüber. Etablierte altertumswissenschaftliche Positionen, zu denen auch die Auffassung gehört, dass die Polisentwicklung eine entscheidende Voraussetzung für das politische Denken gewesen sei, werden durch neue theoretische und methodische Ansätze kritisch hinterfragt. So wird das Politische nicht wie bisher üblich als institutionelles Gefüge bestehend aus Ämtern und Verfahrensregeln betrachtet, sondern im Anschluss an eine Definition von Dean Hammer als Kollektiv, das immer dann als „politisch“ zu verstehen sei, wenn in ihm Individualinteressen transzendierende Belange artikuliert werden. Der in diesem Kontext aufgenommene Gedanke Edmund Husserls, durch den das Politische als Lebensform bezeichnet wurde, hätte durch neuere politikwissenschaftliche Überlegungen ergänzt werden können, die sich verstärkt für den Zusammenhang zwischen politischen Verfassungen und Lebensformen interessieren. Insofern die Gemeinschaft1 einen konstitutiven Rahmen der Untersuchung bildet, wird das politische Denken nicht mehr wie aus idealistischer Perspektive als ein autonomer Prozess verstanden. Hier distanziert sich Itgenshorst insbesondere von Bruno Snell, Hermann Fränkel und Christian Meier, die das politische Denken trotz der teilweise vorhandenen Berücksichtigung der Polisstrukturen letztlich doch als „autonomen Prozeß“ oder als Emanation eines spezifischen „griechischen Geistes“ beschreiben (S. 20). Gegenstand der Analyse sind folglich nicht die politischen Ideen, sondern die Beziehungen, die sich zwischen den Denkern und ihren jeweiligen Gemeinschaften entwickelt haben. Im Kontext dieser Untersuchung werden erstmals sämtliche Autorinnen und Autoren der archaischen Zeit unabhängig von ihrem literarischen Genre in den Blick genommen.2

Um beurteilen zu können, ob es sich bei den behandelten Quellen um Dokumente des politischen Denkens handelt, werden der Untersuchung vier verschiedene Kriterien zugrunde gelegt. Die Texte sollen erstens Subjektivität zum Ausdruck bringen, die durch den Bezug des Autors auf die eigene Person hergestellt werde. Ein solcher Selbstbezug setze wiederum ein reales oder imaginäres Gegenüber voraus. Texte, die keinen Verfasser zu erkennen geben – wie Gesetzestexte oder einige mythologische Texte – wurden folglich nicht berücksichtigt. Auch die homerischen Epen wurden aus der Betrachtung ausgeschlossen, da sie ebenfalls keinen Autor angeben. Zweitens soll eine Reflexion des Autors erkennbar sein, aus der Regeln für die Gemeinschaft abgeleitet werden. Diese an eine Gemeinschaft gerichteten Regeln sollen drittens durch bestimmte Formen, wie durch Appelle oder Imperative, formuliert werden. Der letzten Kategorie wurden Texte zugeordnet, die politische Äußerungen im engeren Sinne enthalten, wie zum Beispiel Konzeptualisierungen von Polis, Demos, Bürgergemeinde oder Institutionen. Auch Testimonien, die über das politische Handeln eines Autors berichten, wurden berücksichtigt.

Nachdem die einzelnen Texte auf diese Kriterien überprüft worden sind, war zu beobachten, dass sämtliche Kategorien auf alle Formen der Dichtung zutreffen. Vor dem Hintergrund dieses Ergebnisses sei, so Itgenshorst, nicht mehr wie bisher zwischen unpolitischen und politischen Autoren und Autorinnen zu unterscheiden, und auch eine Dichotomie zwischen Kultur und Politik sei nicht zu erkennen. Vielmehr sei das Politische zuweilen sogar erst durch die Dichtung hergestellt worden (S. 80). Dass Sprache nicht nur auf gesellschaftliche Strukturen reagiert, sondern konstitutive Funktionen für die Entwicklung des Sozialen und des Politischen übernehmen kann, ist eine Erkenntnis moderner kulturwissenschaftlicher Überlegungen, an die hier nicht explizit angeknüpft wird. Gezeigt wird, dass die Dichtung sowohl politische Funktionen übernimmt als auch auf gesellschaftliche Probleme reagiert. Die sozialen Konstellationen, auf die sich die Dichtung bezieht und aus denen sie hervorgegangen ist, hätten teilweise präziser dargestellt werden können.

Wie Itgenshorst feststellt, folgten aus der Reflexion über das Politische keine konkreten Vorschläge wie zum Beispiel für die Einführung oder Abschaffung bestimmter Ämter, Kompetenzen und Verfahren (S. 107). Stattdessen standen das gute Funktionieren der Gemeinschaft und die für alle geltenden Prinzipien im Mittelpunkt des Denkens. Die Denker verschafften sich nicht nur mit ihrer Kritik, sondern insbesondere auch mit ihrer Distanz gegenüber der Gemeinschaft politischen Einfluss und Gehör. Da in zahlreichen Schriften die Monarchie oder die Aristokratie als beste Verfassungsform hervorgehoben wird, hätte es sich bei den Verfassern nicht um Anhänger einer demokratischen Ordnung oder um Verfechter demokratischer Prinzipien handeln können. Dieser Schluss wird etwas vorschnell gezogen, da neuere politikwissenschaftliche Überlegungen zeigen, wie demokratische Prinzipien insbesondere in hierarchischen Strukturen wirksam werden können. Inwieweit die Denker nicht nur als Begründer des politischen, sondern auch des demokratischen Denkens bezeichnet werden können, bleibt somit noch die Aufgabe weiterer Überlegungen.

Überzeugend wird im Anschluss an bisherige Forschungen gezeigt, dass die zu beobachtende Homogenität des Denkens, die insbesondere anhand der vier genannten Kriterien verdeutlicht wurde, nicht auf eine Besonderheit des griechischen Geistes zurückzuführen ist, sondern sich als ein Resultat der Mobilität der Dichterinnen und Dichter darstellt. Obwohl es zu den panhellenischen Bezugsorten wie Delphi, Olympia, Korinth und Delos schon grundlegende Untersuchungen gibt, lohnt es sich, der Frage nach der kommunikativen Vernetzung der Denker als Voraussetzung für sich weiter entwickelnde Bewusstseinsprozesse auch in Zukunft nachzugehen.

Im zweiten Teil des Buches geht es um „Konfrontationen“ (S. 133 und S. 135–258) der im ersten Teil erarbeiteten Ergebnisse zur archaischen Dichtung mit etablierten Forschungspositionen. Zunächst wird gezeigt, dass Homer, Hesiod und Solon, die in der bisherigen Forschung zur „rise of the polis“ (S. 132) eine zentrale Rolle spielten, nicht die Anfänge des politischen Denkens darstellen, sondern entweder Vorläufer in der archaischen Zeit hatten oder wie Homer nicht in das vorliegende Konzept passen. Die Sonderstellung Homers wird mit der nicht vorhandenen Erwähnung eines Autors und mit dem kulturellen Kontext der Epen in Verbindung gebracht. Im Gegensatz zu anderen archaischen Texten stünden die Epen Homers im Kontext der mykenischen Palastkultur und der kleinasiatischen und vorderorientalischen Kulturen.

Ein wesentlicher Unterschied zu Griechenland bestehe darin, dass die Denker in den östlichen Kulturkreisen weniger unabhängig gewesen seien. Diese These mag durch einige Fälle sicherlich bestätigt werden können. Generell ist dieser Aussage jedoch nicht zuzustimmen, da es im Alten Orient durchaus eine Kritik an den Herrschenden und sogar an den Göttern gab, während in Griechenland die Äußerung solcher Kritik durch Asebieprozesse unterbunden werden konnte.3 Als Spezifika des griechischen Denkens werden weiterhin die „Freude an der Selbstdarstellung“ sowie die „Reflexionsfähigkeit und rationale Argumentation“ (S. 154) bezeichnet. Mit derartigen Aussagen werden meines Erachtens keine kulturellen Eigenarten herausgestrichen, sondern letztlich jene Dichotomien reproduziert, mit denen dem altorientalischen Kulturkreis schon immer Irrationalität und Zwang, Griechenland hingegen die Freiheit attribuiert wurde. An anderer Stelle heißt es, es sei gewinnbringender, den Blick wieder zurück auf die innergriechischen Verhältnisse zu lenken, da auch die Einflussnahmen zwischen den Kulturen nicht eindeutig fassbar seien (S. 24). Dem ist entgegen zu halten, dass die zweifellos vorhandenen Schwierigkeiten der Forschung nicht als ein hinreichendes Argument gegen weitere Untersuchungen zu den interkulturellen Beziehungen zwischen Ost und West betrachtet werden können. Vielmehr sollten die Probleme als Appell an die Entwicklung neuer theoriegeleiteter Fragestellungen und Methoden wahrgenommen werden.

Überzeugend sind die an die Ausführungen zu Homer anknüpfenden Analysen zu Hesiod und zur Interpretation seiner Werke. So wird im Anschluss an vorhandene Überlegungen die Theogonie nicht als ein unabhängiges Werk, sondern als theoretischer Überbau der in den Werken und Tagen zusammengetragenen bäuerlichen Regeln interpretiert. In die Tradition der anderen archaischen Autoren sei Hesiod jedoch nicht einzuordnen, da sich seine Werke nicht explizit an eine Gemeinschaft richteten. Solon stelle ebenfalls eine Ausnahme dar, da er ein politischer Akteur und nicht primär ein Denker gewesen sei. Entgegen der allgemein vertretenen Auffassung, die Solon an den Anfang des politischen Denkens stellt, sei zu beobachten, dass es die Inhalte seines Denkens schon vor ihm gegeben habe. Darüber hinaus sei die These von einer in seinem Denken zu beobachtenden Säkularisierung zu relativieren, da den Göttern bei der Durchsetzung von Gerechtigkeit auch in seinen Schriften noch eine prominente Rolle zugewiesen wird.

In einem weiteren Kapitel wird anhand der Entwicklungen in der Magna Graecia, auf der Peloponnes und in Kleinasien untersucht, ob die Denker auf die Entstehung der Polis Einfluss hatten. Hierbei wird insbesondere die Gesetzgebungspraxis in den Blick genommen, die allgemein als Indikator für die sich innerhalb einer Gemeinschaft entwickelnden politischen Prozesse betrachtet wird. Dabei gelangt Itgenshorst zu dem Ergebnis, dass die Denker entgegen der modernen Auffassung keinen Einfluss auf die Gesetzgebung genommen haben. Auch die Rolle Solons widerspreche dieser Beobachtung nicht, da sein Einfluss auf die Gesetze Athens eine Folge seiner politischen Tätigkeit und nicht seines politischen Denkens gewesen sei. Die Denker beanspruchten für sich vielmehr eine Position „geistiger Autonomie“, von der aus sie zu ihren Gemeinschaften Stellung bezogen. Ausgehend von diesem Resultat wird im anschließenden Kapitel gezeigt, dass die archaischen Denker avant la lettre dem Typus des im 19. Jahrhundert entstandenen modernen Intellektuellen entsprachen. Die gesellschaftlichen Strukturen, die das Auftreten von sozialer und politischer Autonomie beanspruchenden Intellektuellen begünstigten, hätten dabei näher untersucht werden können. Die Kategorie der Autonomie hätte in diesem Kontext ebenfalls eindeutiger bestimmt werden müssen, um sie von idealistischen Positionen stärker abgrenzen zu können, von denen sich Itgenshorst zu Beginn distanziert.

Im letzten Kapitel, das sich mit dem Verhältnis von Denker und Gemeinschaft nach den Perserkriegen befasst, wird gezeigt, dass es einen Bruch zwischen der archaischen und klassischen Zeit nicht gegeben habe. Das politische Denken sei nicht erst in der Demokratie, sondern bereits in der archaischen Zeit entstanden. Im Hinblick auf das 5. Jahrhundert lasse sich feststellen, dass teilweise sogar noch auf die Dichtung im Rahmen der politischen Kommunikation zurückgegriffen wurde, wobei auf das Sisyphosfragment, den Prometheusmythos des Protagoras und den Mythos von Herakles am Scheideweg des Prodikos verwiesen wird. Entscheidend ist meines Erachtens der Hinweis, dass die gebundene Sprache in eine andere literarische Gattung überging, die Tragödie und die Komödie, die ebenfalls einem politischen Denken Ausdruck verschafften. Der Beginn einer neuen Entwicklung habe schließlich mit Platon eingesetzt, der sich insbesondere von den Sophisten und von der Dichtung distanzierte. Mit Platon sei der Beginn der politischen Theorie manifestiert worden, die einen autonomen Raum innerhalb der politischen Gemeinschaft beansprucht und das Denken in Utopien möglich gemacht habe.

Abgesehen von einzelnen kritischen Bemerkungen überzeugt das Buch von Itgenshorst durch eine stringente Argumentation, die einen Überblick über das politische Denken in der archaischen Zeit gibt. Durch die Bezüge zu modernen theoretischen Diskussionen leistet die Arbeit nicht nur einen Beitrag zur Grundlagenforschung, sondern gibt vielfältige Anknüpfungspunkte an weitere politik- und demokratietheoretische sowie kulturvergleichende Untersuchungen.

Anmerkungen:
1 Auf den ersten Seiten wird kurz erläutert, wie der durch den Nationalsozialismus in Misskredit geratene Begriff der Gemeinschaft verwendet werden soll.
2 Im Anhang werden auf den Seiten 265–332 die Fragmente und Testimonien der archaischen Autoren zweisprachig aufgeführt.
3 Vgl. Sebastian Fink, Gegenkultur im Alten Orient?, in: Timo Heimerdinger / Eva-Maria Hochhauser / Erich Kistler (Hrsg.), Gegenkultur (Cultural Encounters and Transfers), Bd. 2, Würzburg 2013, S. 77–98; Claus Wilcke, Politische Opposition nach sumerischen Quellen. Der Konflikt zwischen Königtum und Ratsversammlung. Literaturwerke als politische Tendenzschriften, in: André Finet (Hrsg.), La voix de l’opposition en Mésopotamie. Colloque organisé par l’Institut des Hautes Études de Belgique, 19 et 20 mars 1973, Bruxelles 1975, S. 37–65.

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