Cover
Titel
Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930


Autor(en)
Becker, Tobias
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 74
Erschienen
München 2014: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
576 S.
Preis
€ 64,95
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Kaspar Maase, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Populäre Kultur als Indikator gesellschaftlicher Entwicklungen – das ist keine neue Idee; sie wird nur zu selten verfolgt. Nun zeigt Tobias Beckers überarbeitete Berliner Dissertation eindrucksvoll, was vom populären Musiktheater ausgehend bei entsprechenden Fragestellungen alles zu erkennen ist. Grundlegend ist die Vergleichsanordnung: London und Berlin zwischen 1880 und 1930. Sie führt zu einem wesentlichen Befund: Vor dem Ersten Weltkrieg waren die Strukturen des kommerziellen Unterhaltungstheaters in beiden Metropolen in vieler Hinsicht ähnlich und der Austausch erheblich. Schon vor dem Nationalsozialismus hingegen spielten wechselseitige Transfers keine Rolle mehr – weil es in Deutschland kein populäres Musiktheater in Form privatwirtschaftlicher Unternehmen mehr gab. Waren vor dem Ersten Weltkrieg rund 90 Prozent der deutschen Theater in privater Hand, so lag der Anteil staatlicher und kommunaler Bühnen bereits in der Spielzeit 1933/34 über 80 Prozent (S. 50).

Zwar hat Anselm Heinrich in seiner Vergleichsstudie gezeigt, dass auch die Bühnen der öffentlichen Hand trotz aller Hochkulturbekenntnisse ihre Einnahmen zwischen 1918 und 1945 überwiegend mit eingängig-unterhaltsamen Stücken aller Sparten machten.1 Doch innerhalb des Unterhaltungstheaters bildeten die Inszenierungen musikalischer Genres (Operette, Revue, musikalische Komödie) mit Abstand die Publikumsmagneten. Und die darauf spezialisierten Privattheater mussten in der Weltwirtschaftskrise fast alle schließen (nachdem sie vorher schon durch hohe Vergnügungssteuern belastet wurden) – während die subventionierten Bühnen überlebten. Im Untersuchungszeitraum dominierten, wie Becker zeigt, in Öffentlichkeit und Politik Abwertung und Ablehnung des modernen, international verflochtenen populären Musiktheaters. Nach 1918 begnügte man sich nicht damit, das wenig marktgängige „Kulturtheater“ weitgehend in öffentlicher Hand zu betreiben und zu subventionieren; die Unterhaltungsangebote der privaten Bühnen wurden staatlicherseits aktiv zurückgedrängt.

Becker untersucht das populäre Theater nicht als Summe der aufgeführten Stücke, sondern als komplexe soziale Institution im Wandel. Er geht den Beziehungen und Verflechtungen mit der metropolitanen Topographie, der Politik (vor allem der Zensur), den ökonomischen und medialen Kontexten der Bühnenunternehmen im internationalen Horizont, den Produktionsformen des Theaters (Arbeitsteilung, Spezialisierung, intermediale Verwertung) und den Veränderungen des Schauspielerberufs, nicht zuletzt dem Publikum und seiner entscheidenden Rolle für gewinnorientiertes Theater nach. Hinzu kommt die Frage nach den Themen, die die populären Stücke in beiden Hauptstädten aufgriffen (oder vermieden), und nach der Weise, in der sie präsentiert wurden. Eine derartige Entfaltung des Phänomens in seiner Vernetzung kann nie erschöpfend sein; gleichwohl setzt Becker hier Maßstäbe. Das zeigen die vielen gut belegten Befunde, die sowohl das Verständnis populärer kommerzieller Kultur vertiefen als auch dem Bild von deutscher Gesellschaft und Politik (mit Schwerpunkt auf dem Kaiserreich) wichtige Facetten (die teilweise verbreitete Lesarten herausfordern) hinzufügen.

An dieser Stelle muss der Rezensent als historisch arbeitender Kulturwissenschaftler ein durchaus bekanntes Dilemma ansprechen; es betrifft alle Aussagen, die sich auf den Kernbereich der Untersuchung, die Aufführungen des populären Theaters, und die daraus abgeleiteten Thesen und Befunde beziehen. Becker tut das, was man als Historiker in einer Studie tun kann, die zwei Hauptstadtgesellschaften über 50 Jahre hinweg betrachtet: Er interpretiert die Texte der Stücke und zieht immer wieder zeitgenössische Kritiken und (durchaus kontroverse) Einschätzungen heran. Nach kulturwissenschaftlichen Maßstäben ist das ausgesprochen fragwürdig – weil im musikalischen Theater die zusammenwirkenden Bedeutungsebenen sehr viel komplexer sind als die Stücktexte und weil die Lesarten der Besucher um Dimensionen vielschichtiger und weniger eindeutig sind als es heutige Interpretationen sein können. Musik, Ausstattung, Inszenierung, schauspielerische Interpretation beeinflussen die Botschaften von der Bühne wesentlich, und letztlich entsteht jede Aufführung in unwiederholbarer Interaktion zwischen Spiel, Publikum und dem je aktuellen gesellschaftlichen Kontext (die dann in der Anschlusskommunikation verarbeitet wird). Mehrfach weist Becker darauf hin, wie sehr sich gerade Erfolgsstücke während ihrer Laufzeit veränderten (S. 403): Neue Songs, veränderte Texte, ausgewechselte Schauspieler, Improvisationen machen „das Stück“ kaum noch greifbar.

Die Studie thematisiert diese Grenzen ihrer Aussagekraft knapp (S. 21). Sie setzt allerdings erfolgreich ein Mittel ein, um ihren Interpretationen mehr Validität zu verschaffen: Sie verortet das Publikum wie die Schauspielerschaft sozialhistorisch; damit kann man die Plausibilität von Annahmen über zeitgenössische Lesarten erheblich erhöhen. Hier gibt es nämlich einen kohärenten Befund: die „Vermittelschichtlichung“ (S. 234, 262) des populären Theaters im Untersuchungszeitraum. Vergleiche mit den Programmen von Bühnen in eher proletarischen Vierteln, wo man die melodramatische Behandlung sozialer Probleme schätzte, stützen die These, dass die zu den Aufsteigern und Bessergestellten zählenden Publika der innerstädtischen Musiktheater die Gegenwart eher optimistisch betrachteten (allerdings mit antisozialdemokratischem basso ostinato), gesellschaftliche und politische Probleme ausblendeten oder allenfalls distanziert-ironisch behandelten, sich an Darstellungen von Konsum und technischem Fortschritt delektierten und insgesamt die auf den Bühnen inszenierte Moderne mit Vergnügen genossen.

Im Bewusstsein ihrer Relativität seien einige weitere Befunde Beckers herausgehoben. So markant die Internationalisierungsprozesse des populären Theaters vor dem Ersten Weltkrieg waren – sie entsprangen und folgten den ökonomischen Interessen des Bühnengeschäfts, schlugen sie sich nicht in besserem wechselseitigem Verständnis der einbezogenen Gesellschaften nieder (S.368) und ebbten mit dem Niedergang des deutschen populären Musiktheaters in der Zwischenkriegszeit auch wieder ab. Andererseits prägte der Gewinnerzielungszwang der Bühnenunternehmen deren Strategien und Angebote zutiefst; sie mussten die Erwartungen und Problemvermeidungswünsche ihrer Besucher treffen und durften gesellschaftlich Umstrittenes nur in ambivalenter, oft ironisch-humoristischer Weise thematisieren, um keinesfalls größere Gruppen des Publikums durch prononcierte Positionen zu verlieren. Laut Becker kam „der Selbstzensur der Theater […] oft noch eine größere Bedeutung zu als der staatlichen Zensur“ (S. 402).

Die Plausibilität derartiger Thesen, die den hohen Anregungsreichtum der Studie ausmachen, ist allerdings im Blick auf das formulierte analytische Dilemma zu reflektieren. Welches Gewicht einzelne Themen, Sichtweisen, Lesarten für die zeitgenössischen Rezipienten hatten, wissen wir nicht genau (und Kapitel 3.1 zeigt die Grenzen historischer Publikumsforschung noch einmal deutlich auf). Die Interpretationen wirken vermutlich deshalb so einleuchtend, weil sie im Rahmen unseres Vorwissens bleiben. Mit dieser Unschärfe müssen kulturhistorische Studien umgehen, und in diesem Rahmen entfaltet Beckers Buch in herausragender Weise das Netz der Zusammenhänge, in denen populäre Kunst (in diesem Fall eine ausgesprochen mittelschichtzentrierte!) Gegenwart aufnimmt, verdichtet, zur mehr oder minder distanzierten Rezeption darbietet und so selbst Gegenwart mit gestaltet.

Die Hoffnung, die der erste Satz des Klappentextes weckt, wird allerdings nicht wirklich erfüllt: „Die moderne Populärkultur kam auf der Bühne zur Welt“ – das ist eine so ernsthafte wie produktive These. Sie ist jedoch interdisziplinär und mit Fokus auf dem ästhetischen Knowhow der kreativen Macher zu verfolgen. Beckers Ergebnisse können ihre Bedeutung dafür erst entfalten, wenn man sie in die Gesamtentwicklung der populären Genres von der Musik bis zum Film einordnet.

Die vielen Beobachtungen, strukturellen Befunde und Deutungsangebote der Arbeit beruhen durchweg auf einer breiten und diversen Quellen- und Literaturbasis. Becker traut sich außerdem, Verallgemeinerungen und Thesen zu formulieren, die ausgesprochen fruchtbare Anregungen und Herausforderungen für weitere Forschung bieten. So, wenn er gegenüber dem Subventionstheater den unternehmerischen Wettbewerb als wesentliche Triebkraft populärkultureller Kreativität herausstellt (S. 399) oder zugespitzt das populäre Theater vor dem Ersten Weltkrieg durch „Bereitschaft zur Konfrontation mit der eigenen Zeit“ charakterisiert, verglichen mit einer Strategie der „Verdrängung“ und Gegenwartsflucht, die das Unterhaltungstheater der Weimarer Republik gekennzeichnet habe (S. 408). Das wird weiter, gattungsübergreifend, zu diskutieren und zu differenzieren sein.

Ein Tabellenanhang listet die Theater in Berlin und London sowie wichtige Aufführungen in Musiktheater und Revue auf, stellt den Stücketransfer zwischen beiden Metropolen sowie Genehmigungen und Verbote der jeweiligen Zensur zusammen und dokumentiert die Entwicklung der Schauspieler- und Theaterbeschäftigtenzahlen. Ein Personen- und ein Stückeregister helfen beim Erschließen der zudem klar und überschaubar gegliederten Studie. Die Darstellung ist anschaulich und gut lesbar, so dass man dem Werk insgesamt viele Leser und vor allem Nachfolger wünschen mag.

Anmerkung:
1 Anselm Heinrich, Entertainment, propaganda, education. Regional theatre in Germany and Britain between 1918 and 1945, Hatfield 2007.

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension