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Titel
Gates of Tears. The Holocaust in the Lublin District


Autor(en)
Silberklang, David
Erschienen
Anzahl Seiten
497 S.
Preis
$ 43.50
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Walter Manoschek, Institut für Staatswissenschaft, Universität Wien

Der Distrikt Lublin spielte eine zentrale Rolle bei der Verfolgung und Ermordung der Juden im Generalgouvernements (GG). Der Distrikt diente 1939 bis 1943 als „Abladeplatz“ für Juden aus anderen Gegenden nicht nur des GG und dem ins Deutsche Reich eingegliederte Westpolen (Warthegau), sondern auch aus Deutschland, Österreich, der Tschechoslowakei und der Slowakei. Der Distrikt Lublin war das Zentrum jüdischer Zwangsarbeit und das Zentrum des Judenmordes. In Lublin befanden sich mit dem SS- und Polizeiführer Odilo Globocnik und seinem Apparat die Exekutoren der „Aktion Reinhardt“. Von hier aus wurden die Vergasungsfabriken Sobibor, Treblinka, Belzec und Chelmo geplant; von hier aus wurden die Lagerleiter und das Tötungspersonal rekrutiert und die „Aktionen“ in den Ghettos zur Deportation in die Mordstätten organisiert, in denen zwischen März 1942 und Januar 1943 von den knapp 2,3 Millionen Juden im GG etwa zwei Millionen ermordet wurden. Im Distrikt Lublin selbst wurde etwa eine Million Juden getötet, darunter 99% der lokalen jüdischen Bevölkerung.

Diese nackten, unfassbaren Zahlen bilden den Ausgangspunkt für Silberklangs Monografie. Die Arbeit ist in neun Kapitel aufgeteilt. Beginnend mit einer Übersicht über die Verwaltungsstrukturen, bei der die Akteure, Funktionen und Organisationsstrukturen des Besatzungsapparats präzise vorgestellt und mit übersichtlichen Grafiken ergänzt werden, folgen die weiteren Kapitel chronologisch den Stufen des Vernichtungsprozesses. Ab Herbst 1939 stand die Judenpolitik unter dem Primat von Zwangsumsiedlungen und Zwangsarbeit; dem folgte 1940/41 die Konzentration der jüdischen Bevölkerung in Ghettos und der Bau und die Organisation der Vernichtungsanlagen (Bau der Anlagen, Auswahl der Kommandanten, Rekrutierung der Lagermannschaften). In der Phase von Frühjahr 1942 bis Anfang 1943 wurden dann fast 90% der im GG lebenden Juden ermordet, davon die allermeisten vergast. Die wenigen, die zurückgeblieben waren, arbeiteten in diversen Zwangsarbeitslagern des Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes, des SS- und Polizeiführers, der Wehrmacht oder in privaten Betrieben um ihr Leben. Von den zu Jahresbeginn 1943 im Distrikt Lublin noch lebenden Juden und sowjetische Kriegsgefangenen erschossen SS-Kommandos, deutsche Polizei und Trawnikis (ukrainische Hilfskräfte) Anfang November 1943 bei der „Aktion Erntefest“ nochmals etwa 43.000 Menschen.

Die vor Beginn der „Aktion Reinhardt“, im Vergleich etwa zum Warschauer Ghetto, besseren Lebensbedingungen und niedrigeren Todesraten in den Ghettos des Distrikt Lublin hingen eng mit der Politik der deutschen Zivilverwaltung zusammen, die Juden nicht in geschlossenen Ghettos zu internieren. Das ermöglichte ihnen lokale Kontakte mit christlichen Polen, die Beschaffung von Lebensmitteln und den Austausch von Informationen.1 Auch jene Juden, die ab 1943 in Zwangsarbeitslagern arbeiteten, wurden kaum oder gar nicht bewacht. Die Nazis wussten, dass sie keinen sicheren Platz hatten, wo sie sich verstecken konnten. Wer es dennoch versuchte, hatte wenig Überlebenschancen: er musste mit hoher Wahrscheinlichkeit damit rechnen, von christlichen Polen ermordet oder von ihnen an die Nazis ausgeliefert zu werden.2

Die Studie Silberklangs ermöglicht einen vielschichtigeren Blick auf die jüdischen (Über-) Lebensverhältnisse und Todesgefahren für Juden im Distrikt Lublin. Der Autor weist dabei auf das – z.B. schon vom Warschauer Ghetto bekannte – Paradoxon hin, dass die Zivilverwaltung am Erhalt eines Mindestmaß an Arbeitskraft interessiert war, während die SS danach strebte, so viele Juden wie möglich zu ermorden: „Better conditions were followed by near total death.“ (S. 438)

Ein interessanter Aspekt ist der Versuch des Autors, die Chancen der verschiedenen Überlebensstrategien quantitativ zu analysieren. Ex post kommt er zum Schluss, dass Zwangsarbeit die relativ höchste Überlebenschance bot. Das ist, wie der Autor betont, allerdings nur ein Zahlenspiel: „The Germans created a confusing and consistently unpredictable frame of reference, which in essence meant that the Jews had no frame of reference at all. The Germans held all the power; the Jews none.“ (S. 447) Dieser Schluss ist essentiell, da er die völlig falsche, nichts desto trotz noch immer kolportierte Behauptung, die Juden wären wie Lämmer zur Schlachtbank getrottet, ad absurdum führt. Silberklangs Studie überzeugt auf allen Ebenen. Sie basiert auf einer Fülle von Dokumenten und Quellen, ist flüssig geschrieben und übersichtlich und stringent aufgebaut. Die Vielzahl von Strukturdaten dient zum einen als sinnvolle Ergänzung der verwendeten Quellen und bietet zudem eine hilfreiche Orientierung. Dadurch verliert der Leser trotz der Komplexität der Materie niemals den roten Faden. Aufbauend auf den Studien von Dieter Pohl3 und Bogdan Musial4 über die Judenpolitik im Distrikt Lublin liegt mit Silberklangs brillant geschriebener Monografie nunmehr eine umfassende Analyse des Vernichtungsprozesses im Distrikt Lublin vor.

Meine kritischen Anmerkungen gelten nicht dem Autor, sondern dem Verlag bzw. dem Archiv von Yad Vashem. Offensichtlich hat der Verlag auf ein gründliches Lektorat verzichtet, was sich insbesondere bei der verwendeten deutschen Literatur bzw. bei deutschen Begriffen niederschlägt, die in den Fußnoten manchmal sprachlich bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt sind. Durch die oft undurchsichtige Neunummerierung der Akten im Archiv von Yad Vashem sind manche Akten unter den im Buch angeführten Aktenzahlen nicht auffindbar.
Diese Schwachstellen sollten sich allerdings bei der nächsten Auflage, die mit großer Wahrscheinlichkeit erfolgen wird, leicht beheben lassen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Studie von Silberklang sowohl inhaltlich als auch stilistisch voll überzeugt und mit Sicherheit als Standardwerk über die Judenpolitik im Distrikt Lublin gelten kann.

Anmerkungen:
1 Das bislang kaum rezipierte Testament eines jüdischen Ghettopolizisten aus Otwock im Distrikt Warschau dokumentiert die Möglichkeiten und Gefahren, die beim Kontakt mit nicht-jüdischen Polen verbunden waren: Calel Perechodnik, Bin ich ein Mörder? Das Testament eines jüdischen Ghetto-Polizisten, Lüneburg 1997.
2 Jan Grabowski zeigt in seiner Mikrostudie über den Landkreis Dabrowa Tarnowska, dass die Mehrheit der Juden, die sich auf der „arischen Seite“ zu verstecken versuchten, durch Betrug und Mord seitens der christlich-polnischen Bevölkerung umkamen; Jan Grabowski, Hunt for the Jews. Betrayal and Murder in German-Occupied Poland, Bloomington 2013.
3 Dieter Pohl, Von der „Judenpolitik“ zum Judenmord. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements 1939–1944, Frankfurt am Main 1993.
4 Bogdan Musial, Deutsche Zivilverwaltung und Judenverfolgung im Generalgouvernement. Eine Fallstudie zum Distrikt Lublin 1939–1943, Wiesbaden 1999.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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