S. Salem: Die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik

Cover
Titel
Die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnik in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1960er Jahren.


Autor(en)
Salem, Samia
Reihe
Pallas Athene. Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte 47
Erschienen
Stuttgart 2013: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
315 S., 8 Tabellen
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dirk Thomaschke, Institut für Geschichte, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die öffentlichen Debatten um die Gentechnologie und deren Anwendungsmöglichkeiten gehören keinesfalls einer vergangenen Epoche an; sie sind von hoher Aktualität für viele Bereiche der Gesellschaft – allen voran Medizin, Wissenschaft, Industrie und Landwirtschaft. Darüber hinaus berühren sie weiterhin zentrale Fragen des Selbstverständnisses des Menschen und seines Verhältnisses zur Umwelt. Dies gilt auch im „postgenomischen“ Zeitalter1, in dem die Bedeutung der Gene, des einstigen Schlüssels zu den Geheimnissen des Lebens, durch aktuelle biowissenschaftliche Erkenntnisse nachhaltig relativiert worden ist. Mit der Veröffentlichung ihrer an der Technischen Universität Berlin abgeschlossenen Dissertation zur Wahrnehmung der Gentechnik – der punktuellen Veränderung des Genoms von Mikroorganismen, Pflanzen, Tieren oder gar Menschen – seit den 1960er-Jahren legt Samia Salem einen Beitrag zur Genealogie der aktuellen Debatten vor.

Die bundesrepublikanischen Diskussionen um die Gentechnologie waren in breitere zeitgeschichtliche Entwicklungen eingebettet, die durch Salems Studie ebenfalls an Kontur gewinnen. Hier ist zuerst an den bereits vielfach beschriebenen, jedoch in vielen Details noch unbekannten Umschlag von Fortschrittsoptimismus und Technikvertrauen hin zu einem eher skeptischen öffentlichen Umgang mit neuen Technologien im Laufe der 1960er- bis 1980er-Jahre zu denken. Zweitens beleuchtet die Studie den allmählichen, im Vergleich zur US-amerikanischen Entwicklung späten Aufstieg bioethischen Denkens und bioethischer Institutionen in Deutschland. Hier besteht – nicht nur aus medizingeschichtlicher Perspektive – ein dringendes Desiderat in geschichtswissenschaftlicher Hinsicht.

Um ihrem Anspruch gerecht zu werden, einen ersten historischen Überblick zu den verschiedenen gesellschaftlichen Debatten über Gentechnik in der Bundesrepublik zu geben, hat die Autorin ein sehr umfangreiches Korpus an Zeitschriften ausgewertet. Neben den Zeitungen „Die Welt“ und „Der Spiegel“ befinden sich hierunter „Deutsches Ärzteblatt“, „Herder Korrespondenz“ und „Unabhängige Bauernstimme“. Hinzu kommen zahlreiche Veröffentlichungen von Wissenschaftlern und Politikern bzw. Regierungsbehörden. Auf diesem Wege will Salem die „Wahrnehmung zentraler Akteursgruppen“ abdecken (S. 267), namentlich von Biowissenschaftlern, Politikern, Medizinern, Kirchenvertretern und Theologen, Landwirten sowie Interessenverbänden.

Die Autorin nimmt eine ideengeschichtliche Rekonstruktion der wichtigsten Argumentationsmuster dieser Gruppen vor. Die Ausführungen sind sehr materialreich belegt, jedoch streckenweise redundant, da Salem die Akteursgruppen jeweils nacheinander durchgeht und ihre Stellungnahmen zu zentralen Technologien bzw. deren Anwendungen referiert. Es handelt sich vorrangig um ein Inventar öffentlicher Positionierungen gegenüber der Gentechnik und nicht um eine „historische Diskursanalyse“, wie Klappentext und Einleitung ankündigen. Hier verschenkt die Arbeit analytisches Potential: Erstens zeigt Salem zwar auf, wie die zahlreichen Debattenbeiträge aufeinander reagierten; sie arbeitet jedoch keine tieferliegenden Rationalitäten heraus, die das Denken und Handeln der Akteure jenseits ihrer unterschiedlichen Absichten prägten. Zweitens erscheinen die zusammengetragenen Äußerungen als Reflexe wissenschaftlicher Entdeckungen bzw. technischer Entwicklungen. Der Fortschritt von Forschung und Technologie stellt somit eine externe Quelle für die öffentlichen Diskussionen dar, die ihnen den Takt vorgegeben habe – statt die Interdependenz beider Ebenen näher zu betrachten. Vor allem in diesen beiden Hinsichten ließen sich die Möglichkeiten wissenschaftsgeschichtlicher oder diskursanalytischer Methoden in zukünftigen Studien stärker ausschöpfen.

Ein Verdienst der Arbeit liegt hingegen in der fortlaufenden Kontextualisierung der Gentechnik-Debatten. Während ihre Anfänge in den 1960er- und 1970er-Jahren von der Zukunftsforschung und den Kontroversen um die Kernenergie geprägt wurden, verknüpften sie sich ab Ende der 1970er-Jahre stärker mit der Gesellschaftskritik von Umwelt- und feministischen Bewegungen. Seit dieser Zeit ist die öffentliche Wahrnehmung der Gentechnologie zudem eng verwoben mit der Verhandlung reproduktionsmedizinischer und humangenetischer Forschungsbereiche. Darüber hinaus wirft Salem immer wieder Seitenblicke auf die sich früh entwickelnde gentechnologische Privatwirtschaft in den USA. Hierbei ging insbesondere von den Exportinteressen im Bereich gentechnisch veränderter Nutzpflanzen und Lebensmittel ein ständiger Handelsdruck auf die Europäische Gemeinschaft und die Bundesrepublik aus. Ab den 1980er-Jahren setzten sich Politik und Industrie verstärkt für den Ausbau des wirtschaftlichen „Standorts“ Deutschlands in gentechnologischer Hinsicht ein.

Der Hauptteil der Arbeit ist chronologisch gegliedert, wobei die Einteilung in fünf Kapitel – und damit Phasen –, die ungefähr deckungsgleich sind mit den fünf Dekaden der 1960er- bis 2000er-Jahre, nicht mehr als eine grobe Orientierung verschafft. Der Hauptgrund hierfür liegt darin, dass Salem die „rote“ Gentechnik (die Herstellung medizinischer Wirkstoffe mittels gentechnologischer Methoden und die Gentherapie) und die „grüne“ Gentechnik (die Herstellung genetisch modifizierter Pflanzen und Tiere) in den Kapiteln jeweils getrennt voneinander bespricht und für beide Diskussionsstränge relativ eigenständige Konjunkturen identifiziert.

Aus der Fülle des Materials seien hier nur einige Schlaglichter wiedergegeben: Der Beginn einer öffentlichen Diskussion um die Gentechnik ist Salem zufolge im Rahmen der von der CIBA-Stiftung 1962 in London veranstalteten Tagung „The Future of Man“ zu verzeichnen. Dort debattierten renommierte Genetiker und Biologen wie Hermann Muller und Julian Huxley die Ideen einer Verbesserung des menschlichen Genpools mittels der kontrollierten Fortpflanzung über Samenbänke und der damals noch utopischen Möglichkeit, direkt in das genetische Material des Menschen einzugreifen. Die Rezeption der Tagung in der westdeutschen Öffentlichkeit sei von einem vergleichsweise engen Kreis von Genetikern bestimmt worden, die den dort vertretenen Thesen mehrheitlich ablehnend gegenüberstanden. Die Medien hätten die Expertenäußerungen mittels einer in erster Linie „lexikalischen“ Aufklärung unterstützt.

Die zweite Phase wurde durch die ersten erfolgreichen Experimente mit rekombinanter DNA zu Beginn der 1970er-Jahre geprägt. Es entbrannte zuerst in den USA eine wiederum von Biowissenschaftlern selbst angestoßene Diskussion um die Sicherheit der neuen Technologie angesichts möglicher Folgen eines Kontaktes genetisch veränderter Organismen mit der Umwelt. Dabei ist die Konferenz im kalifornischen Asilomar im Jahr 1975 sprichwörtlich geworden. Diese Sicherheitsdiskussion sei auch in der Bundesrepublik weiterhin in Expertenhand gewesen. Wissenschaftler und Politiker entwickelten Sicherheitsrichtlinien nach US-amerikanischem Vorbild, wobei sie einen strategischen Umgang mit der Öffentlichkeit an den Tag legten: Das primäre Ziel sei es gewesen, eine kontroverse Debatte – wie im Fall der Proteste gegen die Atomenergie – zu vermeiden.

Nach einer kurzen Zeit der relativen Marginalität gentechnischer Themen in der bundesdeutschen Öffentlichkeit habe in den 1980er-Jahren hauptsächlich die Politik für eine Wiederbelebung der Diskussion gesorgt. Die Politik setzte vor allem auf Expertenkommissionen zur Technikfolgenabschätzung, deren Zusammensetzung jedoch deutlich interdisziplinärer ausfiel als in den 1970er-Jahren. Zeitgleich entdeckten feministische und Umweltverbände die Gentechnologie für sich; es entstanden auch einige neue Interessengruppen wie das „Genethische Netzwerk“ (GeN).

Die Kommissionsberichte der 1980er-Jahre mündeten in das 1990 erlassene deutsche Gentechnikgesetz. Industrievertreter und Wissenschaftler kritisierten die Reglementierungen stark, vorrangig im Namen der Forschungsfreiheit und der Gefahr für den Wirtschaftsstandort Deutschland. Mittlerweile hatten US-amerikanische Unternehmen bereits mehrere Freisetzungsversuche mit genetisch veränderten Nutzpflanzen unternommen und brachten im Laufe der 1990er-Jahre erste genetisch veränderte Lebensmittel auf den Markt. Mediziner kritisierten hingegen die Beschränkungen der experimentellen Möglichkeiten der Gentherapie, die seinerzeit große Heilsversprechen barg. In der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre schlug sich die Politik immer deutlicher auf die Seite der Industrievertreter und plädierte für den gentechnologischen Standortausbau Deutschlands. Der Grundsatzkritik von Umweltverbänden sollten in der Öffentlichkeit vor allem „Aufklärung“ und „Information“ entgegengesetzt werden. Parallel habe die zunehmende Institutionalisierung der Bioethik in den 1990er-Jahren dazu geführt, dass diese sich immer stärker auf philosophische Fragen verlegte und sich von konkreten Anwendungsfragen entfernte.

Zum neuen Jahrtausend seien die gentechnologischen Anwendungsmöglichkeiten in der Medizin kaum noch auf grundlegenden Widerstand gestoßen, ihre Diskussion sei jedoch nach wie vor mit einem breiteren Themenfeld assoziiert worden: nun vor allem Klonierungstechniken und die Forschung mit embryonalen Stammzellen. Demgegenüber sei die „grüne“ Gentechnik in Deutschland vor allem am (indirekten) Widerstand der Verbraucher gescheitert, die entsprechenden Produkten sehr skeptisch begegneten. Mediziner, Wissenschaftler und Politiker hätten in den 2000er-Jahren weiterhin auf eine „umfassende Beteiligung der breiten Öffentlichkeit“ und „Dialogformate“ (S. 255) wie zum Beispiel Bürgerkonferenzen gebaut, die bereits seit den 1990er-Jahren erprobt worden waren. Die Fehlinformation der Laien schien ihnen weiterhin die Hauptursache gentechnischer Kontroversen zu sein.

Neben den bereits angesprochenen Vor- und Nachteilen der Studie ist positiv hervorzuheben, dass Salem keine der behandelten Akteursgruppen bevorzugt behandelt oder im Gegenzug skandalisiert. Sie trägt damit zu einer wohltuenden ‚Ent-Moralisierung‘ der Geschichte der Gentechnologie bei. Da dieses Themenfeld bislang vorrangig von Medizinern und Bioethikern bearbeitet worden ist, zielt ein Großteil der vorliegenden Literatur darauf ab, den ‚richtigen‘ Umgang mit der Technologie zu bestimmen. Der konsequenten Historisierung der Gentechnik und ihrer gesellschaftlichen Verhandlung ist dies jedoch wenig zuträglich.

Die Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit für den Umgang mit der Gentechnik in Deutschland relativiert Salem. Sie widerlegt an einigen Stellen des Buches den Mythos, der sich vor allem unter Genetikern und Medizinern hartnäckig hält, dass die genetische Forschung hierzulande einen ‚Sonderweg‘ eingeschlagen habe – zurückzuführen auf eine ständige Belastung durch ihre NS-Vergangenheit. Die Probleme, die sich der Gentechnologie in der Bundesrepublik stellten, sind durchaus mit denen in anderen Ländern vergleichbar und auf viele verschiedene Faktoren zurückzuführen. Gerade dieser Punkt hätte sich durch einen internationalen Vergleich bzw. eine transnationale Perspektive erhärten lassen. Hier bietet die Geschichte der Gentechnologie einige vielversprechende Aussichten für künftige Arbeiten.

Dies gilt auch für die Berücksichtigung von Archivquellen. Während Salem sich ausschließlich auf gedruckte und Internet-Quellen bezieht, lohnt es sich in Zukunft, Archivbestände zu suchen und auszuwerten. Dadurch ließen sich zahlreiche Aspekte des Gentechnologie-Diskurses besser herausarbeiten, die der vorliegende Überblick nur anreißen konnte.

Anmerkung:
1 Staffan Müller-Wille / Hans-Jörg Rheinberger, Das Gen im Zeitalter der Postgenomik. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme, Frankfurt am Main 2009.