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Titel
Hitlers zweiter Putsch. Dollfuß, die Nazis und der 25. Juli 1934


Autor(en)
Bauer, Kurt
Erschienen
St. Pölten 2014: Residenz Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Grzegorz Rossolinski-Liebe, Berlin

Einige historische Ereignisse entziehen sich einer durchdringenden Analyse und brauchen Zeit, um umfassend erforscht und ausreichend verstanden zu werden. Der nationalsozialistische Juliputsch in Österreich von 1934 gehörte bis vor kurzem zu solchen Begebenheiten. Zwar haben alle im Großen und Ganzen gewusst, wie er verlief und was er bewirkte, aber die Unzugänglichkeit von Materialien und der Mangel an komplexer, tiefgehender und synthesereifer Forschung ließen viele seiner Aspekte im Dunkeln. Auch Kurt Bauer, der in der vorliegenden Publikation den Stand der Forschung zu diesem Ereignis maßgeblich erweitert, hatte zuvor neben mehreren anderen über den Nationalsozialismus oder „Austrofaschismus“ arbeitenden Historikern wie Heinz Höhne, Ian Kershaw oder Gerhard Jagschitz nur ein unvollständiges Bild des Juliputsches präsentieren können (S. 161–164, 246–250).1 Dies änderte sich erst nachdem Elke Fröhlich Teile von Joseph Goebbels Tagebüchern im Moskauer Sonderarchiv entdeckte und das Institut für Zeitgeschichte sie zwischen 1993 und 2006 herausgab. Dieses Dokument, oder genauer: ein Eintrag des nationalsozialistischen Propagandaministers in seinem Tagebuch, erlaubten es dem Wiener Historiker nun, Hitlers Rolle in dem Putsch sowie das Verständnis der Planung und Umsetzung des misslungenen Umsturzes zu überdenken, mehrere seiner Aspekte neu zu erforschen und es anschließend in einer spannenden, teilweise sogar amüsanten und krimiartig geschriebenen Monographie zu präsentieren.

Durch die Einführung einer autoritären Verfassung am 1. Mai 1934 passte sich der österreichische Bundeskanzler Engelbert Dollfuß – der wegen seiner Körpergröße als Millimetternich verspottet und auf Postkarten als ein uniformierter und Hitlers Lächeln hervorrufender Knabe mit Blumen karikiert wurde – den zwei faschistischen Nachbarländern Deutschland und Italien an. Die „Austrofaschisten“ fühlten sich nicht ohne Grund von den deutschnationalen Nationalsozialisten in ihrem Ständestaat und in Deutschland bedroht. Sie suchten Mussolinis Nähe und verstanden ihn als einen natürlichen Bündnispartner und Schutzherrn der Donaurepublik. Hitler befürchtete, dass sich Österreich nicht nur mit Italien sondern auch mit Frankreich verbinden würde, daher wagte er nicht, Österreich ohne Einverständnis des „Duces“ zu besetzen bzw. dort eine deutschnationale Regierung zu installieren.

Der Putsch vom 25. Juli – der in die Historiographie bislang als eine Initiative lokaler österreichischer Nationalsozialisten interpretiert wurde – war so geplant und durchgeführt worden, dass kein Hinweis auf eine Steuerung aus Berlin erkennbar war. Mehrere Irrtümer, Unzulänglichkeiten, Missverständnisse und Fehlleistungen auf der Seite der Putschisten sowie unerwartete Zwischenfälle verstärkten noch diesen Eindruck. Die drei Hauptputschisten Rudolf Weydenhammer, Gustav Wächter und Fridolin Glass hatten eigentlich vorgehabt, Dollfuß’ Regierung bereits am 24. Juli zu stürzen. Sie mussten jedoch den Putsch verlegen, weil die Regierungssitzung um einen Tag verschoben wurde (S. 20). Der Putschist Johann Dobler, der seine Meinung änderte und sich dafür entschied, den Umsturz bei den österreichischen Behörden anzuzeigen, wurde nicht ernst genommen und konnte die Wiener Polizei nicht überzeugen, den Putsch zu verhindern (S. 41–45). Die eigentlichen Umstürzler – einige Dutzend uneinheitlich uniformierte oder mit Uniformen verkleidete Nationalsozialisten – sammelten sich in einer Turnhalle in der Siebensterngasse 11 im 7. Wiener Gemeindebezirk. Von dort fuhren sie mit mehreren LKWs und einem PKW an der Spitze zum Bundeskanzleramt. In dem PKW saßen Franz Holzweber und Otto Planetta. Der Anführer Fridolin Glass hatte die Abfahrt versäumt. Nach wenigen Minuten Fahrt wurden die Putschisten von verwirrten Wachen auf den Hof des Regierungsgebäudes eingelassen und bekamen sogar gezeigt, wo sie einparken sollten (S. 46–51).

Der tödliche Schuss auf Bundeskanzler Dollfuß, der in die Geschichte als Tat Planettas einging, wurde womöglich gar nicht von dem kurz darauf hingerichteten „Landesverräter“ abgefeuert. Des Weiteren war er nicht geplant und scheint ein unbeabsichtigter Zufall gewesen zu sein, der die Putschisten dazu veranlasste, nach einem Arzt zu suchen (S. 73–91). Dieses Ereignis sollte dem umfangreichen Bereich von Missverständnissen und Fehlleistungen zugeschrieben werden, der die internationale politische Lage der Nazis deutlich verkomplizierte, Hitler in eine schwierige Position brachte, den „Duce“ dazu veranlasste, seine Truppen an der österreichischen Grenze aufmarschieren zu lassen und die Nationalsozialisten in der Presse mehrmals als „unzivilisierte Barbaren“ zu beschimpfen (S. 220–223). Um ungefähr dieselbe Zeit als der Schuss fiel, ließ eine andere Gruppe von Putschisten, die von dem tödlichen Unfall im Kanzleramt nichts wusste, die österreichischen Radiohörer aus den von ihnen besetzten Studios der RAVAG (Radio Verkehrs AG) wissen, dass die Bundesregierung demissioniert habe (S. 69).

Um zu verstehen, was das sehr verwirrend wirkende Geschehen in Wien am 25. Juli eigentlich bedeuten sollte und wie es dazu kam, ist es Bauers Meinung nach notwendig, Mussolinis mangelnde Deutschkenntnisse zu berücksichtigen, weil sie, wie eine durchaus plausible Vermutung suggeriert, Hitler dazu Anlass gaben, die Regierung in seiner Heimat zu stürzen. Dazu soll es während des ersten Treffens zwischen dem „Führer“ und dem „Duce“ am 14. Juni 1934 in Stra (Italien) gekommen sein, bei dem sich der für seine mangelhaften aber von sich selbst als hervorragend eingestuften Deutschkenntnisse bekannte Mussolini mit Hitler ohne einen Dolmetscher und ohne jegliche Begleitung über zwei Stunden lang unter anderem über Österreich unterhielt (S. 173). Dieses Gespräch, wie mehrere Dokumente und Indizien suggerieren, überzeugte Hitler davon, dass sein italienisches Pendant nichts gegen einen gewaltsamen Regierungswechsel in Österreich habe (S. 182-183). Der Beschluss, Dollfuß unter Einsatz von Gewalt abzusetzen, wurde etwa zur selben Zeit wie jener für die Aktion gegen Ernst Röhm gefasst, aber erst fast einen Monat nach dieser ausgeführt (S. 188).

Anstatt NS-Deutschland aus der internationalen Isolation herauszuführen, erwies sich der Putsch, der auch an anderen Orten Österreichs stattfand und überall erfolgreich unterbunden wurde, für die deutsche Regierung als eine politische und diplomatische Katastrophe. Hitler, der sich zu dieser Zeit zusammen mit Goebbels und weiteren Unterstützern in Bayreuth aufhielt, stieg deshalb nicht in das für ihn in München vorbereitete Sonderflugzeug und flog nicht nach Wien, wo er sich als Herr der Lage und Unterstützer der schon durch die RAVAG angekündigten neuen Regierung unter der Leitung Anton Rintelens ausgeben wollte (S. 69, 193). Der ungeplante Ausgang des Putsches veranlasste Hitler die Verantwortung auf Theodor Habicht, den „Landesinspekteur“ der österreichischen NSDAP und Alfred Frauenfeld, den Gauleiter der Wiener NSDAP sowie weitere Putschisten zu schieben bzw. diesen nahe zu legen, sich als die einzigen Ideengeber und Vollzieher des Umsturzes auszugeben und alle auf einen anderen Verlauf der Dinge hinweisenden Dokumente zu vernichten (S. 214, 241).

Bauers Buch ist das Produkt langer Recherchen, kritischen Forschens, intensiven Nachdenkens sowie spät und wohl zufällig in Moskau entdeckter Quellen. Es erweitert das Wissen über die Ereignisse in Wien um den 25. Juli maßgeblich und vervollständig das Bild dieser Ereignisse; teilweise interpretiert es sie neu und trägt zu einem neuen Verständnis bei. Die spannend geschriebene und gut lesbare Monographie zeigt, welche Rolle Österreich um 1934 in Europa spielte, was deutsche, italienische und österreichische Faschisten trennte und verband und erklärt, warum sie sich einmal Anerkennung zeigten, höflich und respektvoll miteinander umgingen und kurz danach – auch durch sprachliche Missverständnisse – gegenseitig töteten oder als Barbaren beschimpften. Das Buch hinterfragt zu Recht die Unzulänglichkeit früherer Interpretationen und trägt zur transnationalen Faschismusforschung, besonders der Konfliktproblematik zwischen faschistischen Bewegungen untereinander, bei.

Anmerkung:
1 Vgl. Kurt Bauer, Elementar-Ereignis. Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934, Wien 2003.

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