A.J. McAdams: Judging the Past in Unified Germany

Titel
Judging the Past in Unified Germany.


Autor(en)
McAdams, A. James
Erschienen
New York, Cambridge 2001: Cambridge University Press
Anzahl Seiten
244 S.
Preis
$ 53.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, University of North Carolina, Chapel Hill

Die dritte juristische "Vergangenheitsbewältigung" in Deutschland steuert unaufhaltsam ihrem Ende zu 1, ihre Bewertung bleibt jedoch umstritten. Wie schon seine beiden Vorgängerprozesse, die Aufarbeitung von NS-Unrecht in West und Ost, hat auch der justitielle Umgang mit SED-Unrecht die Gesellschaft polarisiert. Positive und negative Einschätzungen dürften sich dabei in etwa die Waage halten. Während Aufarbeitungsgegner, in der Regel vom Standpunkt einer nicht konkretisierten "Staatsräson" bzw. eines idealistisch überhöhten Verständnisses von "Staatskunst" argumentierend, an der Auffassung festhalten, Strafprozesse und administrative Überprüfungen seien für den Prozess der "inneren Einheit" schädlich gewesen 2, sehen sich deren Kritiker durch den Vergleich mit anderen postkommunistischen Staaten in der Meinung bestätigt, die justitielle Aufarbeitung habe den Demokratisierungsprozess insgesamt befördert 3. In der laufenden Kontroverse um eine "politisch kluge" und "moralisch gerechte" Auseinandersetzung mit dem DDR-Erbe wird jedoch oft übersehen, dass dieser Prozess darüber hinaus eine Entwicklung abgeschlossen hat, die man mit gutem Grund "historisch" nennen kann.

Als beide deutschen Staaten im August 1990 den Einigungsvertrag abschlossen, war noch kaum absehbar, dass sich die neue Bundesrepublik im Zuge der dritten juristischen Vergangenheitsbewältigung endgültig vom traditionellen Souveränitätsparadigma der Staatsrechtslehre alter Prägung verabschieden und sich stattdessen zu einem vehementen Befürworter eines internationalen Völkerstrafrechts wandeln würde. Hatten deutsche Staats- und Völkerrechtler noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts als geistige Speerspitzen eines trotzig-nationalistischen Abwehrkampfes gegen das "Versailler Schanddiktat" gewirkt, stehen sie heute in vorderster Reihe, wenn es um die Kodifizierung und Institutionalisierung internationaler Menschenrechte und die damit verbundene Einschränkung staatlicher Souveränität geht. Die geschichtlichen Dimensionen dieses langwierigen, keineswegs linear verlaufenden Wandlungsprozesses, der mit dem Begriff "Westernisierung" wohl nur unzureichend beschrieben ist, sind erst in Ansätzen gewürdigt und erforscht worden. Feststehen dürfte jedoch, dass er auch durch die juristischen Auseinandersetzungen mit zwei diktatorischen Unrechtssystemen ermöglicht wurde. Zwar konnten die juristischen Aufarbeitungsprozesse, weil halbherzig und in sich widersprüchlich, den Opferbedürfnissen nur unzureichend gerecht werden. Gleichwohl verhalfen sie an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert der Erkenntnis zum Durchbruch, dass Menschenrechtsschutz keine innerstaatliche Angelegenheit ist und sein darf.

James McAdams, Politikwissenschaftler an der University of Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana und einer der profundesten Kenner der deutschen Nachkriegsgeschichte, hat seiner Studie zur dritten deutschen Vergangenheitsbewältigung Karl Marx’ berühmten Satz aus dem "Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte" ("Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbst gewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Zuständen" 4) vorangestellt, und dies aus gutem Grund. Denn anders als viele Wissenschaftler meinen oder zu wissen glauben, waren Politiker und Ministerialbeamte in ihrer Entscheidung für oder gegen eine juristische Aufarbeitung von SED-Unrecht keinesfalls so frei, wie es die nachträglich konstruierten, tatsächlich aber oft gar nicht vorhandenen Handlungsoptionen nahe legen. Weder war es den Entscheidungsträgern seinerzeit möglich, zwischen Abstraktionen wie "Moral", "Pragmatismus" oder "staatsmännische Vernunft" zu wählen, noch war der 1989/90 eingeleitete Prozess ausschließlich das Ergebnis geschichtspolitischer Machtkämpfe 5.

Vielmehr, und hier darf McAdams für sich beanspruchen, das Blickfeld um einen wesentlichen Aspekt erweitert zu haben, beruhte der schließlich eingeschlagene Weg vielfach auf längerfristigen Vorprägungen und Dispositionen, die sich einerseits aus der rechtsstaatlichen Tradition der alten Bundesrepublik ergaben, die aber andererseits auch auf rechtspolitische Festlegungen zurückgingen, welche bereits in der Umbruchphase der alten DDR ihren Ausgangspunkt genommen hatten. Zu Recht hebt McAdams außerdem die Tatsache hervor, dass der staatliche Umgang mit der DDR-Vergangenheit darüber hinaus von einer Reihe "weicher" Faktoren bestimmt wurde. Kollektive Erfahrungsmuster, wie die in West wie Ost wahrgenommene Auseinandersetzung mit den unvergleichlich schwerwiegenderen NS-Verbrechen sowie unterschiedliche Geschichtsbilder zur DDR, beeinflussten ebenfalls die Entscheidungsprozesse zugunsten einer juristischen und historischen Aufarbeitung von SED-Unrecht. Angesichts der gravierenden vergangenheitspolitischen Defizite beider deutscher Nachfolgestaaten und der äußeren Umstände der friedlichen Revolution von 1989 war es, so McAdams, im Wesentlichen unvermeidlich, dass die NS-Vergangenheit erneut auf die tagespolitische Agenda rückte und im Zusammenhang mit der DDR-Vergangenheit diskutiert wurde (S. 4).

Zeitgenössische Kritiker haben frühzeitig davor gewarnt, dass sich aus dieser besonderen historischen Konstellation irrationale Tendenzen ergeben könnten. Konkret lag die Gefahr im Jahr 1989/90 weniger darin, dass die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit als solche in den Hintergrund treten könnte, sondern dass die wiedervereinigte Bundesrepublik der Versuchung erliegen würde, durch eine übermäßig harte juristische Bewältigung von SED-Unrecht die unzureichende Auseinandersetzung mit NS-Unrecht kompensieren zu wollen. Da die Mehrzahl der Ost- und Westdeutschen der Auffassung zuneigten, dass sowohl die in der DDR erfolgte Abrechnung mit dem NS-Regime als auch die im Westen durchgeführten NS-Prozesse hinter den selbst gesetzten Ansprüchen zurückgeblieben waren, sahen sich die Politiker in der ersten Jahreshälfte 1990 zudem mit der Frage konfrontiert, wie die erforderlichen rechtlichen Maßnahmen historisch-politisch legitimiert werden sollten. War die alte Bundesrepublik, die sich jahrelang um die notwendige Aufarbeitung von NS-Massenverbrechen herumgedrückt hatte, wirklich berechtigt, die Aufarbeitung von SED-Unrecht zu übernehmen? Würde es nicht einen Rückfall in die Konfrontationsmuster des Kalten Krieges bedeuten, wenn die Funktionsträger des SED-Regimes juristisch zur Verantwortung gezogen würden?

McAdams, der die Diskussionsprozesse der Umbruchphase mit erfreulicher Detailgenauigkeit schildert, vertritt die These, die Meinungsbildung habe zu gleichen Teilen auf ost- und westdeutschen Diskursen beruht, wobei sich ostdeutsche Dissidenten und Intellektuelle überwiegend ethischer und rechtskultureller Argumente bedienten, während westdeutsche Entscheidungsträger eher pragmatische Gesichtspunkte im Blick hatten. In diesem Zusammenhang zitiert McAdams den verstorbenen DDR-Bürgerrechtler Jürgen Fuchs, der sich 1992 mit folgender Begründung zur Notwendigkeit einer dritten Vergangenheitsbewältigung äußerte: "If we do not solve this problem in a definite way, it will haunt us as Nazism did. We did not denazify ourselves, and this weighed on us for years" (S. 6).

Der justitielle Umgang mit SED-Unrecht konfrontierte die Bundesrepublik nicht nur mit ihrer eigenen Geschichte, sondern verlangte auch nach einer historischen Einordnung des ostdeutschen "Arbeiter- und Bauernstaates". Für den Politologen McAdams, der bereits 1997 als Herausgeber eines umfangreichen Bandes zur Rolle von Recht und Justiz im Prozess der Diktaturfolgenbewältigung in Erscheinung trat 6, stellt dieser letztgenannte Punkt den Prüfstein aller bundesdeutschen Aufarbeitungsbemühungen dar: Zeigte sich die Justiz bei ihrer Beschäftigung mit der staatlichen Makrokriminalität der DDR insgesamt in der Lage, die Komplexität des auf Repression und Konformismus beruhenden Systems zu erfassen? Hat sie dabei der Versuchung widerstanden, ihre rechtsstaatlichen Prinzipien preiszugeben? Waren bundesdeutsche Staatsanwälte und Richter dazu bereit, anzuerkennen, dass der Realsozialismus nicht nur "Täter" und "Opfer" hervorgebracht hatte, sondern zudem viele verschiedene Schattierungen von aktiver und passiver Gefolgschaft aufwies, die eine differenzierte Handhabung des juristischen Instrumentariums erforderlich machten?

Wer, wie die Rezensentin, den Prozess der dritten juristischen Vergangenheitsbewältigung aus eigener Berufspraxis kennt, kann McAdams nur darin zustimmen, dass sich die überwiegend aus dem Westen stammenden Juristen keinesfalls darum gerissen haben, in die Rolle von "Amateurhistorikern" für DDR-Geschichte gedrängt zu werden. Die meisten Urteile zu SED-Unrecht waren daher von vorsichtig abwägenden Bewertungen gekennzeichnet, die nicht in das vorgeformte Raster von der westlichen "Siegerjustiz" passten. McAdams beschreibt die vorherrschende Haltung wie folgt: "Had they [judges, lawyers, civil servants, bureaucrats, politicians, AW] had their preferences, most would have undoubtly have chosen to see themselves as nothing more than disinterested implementers of official policy; indeed, in line with German administrative traditions, many did precisely that. However, as will be observed again and again in this study, they could hardly succeed at this task without becoming interpreters of GDR history as well. Invariably, this meant opening up the black box that was the SED dictatorship and searching for ways of understanding the East German record that would make sense in the light of their liberal principles" (S. 16).

McAdams hat seine Arbeit in vier thematische Bereiche gegliedert, die den Kernbereich des Phänomens Retroactive Justice ausmachen. Dazu gehören die Strafprozesse gegen Funktionsträger des untergegangenen Regimes, Überprüfungen von früheren Stasi-Mitarbeitern, die durch den Bundestag vorangetriebene historische Aufarbeitung in Gestalt zweier Enquete-Kommissionen sowie schließlich als vierter Punkt die umstrittene Restituierung von DDR-Vermögen. Selbst wenn man McAdams analytisches Instrumentarium als etwas zu schematisch bzw. als normativ überformt empfinden mag - mitunter kommt es zu einer Überbetonung geschichtspolitischer Deutungskontroversen, während rechtsdogmatische Streitfragen nicht ausreichend berücksichtigt werden -, so hat er dennoch mit dieser Studie eine kenntnisreiche Überblicksdarstellung zur Geschichte der dritten deutschen Vergangenheitsbewältigung vorgelegt, die sich vor allem durch einen flüssigen Stil, den Blick für das Wesentliche und sorgfältig abgewogene Urteile auszeichnet. Für Historiker ist dieses Buch vor allem auch deshalb interessant, weil es den ungemein schwierigen Versuch unternimmt, die juristische und historische Aufarbeitung der DDR-Diktatur in den Kontext der komplexen deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte einzuordnen.

Anmerkungen:
1 Die Anwendung des Begriffs auf die nach 1945 einsetzenden Aufarbeitungsprozesse in West- und Ostdeutschland sowie auf das um die ehemalige DDR erweiterte Gesamtdeutschland setzt ein wertneutrales Verständnis voraus; vgl. dazu Ulrich Herbert, Drei deutsche Vergangenheiten. Über den Umgang mit der deutschen Zeitgeschichte, in: Arnd Bauernkämper; Martin Sabrow; Bernd Stöver (Hgg.), Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 1945-1990, Bonn 1998, S. 376-390.
2 In diesem Sinne Johann-Georg Schätzler, Staatenfusion und Abrechnungsmentalität, in: Deutschland-Archiv 30 (1997), H. 1, S. 105-115.
3 Annette Weinke, "Transitional Justice in Germany After 1945 and After 1989", Vortrag am 23. Mai 2001 am Wissenschaftskolleg zu Berlin [unveröff. MS].
4 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW Bd. 8, S. 115.
5 Diese These vertreten beispielsweise Petra Bock/ Edgar Wolfrum, Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999.
6 A. James McAdams (ed.), Transitional Justice and the Rule of Law in New Democracies, Notre Dame 1997.

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