L. Van Hoof u.a. (Hrsg.): Literature and Society in the Fourth Century

Cover
Titel
Literature and Society in the Fourth Century AD. Performing Paideia, Constructing the Present, Presenting the Self


Herausgeber
Van Hoof, Lieve; Van Nuffelen, Peter
Reihe
Mnemosyne Supplements 373
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 247 S.
Preis
€ 110,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Ziel der Beiträge des hier zu besprechenden Sammelbandes, der auf einen „workshop“ in Gent und Brüssel im Jahr 2010 zurückgeht und um einige Beiträge angereichert wurde, ist es, die „social role of literature“ im 4. Jahrhundert n.Chr. zu erforschen, indem gefragt wird „how literature impacts on society and how that impact is exploited by its practitioners“ (S. 4). Die Herausgeber nennen in ihren einleitenden Worten (S. 1–15) drei zentrale Aspekte der meisten Vorgängerforschungen: die Christianisierung und der heidnische Widerstand, die Kontinuität und Transformation der klassischen Tradition sowie eine Schwerpunktsetzung auf der Dichtung. Der Konflikt zwischen Christen und Heiden sei jedoch überschätzt, zumal die klassische Kultur auch durch die Christen akzeptiert worden sei. In der Betrachtung der Kontinuitäten und Transformationen der klassischen Tradition seien in der Forschung vielfach soziale Kontexte nicht berücksichtigt worden; auf Grund der Konzentration der Forschung auf die Dichtung neige man dazu, die Reden und Briefe der Epoche oft auf Materialquellen zu reduzieren. Der Band konzentriert sich daher auf folgende Themenbereiche: das Auftreten des Redners und die Interaktion zwischen diesem und dem (nicht bloß als passiver Rezipient zu erachtenden) Publikum, die Konstruktion sozialer Beziehungen auf Basis der Absicht des Textes und die bewusste und gewollte Selbstdarstellung der Autoren in ihren Werken.

Mark Vessey (S. 16–30) setzt sich mit dem Handbuch der lateinischen Literatur auseinander und arbeitet heraus, dass die Spätantike darin mehr als eine Periode lateinischer denn als eine römischer Literatur definiert wird und dieses Werk damit an modernen Literaturgeschichten, die sich mit einer konkreten Nation auseinandersetzen, orientiert ist. Bertrand Lançon (S. 31–47) bietet einen Überblick zur Bedeutung von Bildung bei den Kaisern des 4. Jahrhunderts, der ihn zu dem Schluss führt, dass diese in hohem Ansehen stand und die Kaiser bemüht waren, fähige Personen für ihre Dienste zu gewinnen. Das Ergebnis ist in seinen Grundzügen zweifellos korrekt, doch neigt Lançon dazu, den Gegensatz zwischen Kaisern aus dem Militär und gebildeten Herrschern überzubetonen. So nennt er als gebildete Kaiser Julian, Eugenius und in geringerem Maße auch Jovian (S. 45). Nun stammt aber auch Jovian aus dem Heer; weiterhin wird dem ebenfalls im Militär aufgestiegenen Herrscher Valentinian I. in den Quellen eine gewisse Bildung zugeschrieben (Amm. Marc. 30,9,4; Epit. de Caes. 45,6); dass Valens nicht so ungebildet war, wie es die Quellen nahelegen (Amm. Marc. 31,14,5), und bei Konstantin (gegen Anon. Val. 2,2) und noch mehr bei seinen Söhnen ebenfalls von einer guten Bildung auszugehen ist, sei nur noch beiläufig erwähnt. Umgekehrt sagt ausgerechnet Julian in einem Gesetz im Codex Theodosianus (6,26,1): In rebus prima militia est, secundus in litterarum praesidiis pacis ornatus. Auch ist darauf hinzuweisen, dass sich im 4. Jahrhundert nicht nur Zivilisten wie Aurelius Victor, sondern auch Militärangehörige wie Ammianus Marcellinus (und möglicherweise auch Eutropius, dessen Karriere S. 38 viel zu optimistisch rekonstruiert wird) literarisch betätigten, während sich umgekehrt ein notarius Iovianus während des Perserfeldzuges Julians bei der Belagerung von Maozamalcha im Kampf hervortat (Amm. 24,4,23).

Neil McLynn (S. 48–67) untersucht die Briefe des Gregor von Nazianz an den Statthalter Olympius und zeigt, dass es sich dabei nicht um einen für die Spätantike repräsentativen Fall handelt und die paideia im Rahmen des Briefwechsels nicht nur als simples Element des Zeremoniells gelten kann. Lieve van Hoof (S. 68–82) analysiert die 31. Rede des Libanios, worin dieser sich vor der Kurie für eine Beteiligung an städtischem Landbesitz für seine Assistenzlehrer einsetzt. Van Hoof kommt zu dem Schluss, dass deren dort geschilderte Armut übertrieben dargestellt ist und den Hintergrund der Rede nicht die Verringerung der städtischen Bezahlung, sondern ein Rückgang der privaten Schulgebühren und Schenkungen bildet. Die Forderung nach Land (und nicht nach Geld) sei nicht zuletzt in dem aus Landbesitz resultierenden symbolischen Kapital begründet. Die Bedeutung der Lehrer-Schüler-Thematik bei Gregor von Nyssa untersucht Morwenna Ludlow (S. 83–102). Bei Gregors Texten zu Macrina und Basilios, die er als Lehrer benennt, handele es sich nicht nur um Erinnerungen an Familienmitglieder, sondern auch um eine Fortsetzung der Beziehung nach deren Tod und um eine Möglichkeit, seine Entwicklung vom Schüler zum Lehrer zu demonstrieren.

John Weisweiler (S. 103–133) bemüht sich um eine Neubewertung von im Werk des Ammianus Marcellinus auftretenden widersprüchlichen Angaben. Nach ihm gehen diese nicht auf Probleme bei der Quellenbenutzung oder Tendenzen des Ammianus zurück, sondern das Ziel sei es, den Leser selbst entscheiden zu lassen und ihn dazu zu bewegen, die Methoden und Zuverlässigkeit der Historiographie kritisch zu hinterfragen. Weisweiler analysiert hierfür drei Beispiele: die Usurpation des Silvanus (15,5), der von Ammianus beobachtete Aufmarsch der persischen Armee in Corduene (18,6,20–22) und die Erzählung von Craugasius und seiner Frau (18,10,1–4; 19,9,3–7). Es lässt sich allerdings bezweifeln, ob die untersuchten Fälle die Folgerungen von Weisweiler zulassen, selbst wenn man den Einwand einer wenig sorgfältigen Quellenbenutzung des Ammianus (dessen systematische Widerlegung bei Weisweiler unterbleibt) nicht gelten lassen will. Zunächst ist Weisweilers Charakterisierung des Ammianus als angesichts der Instabilität des Kaisertums und zahlreicher Usurpationen ständig um sein Leben fürchtender protector domesticus (S. 132) nicht plausibel; aktuelle Forschungen zeigen vielmehr, dass nach Usurpationen nur eine überschaubare Anzahl Personen bestraft wurde.1 Auch die Interpretationen der betrachteten Beispiele überzeugen nicht recht: Die Annahme Hunts, nach dem Ammianus mit der Darstellung der Usurpation des Silvanus das Ziel verfolge, Constantius II. betont negativ und Ursicinus positiv darzustellen, ist deutlich plausibler.2 Die Anklänge an Herodot in der Schilderung des Perseraufmarsches bezeugen vor allem die Anlehnung des Ammianus an die klassische Literatur. Die Erzählung des Craugasius und seine Frau sollte nicht, wie Weisweiler es tut, in Zusammenhang mit griechischer Romanliteratur, sondern im Kontext der weiblichen exempla diskutiert werden.3 Aber selbst wenn man Weisweiler zustimmen sollte, so bliebe noch immer zu bemerken, dass Aurelius Victor (dessen Werk Ammianus bekannt ist: 21,10,6) etwa anhand der Stelle 14,7–9, worin er die unterschiedlichen Erklärungen für die Bedeutung des Antinous bei Hadrian diskutiert, eine ähnliche Vorgehensweise und eventuell auch eine Vorbildfunktion für Ammianus zugeschrieben werden könnte.

Sigrid Mratschek (S. 134–156) setzt sich mit dem 49. Brief des Paulinus von Nola auseinander, in dem Paulinus für einen befreundeten Schiffsbesitzer eintritt, der sich mit dem Diebstahl seines gestrandeten Schiffes und dessen für die kaiserlichen Kornkammern bestimmten Fracht konfrontiert sieht. Mratschek zeigt, wie Paulinus die klassische commendatio mit christlicher Symbolik anreichert, so dass etwa der einzige Überlebende des Schiffsunglücks zum „very medium of the workings of God“ (S. 148) stilisiert wird. Zudem bezeuge der Brief die Bedeutung und den sozialen Status von Literatur und Bildung in der Spätantike. Clare Coombe (S. 157–179) widmet sich der Darstellung Stilichos bei Claudian und zeigt, dass dieser Dichter eine mythologische Welt schafft, in der Stilicho als Held von epischem Ausmaß erscheinen kann. Als historische Quelle seien die Angaben Claudians problematisch, da sein Ziel darin bestehe, mit seiner Dichtung die Ansichten seines Publikums zur zeitgenössischen Politik zu manipulieren.

Roald Dijkstra (S. 180–200) stellt für die christliche Dichtung der Spätantike fest, dass diese sich ihrer Wirkung auf die Gesellschaft bewusst war. Auf dieser Basis ermittelt er zwei zentrale Themen, deren Vermittlung angestrebt wurde: einerseits die Einheit der Kirche, propagiert anhand der Einheit der Apostel, andererseits der Primat des Petrus, mit dem eine Vorrangstellung des Bischofs von Rom begründet werden sollte. Peter van Nuffelen (S. 201–217) untersucht die Rolle der christlichen Prediger in der Spätantike am Beispiel des Johannes Chrysostomos und arbeitet die durch die Topik der christlichen Schriftsteller verschleierten sozialen und wirtschaftlichen Aspekte heraus: Vor allem die reichhaltigen Schenkungen wohlhabender Patrone in Kombination mit der Möglichkeit, in großen Städten durch rhetorische Fähigkeiten sich das Publikum anderer Geistlicher gewissermaßen anzueignen, führten zu einer starken Konkurrenzsituation. Die am Schluss des Bandes angefügte Bibliographie (S. 219–241) erweist sich in ihrem praktischen Nutzen als begrenzt, da bereits in den einzelnen Aufsätzen alle Literaturangaben im Vollzitat geboten sind. Der Registerteil (S. 242–247) enthält hauptsächlich antike Namen; ein Quellenregister wäre wünschenswert gewesen.

Dem Band fehlt ein übergreifender Aufsatz, der sich allgemein mit der Frage nach dem (intendierten) Adressaten und dem (tatsächlichen) Publikum spätantiker Literatur auseinandersetzt. Immerhin werden die unterschiedlichsten Literaturgattungen wie die Historiographie, Briefliteratur, Reden, Dichtung und Predigten behandelt, wobei die Bandbreite nicht ausgeschöpft wird; unberücksichtigt bleiben etwa Rechtstexte aller Art, die halböffentlichen Reden des Libanios oder teils im Musikalischen verortete Texte wie die Hymnen des Ephrem Syrus. Der Band bietet somit kein Gesamtbild der Literatur des 4. Jahrhunderts, was angesichts der Thematik auch kaum erreichbar ist, dafür aber eine Reihe von gelungenen Einzelstudien, die einen wertvollen Beitrag zur Literaturgeschichte der Spätantike allgemein wie zu den einzelnen behandelten Autoren bilden.4

Anmerkungen:
1 Joachim Szidat, Usurpator tanti nominis, Stuttgart 2010, S. 269–272; Hartmut Leppin, Coping with the tyrant’s faction. Civil-war amnesties and Christian discourses in the fourth century AD, in: Johannes Wienand (Hrsg.), Contested monarchy, Oxford 2015, S. 198–214.
2 David Hunt, The Outsider Inside: Ammianus on the Rebellion of Silvanus, in: Jan Willem Drijvers / David Hunt (Hrsg.), The Late Roman World and its Historian. Interpreting Ammianus Marcellinus, London 1999, S. 51–63. In diesem Sinne noch Hanns Christof Brennecke, Ammianus Marcellinus über die Usurpation des Silvanus, in: Mousopolos stephanos. Festschrift für Herwig Görgemanns, Heidelberg 1998, S. 57–71 und Francisco Javier Guzmán Armario, Un ejemplo de „comodín historico“. La figura de Silvano en las Res Gestae de Amiano Marcelino, in: Scripta antiqua in honorem Ángel Montenegro Duque et José María Blázquez Martínez, Valladolid 2002, S. 745–754 (erneut in: Soldado y Griego. Estudios sobre Amiano Marcelino, o.O. 2014, S. 145–161, unter <http://www.librosepccm.com/>).
3 So bereits Liselotte Karau, Das Bild der Frau in den Res Gestae des Ammianus Marcellinus, Diss. Berlin, HU 1971, S. 146–151.
4 Kleinere Versehen fallen kaum ins Gewicht: Von den S. 38, Anm. 36 genannten Werken ist das des Aurelius Victor nicht einem Kaiser gewidmet, dafür aber das (nicht genannte) Breviarium des Festus; S. 103 wird Gallus als Neffe des Constantius II. bezeichnet, tatsächlich war er dessen Cousin; S. 106 „his,“ (richtig „his“); S. 109 „mercennaries“ (richtig „mercenaries“); S. 166 „wth“ (richtig „with“); S. 202, Anm. 3 „Flexibele“ (richtig „Flexible“).