S. Conrad: Auf der Suche nach der verlorenen Nation

Titel
Auf der Suche nach der verlorenen Nation. Geschichtsschreibung in Westdeutschland und Japan 1945-1960


Autor(en)
Conrad, Sebastian
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 134
Erschienen
Göttingen 1999: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
485 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Christoph Frhr. v. Maltzahn, Arbeitsgemeinschaft außeruniversitärer historischer Forschungseinrichtungen (AHF)

Es handelt sich um die überarbeitete Fassung einer Dissertation an der Freien Universität Berlin aus dem Jahre 1999, eine an Kenntnis wie Erkenntnis außerordentlich reiche Arbeit, die durch ihren Scharfblick, ihre Präzision und nicht zuletzt durch ihre Sprache beeindruckt. Sie entfaltet die Situation und Entwicklung der Geschichtswissenschaft in zwei Nationen in den ersten 15 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, der für beide in der Katastrophe endete. Diese Gemeinsamkeit eröffnet eine Reihe von Parallelen in der Entwicklung des Faches. Der Vergleich macht aber ebenso gravierende Unterschiede deutlich. Aus der Vielfalt der Ergebnisse dieser Forschungsarbeit im folgenden einige Aspekte.

Die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, das gilt für Deutschland wie für Japan, folgte dem Dreischritt: Aufklärungshistorie, historistische Politikgeschichte, Historische Sozialwissenschaft. In Japan begann die moderne Geschichtsschreibung in den 1870er Jahren und wurde im Wege der Institutionalisierung von dem an Ranke anlehnenden konservativen Historismus abgelöst, dessen politikgeschichtlich-empiristisches Paradigma bis 1945 vorherrschend blieb. Dann setzte sich die marxistische Sozialgeschichte durch, deren Hegemonie bis in die 60er Jahre reichte und noch heute einflußreichste Kraft in der japanischen Historiographie ist. Während in Deutschland nach 1945 bis zur Fischer-Kontroverse die Vorherrschaft des konservativen Historismus anhielt, hatte sich in Japan bereits eine nachhistoristische, kritische Sozialwissenschaft durchgesetzt.

Die Betonung der Unterschiede ist das Ergebnis der Tendenz, "Historiographiegeschichte als Methodologiegeschichte" zu betreiben. Conrad unterliegt nicht der Gefahr, durch eine Verabsolutierung dieser Perspektive die konkreten Bedingungen und die besonderen inhaltlich-politischen Anliegen der Geschichtsschreibung aus dem Auge zu verlieren. Er nimmt neben den Unterschieden auch die häufig ähnlichen Probleme und Themen in den Blick. "Denn einerseits engt die eindimensionale Privilegierung der Historik die Analyse der Historiographie auf eine Weise ein, die bisweilen reduktionistisch anmutet. Und andererseits verläuft selbst die Entwicklung methodologischer 'Paradigmen' nicht autonom, sondern läßt sich nur im Kontext des sozialen und diskursiven Feldes rekonstruieren." (57)

Nach diesem vergleichenden Überblick widmet sich die Arbeit dem Ursprung der Nation. Nicht erst nach 1945 war die moderne Staatsgründung bevorzugtes Thema der historiographischen Auseinandersetzung - in Westdeutschland mit der (von Conrad souverän in ihren vielen Facetten referierten) "Bismarck-Kontroverse" 1, in Japan mit der Meiji-Restauration. Aber nach der Katastrophe verschärfte sich die wissenschaftliche Debatte durch die Frage, wie der NS bzw. der japanische Faschismus in die nationale Geschichte einzuordnen sei. Ihre Einordnung in die nationale Geschichte wurde nun immer mitverhandelt. Die Ursachenforschung sah die jeweilige Reichseinigung nicht mehr als Vollendung einer Vorgeschichte, sondern als Praeludium, "das nur im Nachhinein, aus seinen Folgen (und nicht: aus seinen Ursprüngen) verstanden werden konnte." (60)

Der Vergleich der Debatten ist aufschlußreich für die jeweilige Geschichtswissenschaft: die Analyse der Deutungen läßt konkurrierende Fraktionen in der Historikerschaft beider Länder sichtbar werden. In Japan wich die bis 1945 auch offiziell gestützte Hofhistoriographie dem nun quasi verbindlichen Historischen Materialismus. Begründete dies gegenüber anderen Ländern noch keine Sonderrolle, hatte doch die reeducation durch die amerikanische Besatzung erst die hierarchischen Strukturen aufgebrochen und zu einer grandiosen Ausweitung des universitären durch Aufwertung des nicht-universitären Sektors geführt. Dies hat innerhalb von sieben Jahren die Zahl der Universitäten mehr als vervierfacht und damit einen großen Bedarf an Historikern geschaffen.

Der "Nation als Opfer" gilt das Kapitel über die Historiographie des NS und des japanischen Faschismus. Nicht vornehmlich unter der Frage nach Schuld und Verantwortung, sondern unter Kontinuitätsaspekten war nach 1945 die Vergangenheit zu erforschen. Das ganze Deutschland und die ganze deutsche Geschichte sollten es sein: insofern war auch das Dritte Reich ein Teil des nationalen Erbes. Nicht Verdrängung im Sinne genereller Vernachlässigung, sondern eines selektiven Problembewußtseins ist festzustellen. 2 Für die meisten westdeutschen wie japanischen Historiker stand die Rehabilitation der eigenen Nation im Vordergrund ihrer Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. In einer Gegenwart, die von Besatzung, Souveränitätsverlust und territorialen Verlusten geprägt war, schien der Status der Nation in Frage gestellt und "durchzog das Bemühen um eine Vergewisserung nationaler Integrität einen großen Teil der Forschung". (135) Dabei gab es viele Gemeinsamkeiten. Durch immer wieder wechselnde Perspektiven wird deutlich, daß hier wie dort "Historiker sich nach 1945 mit ganz ähnlichen Herausforderungen konfrontiert sahen, die sie nicht selten auch zu vergleichbaren Deutungsstrategien greifen ließen."(136)

Hier werden die Symptome von "Distanzierung", "Säuberungen", "Große Täuschung", das Kulturparadigma, NS als Produkt der Moderne, Opfer und Widerstand u.a.m. geschildert. Die Frage von Friedrich Meinecke stellten sich die meisten Historiker: nämlich "was aus unseren geschichtlichen Traditionen überhaupt nun werden wird ... Unser herkömmliches Geschichtsbild, mit dem wir groß geworden sind, bedarf jetzt allerdings einer gründlichen Revision, um die Werte und Unwerte unserer Geschichte klar voneinander zu unterscheiden."(153 f.) Über die Ruinen des durch eigenes Verschulden zerschlagenen Werks der Bismarckzeit müßten die Pfade zur Goethezeit zurückgesucht werden. Das war die als Balsam empfundene kulturelle Tradition. Die Forderungen nach einer gründlichen Revision des Geschichtsbildes wurden in Westdeutschland im Wege der fortschreitenden erneuten Institutionalisierung der Geschichtswissenschaft immer schwächer.

Die Auseinandersetzung mit der nationalen Vergangenheit wurde in Japan nach 1945 sehr viel kritischer geführt als in Westdeutschland. In Japan war das kulturelle "Erbe" etwa für den Historiker Maruyama kein Reservoir unverdorbener Eigenschaften des wahren Japan, sondern selbst tief in die ideologisch-sozialen Ursachen der jüngsten Katastrophe verstrickt. Gegenüber seiner Deutung blieben diejenigen, die durch den Verweis auf die Tradition die innere Einheit der Nation wiedergewinnen wollten, in der Minderheit. Die marxistische japanische Historiographie identifizierte pauschal das Volk mit dem Widerstand. Die aggressive Außenpolitik galt ihr als Produkt einer inzwischen obsolet gewordenen sozialen Schicht. Auf ganz andere Weise wurde in der Bundesrepublik das "Gütesiegel 'Widerstand'" (216) nur dem zugesprochen, der sich zur symbolischen Repräsentation der Nation zu eignen schien.

Das Kapitel über die "Erfindung" der Zeitgeschichte beschäftigt sich mit Institutionalisierung und methodischer Besonderheit in der Forschung der jüngsten Vergangenheit. "Methode" wird nicht als neutrales Instrumentarium verstanden; die methodischen Axiome der Zeithistoriker werden selbst in den Kontext ihrer Entstehung eingeordnet. Die Etablierung der Zeitgeschichtsforschung wird so "als eine spezifische Antwort auf die nicht zuletzt politische Herausforderung betrachtet, die die Interpretation des Nationalsozialismus in den fünfziger Jahren darstellte." (219) In diesem Zusammenhang ist auch die strukturgeschichtliche Erweiterung der Zeitgeschichtsforschung zu verstehen. Die "Erfindung der Zeitgeschichte" definiert Conrad als Lösung der dreifachen Problematik: der methodischen Widerstände gegen eine "Geschichte ohne Distanz" (M. Freund), die epistemologische Herausforderung durch die moderne Massengesellschaft und das (politisch motivierte) Bedürfnis nach einer separierten Erforschung des NS. Grund für diese institutionelle Eigenständigkeit war zudem der immense Quellenbestand, dem nur in einer Gemeinschaftsarbeit entsprochen werden konnte. In der Bundesrepublik blieben die Debatten um die Strukturgeschichte Nebenschauplatz. "In Japan war die Zeitgeschichte nicht das Einfallstor der Strukturgeschichte, sondern lediglich der Ort, an dem die Dominanz des marxistischen Strukturdenkens am evidentesten war." (299)

Das letzte Kapitel behandelt Deutschland und Japan zwischen West und Ost. Hier steht nicht mehr die interne Entwicklung der nationalen Geschichte, sondern die Abgrenzung der Nation nach außen im Vordergrund. Abgrenzung des "Anderen" war ebenso wie die Vergewisserung des "Eigenen" Voraussetzung jeder Konstruktion nationaler Identität.

Anmerkungen:
1 Lothar Gall (Hrsg.): Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945, Köln/Berlin 1971.
2 Vgl. H-Soz-u-Kult (01.03.2000): Rezension von T. Kaiser über Schulze/Oexle: Deutsche Historiker im NS [http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensio/buecher/2000/KaTo0200.htm]; dort weitere Literatur. Vgl. auch Winfried Schulze: Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1993.

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