Cover
Titel
Die Partei der Freiheit. Willy Brandt und die SPD 1972-1992. Bearbeitet von Karsten Rudolph


Autor(en)
Brandt, Willy
Reihe
Berliner Ausgabe / Willy Brandt 5
Erschienen
Anzahl Seiten
632 S.
Preis
€ 27,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Beatrix Bouvier, Institut für Sozialgeschichte Bonn

Die Herausgabe der auf zehn Bände geplanten Edition „Willy Brandt – Berliner Ausgabe“ ist eine wichtige Aufgabe der Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung im Rahmen der ihr aufgegebenen Nutzung und Auswertung des Willy-Brandt-Archivs im Archiv der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung, und sie ist ein ehrgeiziges Projekt, das bis zum Jahr 2005 abgeschlossen sein soll. Dass dieses Ziel erreicht werden wird, ist mehr als wahrscheinlich, liegen doch inzwischen sechs der geplanten zehn Bände gedruckt vor, darunter der hier anzuzeigende Band 5.

Die Berliner Ausgabe will sich in erster Linie an eine breite historisch-politische Öffentlichkeit wenden, ohne den Anspruch auf wissenschaftliche Zuverlässigkeit aufzugeben. Ob die anvisierte breite Öffentlichkeit so glücklich mit der Form der Darbietung dieser Edition ist, mag dahingestellt sein, verlangt die Lektüre der – wie in diesem Fall von Band 5 – 110 ausgewählten Dokumente doch einige Mühe. Denn wirklichen Sinn macht deren Studium erst, wenn man die für jede seriöse Edition unerlässlichen Annotationen mitliest. Da sie an den Schluss des Bandes gerückt sind und für jedes Dokument gezählt werden, bleibt die wenig ersprießliche Arbeit des permanenten Blätterns, auch wenn diese durch hilfreiche Kolumnentitel ein wenig erleichtert wird.

Insgesamt ist vorweg festzuhalten, dass dieser Band über Willy Brandts Wirken als Parteivorsitzender und später Ehrenvorsitzender der SPD der Jahre 1972 bis zu seinem Tod (1992) ebenso wie die anderen bislang erschienenen Bände durch eine herausragende und sorgfältige Lektorierung gekennzeichnet wird. Das ist heute im Verlagswesen keineswegs mehr üblich. Manches mag als Formalie erscheinen, doch kennzeichnet auch Akribie die Qualität und den Gebrauchswert einer Edition. Dazu gehören beispielsweise die wichtigsten Lebensdaten und beruflichen Stationen von Willy Brandt sowie die unerlässliche und an das Thema der Dokumente heranführende Einleitung von Karsten Rudolph. Diese ist umso wichtiger, als die Edition insgesamt nach zeitlichen und sachlichen Gesichtspunkten gegliedert ist. Hinzu kommen ein sorgfältiges Verzeichnis der Dokumente mit den schon erwähnten Annotationen (allerdings auch häufig lästigen Querverweisen), ein wichtiger Anhang mit Daten zur Mitgliederentwicklung der SPD und einer Übersicht über die wichtigsten Wahlergebnisse der behandelten Periode, die manches an den in den Dokumenten auftauchenden Problemen plastischer erscheinen lässt und die unverzichtbaren Register, namentlich das Personenregister, das wichtige Angaben enthält, die kaum einem Leser präsent sein dürften.

Da in den Bänden, so auch in diesem von Karsten Rudolph bearbeiteten, verschiedene Quellen – darunter Briefe, Notizen, Interviews, Memoranden, Redemanuskripte – zusammengeführt werden, mischt sich Bekanntes mit viel Unbekanntem. Das gilt auch für die Fotos, deren letztes Willy Brandt 1982 mit der berühmten Taschenuhr August Bebels zeigt, ein Symbol auch dafür, dass Willy Brandt wohl der letzte sozialdemokratische Parteivorsitzende gewesen sein dürfte, dessen Wurzeln in die alte Arbeiterbewegung zurückreichten, denen er – ohne als eigentlicher Traditionalist gelten zu können – in vieler Hinsicht verbunden blieb. Nicht wenige programmatische und der historischen Verortung der SPD verpflichtete Dokumente des Bandes von Karsten Rudolph zeigen dies. Die Menschen von „Not und Furcht“ befreien, war ein wiederkehrendes Leitmotiv Brandts, was im Hinblick auf die Debatte um Ausbau, Erhalt und Umbau des Sozialstaates von großer Aktualität ist.

Da es sich um eine Auswahl von Dokumenten handelt, sollen naturgemäß bestimmte Schwerpunkte des politischen Wirkens von Willy Brandt herausgestellt werden. Der Zeitraum, um den es in diesem Band geht, umfasst die guten und die schlechten Jahre, gipfelnd in dem Scheitern auch an der Partei wegen der Auseinandersetzung um eine von Willy Brandt favorisierte Pressesprecherin. Dass es sich dabei um einen Missgriff gehandelt hätte, ist inzwischen Allgemeingut. Der Bearbeiter des Bandes hat den ausgewählten Dokumenten eine informative Einleitung vorangestellt, in der er auf Kernprobleme der Jahre zwischen 1972 und 1992 verweist, insbesondere auf deren Implikationen für die SPD und deren Entwicklung als Ausdruck des gesellschaftlichen Wandels.

Trotz tiefgehender innerparteilicher Veränderungen, die der Mitgliederstruktur eingeschlossen, blieb die SPD für Willy Brandt, wie Karsten Rudolph hervorhebt, die „Partei der Freiheit“, eine Partei, die sich nach dem Selbstverständnis ihres Vorsitzenden ebenso grundlegend von den Kaderparteien kommunistischen Typs wie von konservativen Sammlungsbewegungen unterschied. Sie habe gekämpft, wo die „Masse der Bürgerlichen“ nur erschrocken zugeschaut habe und beziehe ihre Handlungsfähigkeit aus dieser geschichtlichen Tradition, ihrem Charakter als demokratische Massenpartei, ihrer Fähigkeit zur Organisation und ihren immer wieder neu zu überprüfenden sozialdemokratischen Zielen. Diese Bewertung Willy Brandts fand Eingang in viele der in dem Band veröffentlichten Dokumente, auch noch in sein politisches Vermächtnis als Parteivorsitzender, in der „Abschiedsrede“ auf dem außerordentlichen Parteitag im Juni 1987.

Ebenso deutlich wird darauf hingewiesen, dass gerade Willy Brandt durch Grundsatzreden und historische Vorträge viel Wirkung erzielen konnte. Immer wieder gelang es ihm, sozialdemokratischen Gestaltungswillen in einprägsame Formeln zu kleiden, in leisen Zwischentönen zu vermitteln und durch seinen recht komplizierten persönlichen Lebensweg zu unterstreichen. Scharfe Agitation oder reine Parteirhetorik waren seine Sache nicht, er blieb stets diplomatisch, wie nicht wenige der in dem Band veröffentlichten Briefe zeigen, die auch dann vermittelnd blieben, wenn harte Kritik an seiner Politik und seinem Führungsstil, wenn tiefgreifende politische Unterschiede, ja Streit, dahinter sichtbar werden. Er führte die Partei argumentativ, nicht autoritär, und gerade dieser Führungsstil war nie unumstritten, nicht zuletzt in den Jahren heftiger innerparteilicher Verwerfungen, in der Auseinandersetzung mit einer rebellischen Jugend, die er zu integrieren versuchte, in dem Streit um die „neuen sozialen Bewegungen“.

Es mag heute vergessen sein, dass es dabei gelegentlich auch um das von unterschiedlicher Seite beschworene Gespenst der Parteispaltung ging. Und gerade in diesen Situationen betrachtete Brandt es nicht zuletzt als ein besonderes Vermächtnis August Bebels, die Partei zusammenzuhalten, ihre Einheit zu wahren und dennoch gleichzeitig gesellschaftlich zu öffnen, um sie neuen Bedingungen anzupassen.

Zu den Kritikern Willy Brandts, um nur die prominentesten zu nennen, gehörten nicht zuletzt Herbert Wehner und Helmut Schmidt. Über die sogenannte „Troika“, über das problematische Verhältnis dieser drei herausragenden sozialdemokratischen Führungspersönlichkeiten mit so unterschiedlichem Hintergrund und Werdegang, über ihre bitteren Zerwürfnisse, die sie gleichwohl nicht daran hinderten, um der Sache willen immer wieder die Zusammenarbeit zu suchen, ist aus unterschiedlicher Perspektive viel geschrieben worden. Hat man dies im Hinterkopf, zeigt auch ein in diesem Band abgedrucktes Bild (S. 380), wie das Verhältnis der drei zueinander war: Die Körpersprache und der mangelnde Blickkontakt sagen viel aus über die gestörte Kommunikation zwischen den drei Akteuren.

Da es unmöglich ist, auf alle Dokumente dieses Bandes der „Berliner Ausgabe“ einzugehen, sei auf besonders Wichtiges verwiesen: Dies sind vor allem die Briefe an Herbert Wehner und Helmut Schmidt sowie der Brief an Oskar Lafontaine vom 18. Mai 1990, der das letzte große Thema Willy Brandts thematisierte, die Vereinigung Deutschlands (konkret der anstehende Staatsvertrag), die ihm so sehr am Herzen lag, mit der sich jedoch die SPD und auch der damalige Kanzlerkandidat Lafontaine so schwer taten. Doch so belastend die Meinungsverschiedenheiten auch waren, so unüberhörbar Brandt seine Partei kritisierte, so vermittelnd und zurückhaltend blieb er im Ton. Diese Haltung gilt auch für seine Briefe an Herbert Wehner und Helmut Schmidt, obwohl manche Bitterkeit nicht zu überlesen ist.

Gerade bei diesen Briefen zeigt sich, wie wichtig in einem Editionsprojekt, das die Gegenüberlieferung nicht enthält, die Annotationen sind, die wichtige Informationen enthalten. Dass ihn die ständige Kritik schmerzte, berührt beim Lesen der Dokumente gerade durch die zurückhaltende, oft kühl und distanziert wirkende Art, durch die er sie zum Ausdruck brachte. Deutlich wird dies beispielsweise in einem Brief an Helmut Schmidt vom 2. November 1982 (Nr. 89, S. 391f.), in dem nach dem Sturz Helmut Schmidts durch ein konstruktives Misstrauensvotum Bitterkeiten hinsichtlich der Zusammenarbeit in den vergangenen Jahren, zwischen Kanzler und Parteivorsitzendem, im Raum standen. Brandt „schmerzte“, dass in der Öffentlichkeit der Eindruck aufgetaucht war, Schmidt hätte eine negative Schlussbilanz über beider Zusammenarbeit während der Kanzlerschaft Schmidts gezogen. Denn Brandt sah das anders. Er betonte, dass er sich gerade angesichts der realen Gefahren des Auseinanderdriftens der Partei stets um deren Zusammenhalt bemüht und zugleich dem Kanzler für dessen Arbeit den Rücken freigehalten habe. Und das in Situationen, die ihm viel abverlangt hätten, und unter Bedingungen, die hart an die Grenze seiner Selbstachtung gegangen seien. Darüber hinaus müsse Schmidt selber wissen, „dass Du ohne mich kaum länger, sondern wohl eher kürzer und vielleicht mit weniger Erfolg im Amt gewesen wärst“ (S. 392).

Gerade weil die Amtszeit Willy Brandts als Parteivorsitzender und dann als Ehrenvorsitzender der SPD durch politische und gesellschaftliche Veränderungen gekennzeichnet war, zog dies ohne Zweifel innerparteiliche Zerreißproben nach sich. Dieses Auf und Ab mit wechselnden politischen Konstellationen und auch persönlichen Krisen und Stimmungstiefs wird in diesem Band nachgezeichnet und durch Dokumente erhellt, auch wenn eine solche Edition die politische Biografie – insbesondere für das breite Publikum – nicht ersetzen. Dennoch wird deutlich, wie sehr Willy Brandt allein durch seine Persönlichkeit ein Brückenbauer war, der die alte Arbeiterbewegung mit der sozialdemokratischen Volkspartei und den neuen sozialen Bewegungen verband. Er hatte entscheidenden Anteil daran, die SPD in der Mitte der Gesellschaft zu verankern, und er verschaffte ihr eine internationale Reputation, wie sie die SPD seit Bebels Tagen nicht mehr gehabt hatte. Und er bot ihr stets Perspektiven, die über das reine Tagesgeschäft hinauswiesen.

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