J. H. Schoeps: Paul Friedmann – Der König von Midian

Titel
Der König von Midian. Paul Friedmann und sein Traum von einem Judenstaat auf der arabischen Halbinsel


Autor(en)
Schoeps, Julius H.
Erschienen
Leipzig 2014: Koehler & Amelang
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Weber, Ludwig-Maximilians-Universität München

Nur wenig ist über das Leben Paul Friedmanns bekannt. Er war deutscher Staatsbürger mit jüdischen Vorfahren, die sich protestantisch taufen ließen und es in Preußen zu einigem Wohlstand gebracht hatten. Seine Mutter, zu deren Vorfahren der jüdische Hofjuwelier Veitel Ephraim zählte und die einer der reichsten und angesehensten Berliner Bankiersfamilien entstammte, setzte den Reichtum ihrer Familie für ehrenvolle Wohltätigkeitsprojekte ein und hinterließ ihm, Paul Friedmann, schließlich ein beträchtliches Vermögen, das ihm das geruhsame Leben eines Privatiers ermöglichte. Neben seinen zahlreichen Reisen in das Osmanische Reich und selbst nach China betätigte er sich auch als Privatgelehrter. Freundschaftliche Beziehungen zur britischen upper class weckten sein Interesse am Zeitalter der Tudors und führten zu zahlreichen Archivreisen, die ihn mit prominenten Historikern in Kontakt brachten. Die von ihm verfassten Werke weisen ihn bis heute als Experten der historischen Epoche Großbritanniens aus.

Unter den Kontakten war es möglicherweise Gustav Adolf Bergenroth (1813–1869), der ihm die „Blaupause“ (S. 26) für sein späteres Midian-Projekt lieferte. Bergenroth, dessen Dasein als Historiker und Archivar ein kurzlebiges wie skurriles Intermezzo erfuhr, als er nach der gescheiterten 1848er-Revolution nach Amerika ging und sich dort als Goldsucher und König einer Vigilanten-Kolonie betätigte, hatte selbst Ideen für eine Kolonisation verfolgt. Gerüchten zufolge wurde das abenteuerliche Projekt durch die kalifornischen Behörden beendet, nachdem Bergenroth drei „seiner“ Kolonisten zum Tode verurteilt hatte.

Über die genaue Entstehung von Friedmanns Midian-Traum ist dennoch nur wenig bekannt, doch waren es neben seiner abstrakten Auseinandersetzung mit historisch-politischen Sachverhalten wohl auch ganz reale Probleme, die ihn existentiell berührten und zum Handeln veranlassten. Berichte über die bedrohliche Notlage der russischen Juden gelten als Auslöser für die philanthropische Betätigung vermögender westeuropäischer Juden wie Baron Hirsch. Friedmann, der sich als „kleinen Hirsch“ (S. 16) sah, strebte die Kolonisierung des auf der arabischen Halbinsel gelegenen Landstrichs Midian an. Obwohl 1875 von den Türken besetzt, sei Midian weiterhin ägyptische Provinz und dort folglich das ägyptische Gesetzbuch geltend, das die Bebauung und Bewirtschaftung unbewohnter Ländereien gestatte; so Friedmann in der von ihm verfassten Broschüre „Das Lande Midian“ (1891).

Dieser Prämisse folgend erwarb Friedmann im August 1891 ein Schiff, das er auf den Namen „Israel“ taufte. Er reiste nach Krakau, um dort gestrandete russische Juden aufzulesen und ihnen die Zukunftsperspektive Midian anzubieten. Er ließ etwa zwei Dutzend angehende Siedler einen Vertrag unterzeichnen, der ihm ihre zweijährige Gefolgschaft zusicherte – Waffendienst im Falle eines räuberischen Angriffs eingeschlossen. Zudem wurden zwei Schochtim, zur Garantie der koscheren Zubereitung der Speisen, als auch preußisches Personal angeheuert, die als Friedmanns Offiziere fungieren und das „körperliche Training der Leute“ (S. 42) sicher stellen sollten. Während der einmonatigen Reise zeigten sich bereits die ersten Probleme, da zum Beispiel das preußische Personal keinen Hehl aus ihren antijüdischen Einstellungen machte. Im Zwischenlager, das in der Bucht von Scherm el-Moyeh errichtet wurde, breitete sich zudem weiterer Unmut und eine völlige Desillusion aufgrund der ausbeuterischen Arbeitsbedingungen und der als mangelhaft empfundenen Verpflegung unter den Siedler aus. Friedmann, der „eiserne Disziplin“ (S. 43) als Basis der Gemeinschaft für unumgänglich hielt, verstieß sogar einen Siedler im Rahmen einer harten Maßregelung aus dem Lager. Nachdem der Verstoßene einige Tage in der Gegend umhergeirrt war, wurde er schließlich tot am Wegesrand gefunden. Der Unmut unter den Siedlern wuchs und ein Großteil verließ die Siedlung.

Das Projekt war damit beendet, bevor es wirklich begonnen hatte. Zudem wurde durch den Aufmarsch von türkischen Soldaten in der Nähe der Siedlung ein Grenzkonflikt zwischen Ägypten und dem Osmanischen Reich ausgelöst, was ebenfalls das Scheitern des Midian-Projekts beschleunigte. Während sich Friedmann noch über Jahre hinaus stets im Recht und missverstanden fühlte, erinnerte man sich an das Projekt letztlich nur aufgrund des Eklats mit Todesfolge sowie des generellen Scheiterns.

Im Gegensatz zu dieser Wahrnehmung des Midian-Projekts setzt Schoeps darauf, die persönliche Motivation Friedmanns aufzuzeigen und fernab von „Klatsch, Gossip und [der] allgemeinen Sensationsberichterstattung in den Medien“ (S. 67), die schon zu Zeiten Friedmanns auf diesen eindrang und seinen weitgehenden Rückzug aus der Öffentlichkeit zur Folge hatte, über den „König und Pascha von Midian“ (S. 68) zu berichten. Schoeps lässt die ehrenhaften Motive Friedmanns unangezweifelt. Zeitgenössische Stimmen, die das Projekt keineswegs als unsinnig, sondern als durchaus realistisch und durchführbar ansahen, lassen das Vorhaben heute zwar als eigenartiges Kapitel des Frühzionismus erscheinen, reduzieren es aber nicht auf den Todesfall des Abraham Rosnowitsch. In seiner Rezension des Buchs1 ist dies leider die einzige inhaltliche Passage, die Micha Brumlik wiedergibt und mit Verweis auf aktuell stockende Friedensgespräche in Nahost ein falsches Bild vermittelt. Um die frühzionistische Episode des „Königs von Midian“ mit seiner Kritik am heutigen Staat Israel geschichtsphilosophisch in Einklang zu bringen, bedient sich Brumlik oberflächlich einer von Hegel und Marx entliehenen Konstruktion, die er zu seinen Gunsten umwandelt: Geschichte ereigne sich stets zweimal, zunächst als Farce, schließlich als Tragödie; in diesem Sinne sei Friedmanns Projekt – die Farce – als Auftakt der zionistischen Folgegeschichte – der Tragödie – zu verstehen.

Die sich über knapp 70 Seiten erstreckende und nun vorliegende Darstellung des Midian-Projekts schafft es dagegen, ein Stück jüdischer Geschichte in ihrer eigenen Komplexität zugänglich zu machen. Die Studie baut dabei auf bereits bestehenden Vorarbeiten von Gelber2 und Fränkel3 auf. Schoeps ergänzt seine Darstellung mit einer interessanten Dokumentensammlung. Eine höchst skurrile und eigentümliche Episode jüdischer Kolonisation wird damit greifbar und eine Figur der frühen zionistischen Geschichte angemessen gewürdigt bzw. vor dem Vergessen bewahrt.

Der überaus ansprechend gemachte und mit zahlreichen Illustrationen versehene Band dürfte auch einem nicht-wissenschaftlichen Publikum Freude bereiten. Die Auswahl der Bilder ist auf den Zeitgeist Friedmanns abgestimmt und spiegelt die zeitgenössischen Orientvorstellungen in Deutschland und Europa wider. Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmender Rezeption erfreuende Reise- und Abenteuerliteratur und die verzaubernden Realitäten sogenannter „Orientmaler“ stellen ihrem Publikum semi-authentische Motive eines europäisierten Orients vor und lassen den Betrachter von der kulturellen Schein-Ursprünglichkeit archaischer, von der Moderne noch unberührter Zeiten und Orte träumen. Das solcherart popularisierte Orientbild und die künstlerische Verkitschung tatsächlich vormoderner und überaus harter Lebensrealitäten mögen auch Friedmann in großem Maße geprägt haben und die fehlenden messianisch-religiösen und frühzionistischen Bezüge in seiner Broschüre „Im Lande Midian“ (1891) erklären. Dies wird besonders durch die Erwähnung der Personen Georg Ebers (1837–1898), Ägyptologe und prominenter Vertreter des so genannten „Professorenromans“, und Richard Francis Burton (1821–1890), Orientalist und Verfasser von Expeditionsberichten, bestätigt.

Es waren demnach nicht die frühen, vor-politischen zionistischen Theorien einer Palästina-Kolonisation, wie sie in den Manifesten von Leon Pinsker (1821–1891) oder Isaak Rülf (1831–1902) Ausdruck fanden, sondern die Atmosphäre von Reiselust, Sehnsucht nach der Fremde und märchenhafter Authentizität, die die Motivation für eine Midian-Besiedlung lieferten. Gleichzeitig ist das Bemühen um Linderung des Leids der russischen Juden für Friedmann vordergründig, wodurch er anderen frühen zionistischen Versuchen folgt, die ebenfalls die existentielle Not der osteuropäischen Juden durch körperliche Landarbeit und Neuansiedlung beenden wollten.

Nach wie vor ist von Paul Friedmanns Leben nicht viel bekannt: weder lassen sich seine Geburts- und Sterbedaten einwandfrei ermitteln, noch ist ein Bild des als zierlich beschriebenen Friedmanns erhalten. Neben der Midian-Episode, die ihm neben zahlreichen Anschuldigungen und immensen finanziellen Ausgaben den Spott seiner Zeitgenossen eintrug, sind es allein seine Tudor-Studien, die der Nachwelt ein Bild seiner Person vermitteln. Nahezu unmöglich ist die Rekonstruktion seiner letzten Lebensjahre und doch kann Schoeps mittels eines Zufallsfunds die Existenz Friedmanns noch für das Jahr 1911 belegen. Ein Offener Brief Friedmanns verteidigt Kaiser Wilhelm II. gegen den osmanischen Sultan Abd el-Hamid, unter dessen „Argwohn, seiner List und seiner Unnachgiebigkeit [er selbst] gelitten“ und „einen beträchtlichen Teil [s]eines Vermögens verloren“ (S. 66) habe – zu einer Zeit als das Midian-Kapitel für ihn und die Nachwelt längst geschlossen war. Schoeps Studie zu Paul Friedmann schafft es so, eine der eigenartigsten Kapitel der jüdischen Kolonisationsgeschichte neu zu erzählen und dem einstigen Gescheiterten ein kleines Denkmal zu setzen.

Anmerkungen:
1 Micha Brumlik, Der Drill der frühen Siedler, in: taz 12.5.2014, online: <http://www.taz.de/Kolumne-Gott-und-die-Welt/!137939/> (18.07.2014).
2 Nathan M. Gelber, Eine mißglückte Judenstaatsgründung im Midjangebiet. Ein Kolonisationsversuch Paul Friedmanns in den Jahren 1891/1893, in: Die Stimme 28.7.1932, S. 5; 4.8.1932, S. 4; 27.10.1932, S. 8; 10.11.1932, S. 9; 18.11.1932, S. 5; 15.12.1932, S. 8; 2.3.1932, S. 8; 30.3.1933, S. 3.
3 Josef Fränkel, Madian. Ein Beitrag zur Geschichte des Zionismus, in: Die Neue Welt 14.10.1932, S. 2; 21.10.1932, S. 6–7.

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