R. Oetjen: Athen im dritten Jahrhundert v.Chr.

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Titel
Athen im dritten Jahrhundert v.Chr.. Politik und Gesellschaft in den Garnisonsdemen auf der Grundlage der inschriftlichen Überlieferung


Autor(en)
Oetjen, Roland
Reihe
Reihe Geschichte 5
Erschienen
Düsseldorf 2014: Wellem Verlag
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
€ 54,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Volker Grieb, Alte Geschichte, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg

Athens Geschichte in hellenistischer Zeit ist geprägt von politischen Umbrüchen und machtpolitischer und militärischer Einflussnahme einzelner Herrscher auf die Belange der Polis. Roland Oetjen stellt mit seiner 2004 abgeschlossenen und nunmehr publizierten Dissertation den lokalen attischen Demos Rhamnus sowie die weiteren sogenannten Garnisonsdemen und deren ganz überwiegend epigraphische Überlieferung in den Mittelpunkt der Betrachtung dieser Geschichte. Er verfolgt dabei zwei Zielsetzungen, nämlich einerseits die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse im Inneren von Rhamnus zu analysieren und andererseits mit der makedonischen Vorherrschaft nach dem Chremonideischen Krieg und der Rolle der Garnisonsdemen das Verhältnis von Stadt und Herrscher eingehender in den Blick zu nehmen (S. 6f.).

Der erste Teil der Untersuchung ist eine „Einführung in die Geschichte der Garnisonsdemen im dritten Jahrhundert“ (S. 9–39), die einen Überblick über die zentralen politischen und militärischen Ereignisse, die innere Organisation der Garnisonen und territoriale Verteidigung des hellenistischen Athen sowie das religiöse Leben der Garnisonsdemen umfasst. Der Autor führt hier zahlreiche Details zu den genannten Schwerpunkten an und hebt unter anderem hervor, dass die Befreiung Athens von der makedonischen Vorherrschaft in den ersten Jahrzehnten nach 228 v.Chr. zu einem „Aufschwung der Garnisonen“ geführt habe (S. 19) und die „Territorialverteidigung eine gesamtstaatliche und keine kommunale Aufgabe“ gewesen sei (S. 29).

Der zweite und umfangreichste Teil der Arbeit ist „Athen unter makedonischer Herrschaft“ in den Jahren 261–228 v.Chr. gewidmet (S. 41–126). In sechs aufeinander aufbauenden Kapiteln bietet Oetjen zunächst einen Überblick über die Maßnahmen, die Antigonos Gonatas ergriff, um die Kontrolle über die besiegte Stadt zu sichern. Zentrale historische Bezugspunkte für seine Diskussion sind in diesem und den folgenden Kapiteln die Angaben von Apollodor und Eusebios, wonach in Athen als Folge der Niederlage im Chremonideischen Krieg Ämter beseitigt und alles dem Willen eines Mannes unterworfen worden (Apollodor) und in der Mitte der 250er-Jahre eine Rückgabe der Freiheit erfolgt sei (Eusebios). Im folgenden Kapitel unterzieht Oetjen die Belege zu den Strategen und Phrurarchen einer eingehenden Untersuchung und kommt zu dem Ergebnis, dass athenische Strategen erst ab der Mitte der 250er-Jahre, also nach der sogenannten Rückgabe der Freiheit, wieder in Rhamnus und Eleusis bezeugt seien und sowohl Rhamnus als auch die Festungen des eleusinischen Bezirks ab der Mitte der 250er-Jahre nicht mehr unter dem Kommando königlicher Offiziere gestanden hätten. Sunion und Piräus seien – wie es Pausanias und Plutarch überliefern – bis zum endgültigen Abzug der Makedonen 229/8 v.Chr. antigonidisch kontrolliert geblieben. Dem Phänomen der Paroikoi, die nur für Rhamnus, nicht aber für Eleusis und Sunion überliefert sind, ist das folgende Kapitel gewidmet. Oetjen gelangt hier zu dem überzeugenden Ergebnis, dass es sich bei ihnen um Militärsiedler gehandelt habe, die von Antigonos Gonatas angesiedelt worden wären, später das Recht auf Landbesitz erhalten und nach der makedonischen Herrschaft im Dienste der Polis gestanden hätten. Ausgehend von dieser Ansiedlung in Rhamnus untersucht der Autor, ob es unter den Antigoniden ein Ansiedlungsprogramm gegeben habe, das mit dem der Seleukiden bzw. der Ptolemäer vergleichbar sei. Auf der Grundlage der bekannten Ansiedlung durch Philipp V. in Larisa und weiteren Fällen von kollektiven Bürgerrechtsverleihungen geht Oetjen auch für die Antigoniden von einem solchen Programm aus (S. 106; S. 108). Im Folgenden diskutiert er die in vorherigen Abschnitten als Bezugspunkt angeführte sogenannte Rückgabe der Freiheit in der Mitte der 250er-Jahre, für deren Zustandekommen er einen vorangehenden Übergriff des Ptolemaios II. Philadelphos auf Attika als notwendig voraussetzt, wenngleich dieser nicht direkt belegbar ist (S. 111–118).

Der dritte Teil der Untersuchung ist den Körperschaften und dem politischen Leben in Rhamnus gewidmet (S. 127–171). Auf der Grundlage der Dekrete wird ein detaillierter Einblick in die gesellschaftspolitischen Zusammenhänge des lokalen Demos geboten, in dem das Neben- und Beieinander der Soldaten und Zivilisten, Demoten und Nichtdemoten, Bürger und Nichtbürger in hellenistischer Zeit – so der Autor – eine Situation geschaffen habe, die nicht nur in den Demen Attikas, sondern auch in der Welt des griechischen Stadtstaates insgesamt einzigartig gewesen sei (S. 127). Nach einem Überblick über die ältere Forschung zu den attischen Demen und die Problematik einer erblichen bzw. territorialen Definition der attischen Demen werden die einzelnen Gruppen der Beschließenden diskutiert. Oetjen hebt hervor, dass die Garnison in Rhamnus die Fähigkeit zu politischer Betätigung und förmlicher Verabschiedung eigener Dekrete erlangt und sich dabei am Vorbild des Demos orientiert habe. Für die Dekrete mit mehreren Beschließenden gelangt der Autor zu dem überzeugenden Ergebnis, dass in ihnen entgegen früheren Forschungspositionen auf eine exakte Nennung der beteiligten Gruppen geachtet worden wäre und die anwesenden athenischen Soldaten als Nichtdemoten konsequent von den Demoten zu unterscheiden seien. Weiterhin ließen die Dekrete eine deutliche Einbindung von Nichtbürgern, also ortsansässigen Fremden, in das lokale gesellschaftliche Gefüge erkennen. Ein Vergleich mit den lokalen Verhältnissen im athenischen Delos nach 167 v.Chr. schließt den dritten Teil ab. Eine kurze Schlussbemerkung (S. 173–175) bietet eine allgemeine Akzentuierung des Vorangehenden. Der Anhang umfasst einen nützlichen Katalog der sicher als Dekrete zu identifizierenden Inschriften aus Rhamnus mitsamt deutscher Übersetzung sowie ein Verzeichnis der verwendeten Literatur. Indizes bietet der Band nicht.

Oetjen gelangt in seiner Untersuchung zu zahlreichen Detailergebnissen, die ob der hier gebotenen Kürze nicht gänzlich berücksichtigt werden können, die jedoch hinsichtlich Rhamnus und der Garnisonsdemen durchweg auf einer eingehenden und detaillierten Diskussion der epigraphischen Quellen beruhen. Sowohl die Deutung der lokalen Paroikoi als ursprüngliche Militärsiedler als auch die strategisch veränderte Rolle, die der lokale Demos ab Mitte der 250er-Jahre für Antigonos Gonatas zu spielen schien und die sich etwa im Wechsel von Phrurarchen zu Strategen zeigt, überzeugen. Gleiches gilt für die Differenzierung der lokalen innenpolitischen Zusammenhänge und Bevölkerungsgruppen und ihrer jeweiligen politischen Rolle auf der Grundlage der Dekrete von Rhamnus.

Demgegenüber ist für einige Ergebnisse, die den polisweiten bzw. überregionalen historischen Kontext betreffen, Kritik vorzubringen. So ist für die sogenannte Rückgabe der Freiheit in der Mitte der 250er-Jahre keinesfalls ein Angriff des Ptolemaios auf Attika als notwendige Voraussetzung zu postulieren (S. 117; S. 173). Die signifikanten Veränderungen betrafen innenpolitische Belange (für eine Eleutheria-Interpretation zentral, aber nicht diskutiert: der Abzug der makedonischen Garnison aus dem politischen Zentrum der Polis); vor allem aber beruht die Angabe zur Rückgabe der Freiheit auf einer spätantiken literarischen Quelle (Eusebios), sodass – naheliegend – auch eine historiographische Interpretation der Vorgänge angenommen werden muss. Die Freiheitserklärung einzig durch Antigonos erfolgt zu verstehen, greift daher zu kurz. Eine ähnliche Kritik ist für das postulierte „antigonidische Siedlungsprogramm“ vorzubringen, das nur dann überzeugt, wenn die allenfalls grob zu datierenden epigraphischen Belege zu den kollektiven Bürgerrechtsverleihungen (Ausnahme: Larisa-Dekret) auf den jeweils vom Autor angeführten historisch-antigonidischen Kontext (Philipp V.) bezogen werden. Da diese Zuweisung unsicher bleiben muss, bleibt auch ein summarisch und zielgerichtet daraus abgeleitetes „antigonidisches Siedlungsprogramm“ zunächst hypothetisch (dagegen S. 106: „hiermit steht fest“). Und ebenso kann Oetjens Vorschlag, bei dem einen Mann, dessen Willen in Athen nach dem Chremonideischen Krieg gemäß Apollodor alles unterworfen gewesen sei, habe es sich um einen königlichen Kommissar namens Asklepiades gehandelt (S. 69f.), nur dann überzeugen, wenn man die naheliegende und bereits vertretende Forschungsposition unberücksichtigt lässt, dieser eine Mann sei Antigonos Gonatas selbst gewesen (so etwa S. Tracy).

In der vorliegenden Untersuchung zeigt sich der übergeordnete historische Zusammenhang bisweilen eng auf die Detaildiskussion zu Rhamnus zugeschnitten. Das Stadt-Herrscher-Verhältnis wird dabei häufig auf die Perspektive des Herrschers bzw. der Garnisonsdemen konzentriert, wohingegen der für dieses Verhältnis nicht unwesentliche Blickwinkel der athenischen Bürgerschaft weitgehend außen vor bleibt. Eine allgemeine Beurteilung des Stadt-Herrscher-Verhältnisses für Athen wenigstens für die Zeit von Antigonos Gonatas und Demetrios II. bleibt letztlich ebenso offen wie die sich aufdrängende Frage, welche Bedeutung die hervorgehobene Einzigartigkeit der Verhältnisse in Rhamnus (etwa S. 127; S. 151) für die Einordnung der vorgelegten lokalen Ergebnisse in die Geschichte des hellenistischen Athen besitzt.

Insgesamt hat Oetjen mit seiner Dissertation eine Untersuchung vorgelegt, in der er Rhamnus und die epigraphische Überlieferung dieses lokalen Demos in den Mittelpunkt stellt und anhand von überzeugenden epigraphischen Detailstudien zu einem differenzierten Bild der dortigen Gesellschaft und politischen Zusammenhänge auch über das 3. Jahrhundert hinaus gelangt. In den Abschnitten, die über Rhamnus hinausgreifen und Athen und die makedonische Vorherrschaft betreffen, bezieht sich die Studie vor allem auf Antigonos Gonatas und die 250er-Jahre. Einzelne Ergebnisse vermögen hierbei nicht durchweg zu überzeugen, da zuweilen naheliegende alternative Argumente in der Diskussion unberücksichtigt bleiben. Für die Forschung zur Polis Athen im 3. Jahrhundert v.Chr., allem voran zu Rhamnus und den Garnisonsdemen, ist die Arbeit zukünftig sicherlich ein zentrales Referenzwerk.

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