F. Jaeger u.a. (Hrsg.): Handbuch Moderneforschung

Cover
Titel
Handbuch Moderneforschung.


Herausgeber
Jaeger, Friedrich; Knöbl, Wolfgang; Schneider, Ute
Erschienen
Stuttgart 2015: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
V, 373 S.
Preis
€ 99,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Kruse, Historisches Institut, FernUniversität Hagen

Wer von einem Handbuch eine strukturierte Einführung in Gegenstände und Theorien, Methoden und Hilfsmittel, Kontroversen und Entwicklungstendenzen erwartet, den mag der Aufbau des hier zu besprechenden „Handbuch Moderneforschung“ etwas erstaunen. Es bietet 28 alphabetisch geordnete Beiträge über die Entwicklung der Moderneforschung in 21 mehr oder weniger sozial- und kulturwissenschaftlichen Disziplinen von der Architekturgeschichte und Architekturtheorie über die Film- und die Literaturwissenschaft bis zur Wissenschaftsgeschichte sowie in 7 regionalwissenschaftlich betrachteten Räumen von Afrika bis zum muslimischen Südasien. Die Herausgeber begründen diese Anlage einleitend mit dem Ziel, nicht „die sie als Epoche ‚objektiv‘ kennzeichnenden Strukturen, Eigenschaften, Entwicklungsprozesse und Formationen“ der Moderne darzustellen, sondern forschungsorientiert und reflexiv herauszuarbeiten, „wie zentrale Disziplinen im universitären Fächerkanon die Moderne als Epochenphänomen bislang aufgegriffen haben bzw. wie sie die Moderne gegenwärtig aus ihren jeweiligen Perspektiven zum Thema machen“ (S. 2f.). Die regionalwissenschaftliche Ergänzung verfolgt darüber hinaus das Ziel, „Debatten über die Moderne in den nicht-westlichen Weltregionen“ zu untersuchen, „die z.T. mit denen im Westen kaum in Einklang zu bringen sind“ (S. 4). Um neben der Vielfalt der Themen und Perspektiven zugleich eine gewisse Einheitlichkeit ihrer Darstellung zu ermöglichen, folgen alle Beiträge einem formal gleichen Aufbau, nach dem sukzessive die Themenfelder (1) Definitionen und Anwendungsbereiche, (2) Forschungsgeschichte, Semantik und Gegenkonzepte, (3) Regionen, Räume und Entwicklungspfade, (4) Zeithorizonte und Epochenkonzepte sowie (5) Themen und Leitprozesse abgearbeitet werden.

Insgesamt entsteht so ein breites Kompendium teils ähnlicher, teils unterschiedlicher Forschungs- und Diskussionszusammenhänge zum Thema Moderne, in dem trotz mancher Wiederholungen und Redundanzen vieles mit Gewinn gelesen werden kann und insbesondere die vielfältigen perspektivischen Widersprüche und Spannungsfelder deutlich hervortreten. Trotzdem lässt diese Bestandsaufnahme disziplinärer und globaler Moderneforschung den Rezensenten insgesamt eher ratlos zurück. Zuerst einmal ist es unbefriedigend, dass die Herausgeber sich nicht die Mühe gemacht haben, wesentliche Grundzüge, Entwicklungstrends und Unterschiede der von ihnen und ihren Autorinnen und Autoren in weit gespannter Breite präsentierten Moderneforschung zusammenfassend herauszuarbeiten. Dies korrespondiert mit einem offenbar grundsätzlichen Verzicht auf systematische, inhaltlich begründete Schwerpunktsetzungen und Strukturierungen, der schon die Anlage des Buches prägt. Man mag das als eine unhierarchische, Offenheit ermöglichende Zugangsweise begreifen, doch kann man darin auch eine Kapitulation vor der Aufgabe sehen, zentrale Problemstellungen, Strukturen und Perspektiven der aktuellen Moderneforschung aufzuzeigen und zu begründen.

Bereits ein Blick in das Personenregister macht demgegenüber deutlich, dass die Moderneforschung keineswegs als ein unhierarchisches Kontinuum vielfältigster Zugänge zu begreifen ist. Mit Max Weber, Theodor W. Adorno, Shmuel N. Eisenstadt, Niklas Luhmann, Reinhart Koselleck und Jürgen Habermas werden historisch arbeitende Sozialwissenschaftler und Historiker (in dieser Reihenfolge) mit Abstand am häufigsten angeführt, was vielleicht doch dafür spricht, bestimmten Disziplinen und Schwerpunktsetzungen für die Entwicklung der Moderneforschung eine wichtigere Bedeutung zuzusprechen als anderen. Der Beitrag des Mitherausgebers Wolfgang Knöbl zur soziologischen Moderneforschung bietet einen substantiellen Überblick über die Entwicklung soziologischer Modernetheorien und -konzepte, doch bleibt er weitgehend auf einer theoretischen Metaebene, bevor er abschließend eine Krise der Makrosoziologie diagnostiziert und angesichts der Globalisierung die kritische Frage aufwirft, ob „die Soziologie zur ‚Modernisierung‘ ihres analytischen Werkzeugs in der Lage ist, oder ob angesichts wenig überzeugender Erträge und vielfach auftretender Aporien allmählich eine Erschöpfung in jener ausufernden soziologischen Debatte um die Moderne eintritt“ (S. 273).

Christof Dipper plädiert demgegenüber in seinem erstaunlich national angelegten, einmal mehr die Theoriearmut der Historiker beklagenden Beitrag über die geschichtswissenschaftliche Moderneforschung für eine Kombination der Schwerpunkte „Kulturschwellen“ und „epochesteuernde Ordnungsmuster“ als „Königsweg für ein historisch tragfähiges Moderne-Konzept“ (S. 97). In den neueren, allerdings höchst unterschiedlichen Überblickswerken von Jürgen Osterhammel, Lutz Raphael und Stefan Plaggenborg sieht er einen Beleg dafür, „dass der reflektierte Umgang mit ‚Moderne‘ der Geschichtswissenschaft Impulse zu liefern vermag, die auf herkömmliche Weise unterblieben wären“ (S. 107). Wie sinnvoll es allerdings ist, für die geschichtswissenschaftliche Moderneforschung zwischen vermeintlich „volkspädagogischen“ und genuin „wissenschaftlichen“ Zielsetzungen zu unterscheiden oder die sozialgeschichtliche Modernisierungsforschung einschließlich Hans-Ulrich Wehlers Klassiker über Modernisierungstheorie und Geschichte ganz auszublenden, weil ihre Vertreter vor der Erleuchtung durch den modernekritischen „cultural turn“ „(noch) nicht hätten sagen können, worin das Wesentliche einer so bezeichneten Epoche bestünde“ (S. 101), muss doch fragwürdig erscheinen. Und Dippers essentialistische Grundsatzargumentation gegen das von Ulrich Herbert vorgeschlagene Konzept der Hochmoderne als generationellem Lernprozess lässt an der proklamierten theoretischen Überlegenheit einige Zweifel aufkommen: „‚Moderne‘ ist aber kein Lernprozess, sondern die Existenzform unserer Zeit, die darum Epochencharakter angenommen hat.“ (S. 96)

Generell schleicht sich die Geschichtswissenschaft in der interdisziplinären Anlage des Buches schließlich doch als eine Art Leitwissenschaft ein, denn neben Dippers allgemeinem Beitrag zur geschichtswissenschaftlichen Moderneforschung beziehen sich mit der Technikgeschichte, der Wirtschaftsgeschichte und der Wissenschaftsgeschichte noch drei andere Beiträge auf Subdisziplinen der Geschichtswissenschaft; weitere drei tragen mit der Architekturgeschichte, der Medizingeschichte und der Stadtgeschichte historische Schwerpunktsetzungen im Titel. Da die Auswahl jedoch unbegründet bleibt und neben anderen historischen Subdisziplinen auch so zentrale Disziplinen wie die Philosophie oder die Politikwissenschaft gar nicht vorkommen, kann man über ihre Bedeutung nur spekulieren. Zweifellos spiegelt sich hier aber auch die kulturwissenschaftliche Schwerpunktsetzung wider, die der Anlage des Buches insgesamt eingeschrieben ist.

Konzeptionell konzentriert sich das Buch generell sehr stark auf die Moderne als Epochenbegriff, während mit dem eher vernachlässigten Konzept der Modernisierung die Prozesshaftigkeit, die doch in vielen Konzeptionen – nicht zuletzt bei dem ansonsten viel reklamierten Koselleck – den Kerngehalt von Moderne ausmacht, an den Rand gerückt wird. Immerhin kommt Knöbl nach der Lektüre einer Untersuchung des Soziologen Andreas Langenohl aus dem Jahre 2010 schließlich doch zu der Erkenntnis, „dass die Idee der ‚Moderne‘ von der Vorstellung der ‚Modernisierung‘ nicht scharf zu trennen ist“ (S. 263). Zugleich treten im Zeichen des „cultural turn“ kulturelle Muster in den Mittelpunkt der Betrachtung, während soziale Strukturen, Konflikte und Prozesse eher randständig behandelt werden. Wichtige Grundlagen und Konzepte der sozialhistorisch angeleiteten Moderneforschung wie Industrielle Revolution, Industrialisierung und Industriegesellschaft spielen keine zentrale Rolle, in Werner Plumpes Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte kommen sie erstaunlicher Weise gar nicht vor. Stattdessen geht es um die „historischen Bedingungen der Möglichkeit dezentraler Koordination ökonomischen Handelns über preisbildende Märkte und bedingt rationale Akteure“ (S. 336). Auch andere Prozessbegriffe wie politisch-soziale Revolution, Emanzipation oder Demokratisierung werden kaum als zentrale Aspekte behandelt, wohl auch weil die kritische Distanz zur Normativität des Moderne-Konzeptes insgesamt eine prägende Rolle spielt. Etwas anders stellt sich dies allerdings in den regionalwissenschaftlichen Beiträgen dar, in denen zwar im Zeichen der „multiple modernities“ nachdrücklich die Eigenständigkeit der jeweiligen Entwicklungen betont wird, Modernisierung aus der außereuropäischen Sicht aber durchaus noch als eine positive Entwicklungsperspektive verstanden wird.

Zusammenfassend kann festgehalten werden: Trotz der berechtigten Skepsis gegenüber der Vielfalt der Inhalte, der Unschärfe der Periodisierungen und der Normativität des Moderne-Begriffs findet sich bisher noch immer kein alternatives Konzept, das die so bezeichnete Epoche historisch besser verorten, systematisch klarer fassen oder normativ überzeugender charakterisieren könnte. Dafür wäre es wohl erst einmal notwendig, sie als abgeschlossen betrachten zu können und für die Folgezeit (unsere Gegenwart und Zukunft?) einen neuen Epochenbegriff zu entwerfen; schon die begriffliche Bindung macht deutlich, dass die „Postmoderne“ dies nicht erfüllen kann. Auch wird es kaum möglich sein, ohne den Rekurs auf Prozessbegriffe eine überzeugende Moderneforschung weiter zu entwickeln. Und für das ambitionierte Ziel, die disziplinären, nationalen und regionalen Grenzen der Modernediskurse und Moderneforschungen zu überschreiten und zugleich ihre Globalisierung voranzutreiben, bietet das „Handbuch Moderneforschung“ erst einmal mehr vielfältige und anregende Vorstudien als ausgearbeitete Ergebnisse und Perspektiven.

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