Cover
Titel
Zeitgenossenschaft. Zum Auschwitz-Prozess 1964


Autor(en)
Warnke, Martin
Erschienen
Zürich 2014: diaphanes
Anzahl Seiten
128 S., 19 SW-Abb.
Preis
€ 17,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Brink, Interdisziplinäre Anthropologie, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Im Labyrinth des Schweigens“ – so heißt ein Spielfilm, der seit November 2014 in bundesdeutschen Kinos die Vorgeschichte des ersten Frankfurter Auschwitz-Prozesses erzählt.1 Ein junger Staatsanwalt wird darin Ende der 1950er-Jahre mit den Vorermittlungen für ein Strafverfahren gegen NS-Verbrecher beauftragt; aus seiner Perspektive erfährt der Zuschauer nach und nach von der Ermordung der europäischen Juden im Vernichtungslager Auschwitz. In der Hauptsache jedoch zeigt der Film, wer sich damals dafür einsetzte, dass einige der Täter sich vor Gericht verantworten mussten, unter welchen Bedingungen Beweismaterial zusammengetragen wurde und vor allem, auf welche Widerstände ein Jurist in den Jahren des „Wirtschaftswunders“ bei seinen Ermittlungen traf. Der Film changiert zwischen historischer Rekonstruktion und Fiktion: Neben historischen Figuren wie dem Journalisten Thomas Gnielka, der bei Recherchen auf Dokumente aus Auschwitz gestoßen war, tritt der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer auf, ohne dessen Engagement das Verfahren kaum in Gang gekommen wäre; die Hauptfigur Johann Radmann dagegen ist fiktiv (bzw. aus drei historischen Figuren verdichtet). Der Film endet, als der Strafprozess im Dezember 1963 im Frankfurter Römer eröffnet wird.

2014 erinnerte auch der Diaphanes-Verlag, seit einigen Jahren bekannt für ein anspruchsvolles Programm aus Literatur, zeitgenössischer Philosophie, Wissenschaft und Kunst, mit einem Buch an den Auschwitz-Prozess. Es beginnt, wo der Film schließt: Vom 7. April bis zum 29. Mai 1964 berichtete der junge Kunsthistoriker Martin Warnke (geb. 1937) in den „Stuttgarter Nachrichten“ über den Prozess. Seine 14 Gerichtsreportagen über die Beweisaufnahme im Frankfurter Verfahren und über den parallel stattfindenden Krumey-Hunsche-Prozess gegen zwei Mitarbeiter aus dem „Sonderkommando Eichmann“, das für die Deportation der ungarischen Juden verantwortlich war, werden hier noch einmal publiziert. Ein weiterer Zeitungsbericht informiert über zwei Diskussionsveranstaltungen am Rande des Frankfurter Prozesses, zu denen eine katholische Jugendorganisation und der hessische Landesverband für Erwachsenenbildung geladen hatten. Warnkes Reportagen zeichnen sich durch einen sachlichen, im Rückblick von 2014 ungewohnt distanziert anmutenden Ton aus. Der Leser erfährt in erster Linie in indirekter Rede, was vor Gericht gesagt wurde. Fragen nach den Motiven der Täter oder Wertungen und Kommentare zum Gehörten findet er in diesen Artikeln nicht. Die auch für damalige Verhältnisse auffällig nüchterne Diktion mag eine bewusste Entscheidung gewesen sein; Warnke verweist selbst auf den Vorbildcharakter von Eugen Kogons Buch „Der SS-Staat“.

Der – in den „Stuttgarter Nachrichten“ namentlich nicht genannte – Verfasser Martin Warnke, der heute zu den renommiertesten deutschen Kunsthistorikern zählt, war 1953 aus Brasilien (wo sein Vater evangelischer Pfarrer war) in die Bundesrepublik gekommen. Im kriegszerstörten Dortmund legte er sein Abitur ab und begann 1957 mit dem Studium der Kunstgeschichte, in der Bundesrepublik damals ein zutiefst konservativ geprägtes Fach. Warnke hatte an der Freien Universität Berlin gerade seine Promotion „Kommentare zu Rubens“ abgeschlossen, als ein Freund, der Romanistikstudent und später bekannte Psychoanalytiker Tilmann Moser, ihn fragte, ob er an seiner Stelle für die „Stuttgarter Nachrichten“ über das wenige Monate zuvor eröffnete Verfahren schreiben wolle. Warnke übernahm die Aufgabe – „keine Überzeugungstat“, wie er selbst im Interview mit den Herausgebern des Buches sagt, „sondern eine mehr oder weniger zufällige Gelegenheit“ (S. 65). Er verfolgte das Strafverfahren über nicht ganz zwei Monate. „Danach hatte ich wunderbarerweise eine Stelle, eine Volontärsstelle in Berlin. Da musste ich Hals über Kopf abbrechen.“ (S. 98) Warnke schrieb danach nicht mehr über den Auschwitz-Prozess, blieb aber weiterhin für die „Stuttgarter Nachrichten“ tätig.

Im Bändchen des Diaphanes-Verlags werden Warnkes Reportagen ergänzt um einen Beitrag von Norbert Frei, in dem dieser über das Zustandekommen des Prozesses und vor allem über die Rolle Fritz Bauers informiert. Den meisten Platz nimmt ein Interview ein, das Birgit Franke, Pablo Schneider und Barbara Welzel mit Warnke anlässlich der Veröffentlichung seiner Reportagen geführt haben. Im Kern kreist dieses Gespräch um zwei Fragen: Was legitimiert 50 Jahre nach dem Prozess die Herausgabe von Warnkes Zeitungsberichten? Lässt sich in ihnen – seinen ersten publizierten Texten – bereits erkennen, was den Kunsthistoriker später auszeichnen sollte? „Es geht uns um die Frage, was es heißt, Kunstgeschichte zu betreiben, und gleichzeitig Bürger zu sein, oder ein politisch wirklich intellektueller Zeitgenosse zu sein.“ (S. 105) Immer wieder fragt Warnke die jüngeren Kollegen, warum sie seine Berichte neu herausgeben wollen; immer wieder versuchen sie eine Antwort. Letztlich bleibt die Frage aber auch für den Leser unbeantwortet. Welchen Erkenntniswert bieten die Reportagen heute, nachdem das Fritz Bauer Institut in Frankfurt dem Prozess, seiner Vorgeschichte und seinen Folgen im Jahr 2004 eine große Ausstellung gewidmet hat2, nachdem inzwischen die Tonbandprotokolle zugänglich sind3 und auch das Urteil ediert wurde4? Schon seit den 1960er-Jahren lagen einer interessierten Öffentlichkeit die Gerichtsreportagen von Bernd Naumann, der den Prozess kontinuierlich für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ verfolgte, und von dem Überlebenden Hermann Langbein vor. Norbert Freis sachkundiger Text über den Prozess schließlich war bereits an anderer Stelle zu lesen; er wird hier in einer überarbeiteten Fassung publiziert.

Noch einmal zurück zum Film „Im Labyrinth des Schweigens“ und zu den Fragen, die er stellt: Wie kann man Ende der 1950er-, Anfang der 1960er-Jahre Genaueres über NS-Verbrechen in Erfahrung bringen? Wie recherchiert man in einer Zeit, als in den Bibliotheken noch kaum Bücher darüber zur Verfügung stehen? In welchem erinnerungspolitischen Kontext geschieht das? Wer verweigert, blockiert, bremst die Aufklärung? Aber auch: Wer will mehr wissen, und wie kann man zu Antworten gelangen? Gleich, ob man den Film für ein gelungenes ästhetisches Produkt hält oder nicht, sind es diese Fragen, die sich auch aus historiografischer Perspektive für das damalige Geflecht aus Verdrängung, Verleugnung, Verklärung, Unwissen stellen, das bei der Suche nach Fakten zu durchdringen war. Am Rande streift das Interview mit Warnke ähnliche Aspekte, wenn es etwa um die Bedingungen des Publizierens Anfang der 1960er-Jahre geht, die sich so sehr von unserer digitalen Gegenwart unterscheiden. Doch kehren die Fragenden immer wieder zu dem Kunsthistoriker zurück, der Martin Warnke heute ist.

Deshalb hinterlässt die Lektüre am Ende eine gewisse Ratlosigkeit. Aus den Zeitungsberichten ist kaum Neues zu erfahren; dass ein junger Akademiker kurzfristig als „Zufallsjournalist“5 einen Job annimmt, der – wie sich später zeigt – mit einem der wichtigsten erinnerungspolitischen Ereignisse in der Geschichte der Bundesrepublik verbunden ist, und ihn ebenso kurzfristig wieder beendet, als er in seinem eigentlichen Metier arbeiten kann, ist nachvollziehbar und nicht zu bewerten. Vor allem dokumentieren Neuherausgabe und Interview die Ziele einer Generation von Kunsthistorikern, die nach Vorbildern und einer Art Genealogie für die eigenen Anliegen sucht. Auch das ist nachvollziehbar und verdiente weitere Diskussionen über die Kunstgeschichte unserer Gegenwart. Ob man dafür den Umweg über die kurzzeitige Prozessberichterstattung eines ihrer Vertreter gehen muss, bezweifle ich, und in Warnkes Antworten scheint mir ein ähnlicher Zweifel durchzuklingen. Um Warnke kennenzulernen, dessen Studien auch für Historiker und Historikerinnen nach wie vor wertvolle Erkenntnisse bereithalten, sollte man dessen Bücher lesen (etwa „Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers“, Köln 1985) und seine zahlreichen Beiträge zur politischen Ikonografie. Und um etwas über den ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess zu erfahren, kann man heute – nicht zuletzt dank des Engagements des Fritz Bauer Instituts – auf eine Fülle von Literatur, Audio- und Filmmaterial zurückgreifen.

Anmerkungen:
1 <http://www.imlabyrinth-film.de> (10.01.2015).
2 Siehe die Rezension von Sabine Horn, in: H-Soz-Kult, 03.05.2004, <http://www.hsozkult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen-22> (10.01.2015).
3 Vgl. Annette Weinke, Überreste eines „unerwünschten Prozesses“. Die Edition der Tonbandmitschnitte zum ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965), in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 2 (2005), S. 314–320, <http://www.zeithistorische-forschungen.de/2-2005/id=4749> (10.01.2015).
4 Friedrich-Martin Balzer / Werner Renz (Hrsg.), Das Urteil im Frankfurter Auschwitz-Prozess (1963–1965). Erste selbständige Veröffentlichung, Bonn 2004; siehe dazu die Rezension von Heike Krösche, in: H-Soz-Kult, 12.10.2004, <http://www.hsozkult.de/publicationreview/id/rezbuecher-4901> (10.01.2015).
5 Julia Encke, Der Zufallsjournalist, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 26.10.2014, S. 45.