J. Ruchatz: Die Individualität der Celebrity

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Titel
Die Individualität der Celebrity. Eine Mediengeschichte des Interviews


Autor(en)
Ruchatz, Jens
Erschienen
Konstanz 2014: UVK Verlag
Anzahl Seiten
589 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Patrick Merziger, Historische und Systematische Kommunikationswissenschaft, Universität Leipzig

Folgen wir Jens Ruchatz, dann leben wir in einer „interview society“. Zwar kann man sich als Zeitungsleser bzw. Zeitungsleserin des Eindrucks nicht erwehren, dass die Flut der Interviews nicht zuletzt Ausdruck der Zeitungskrise ist. Schließlich sind Interviews günstiger als Gastbeiträge und der Journalist spart sich Durchdringung und Gestaltung des Themas. Jens Ruchatz aber sieht bedeutendere Gründe für die Popularität des Interviews. In einer Zeit, in der Medien zunehmend auf Skepsis stießen, sei das Interview die einzige journalistische Form, die unhinterfragt als „Ort des authentischen Ichs“ gelte. Dieser unkritischen Haltung will Ruchatz nun seine Analyse der Funktion des Interviews für die Gesellschaft entgegen stellen, die bisher in der Forschung komplett fehle.

Ruchatz legt hier also keine „Mediengeschichte des Interviews“ vor, sondern eine diskursgeschichtliche „Untersuchung der Gattung“; er nimmt auch nicht das Interview als solches in den Blick, sondern vor allem eine bestimmte Form, das „Celebrity“-Interview. Bei seiner Untersuchung will er „nicht allein formanalytisch“ vorgehen, sondern die dem Interview jeweils „zugeschriebenen Merkmale“ ermitteln (S. 21f.). Für eine historische Diskursanalyse wäre natürlich eine systematische Erhebung der Stimmen zum Interview notwendig. Ruchatz setzt auf Einzelfunde und punktuelle Einblicke, die ihm ausführliche Reflexionen über das Interview als solches erlauben. Im ersten Teil will er auf diese Art und Weise Form und Funktion des Interviews im Medium der Presse genauer bestimmen. Im zweiten Teil verfolgt er den Einsatz von Interviews in Hörfunk, Fernsehen, Film und in den Medien des Internets. Schließlich spürt er dem Zusammenhang des Interviews mit der Genese der „celebrity“ nach. Es handele sich bei diesem dritten Teil um keinen zufälligen Appendix, sondern er liege aufgrund der „Kongenialität von Celebrity und Interview“ (S. 466) nahe.

Mit der Diskussion über das Zeitungsinterview, die in den USA um 1870 beginne, habe gleichzeitig auch die Kritik eingesetzt, die sich dagegen verwehrt habe, dass hier das Private in die Öffentlichkeit gezerrt werde. Ruchatz merkt an, dass letztlich erst die Betonung solcher Grenzen das Private ins Bewusstsein rufe und damit das Interview ein wichtiger Faktor für die Genese dieser Vorstellung sei. Bis heute bleibe die Erwartung gültig, die sich in diesen frühen Diskursen herausgebildet habe, dass das Interview, Privates authentisch abbilde. Skandale aus der neuesten Zeit illustrieren das trefflich, da viele Erregungsspitzen erst vor diesem Hintergrund verständlich werden. Tom Kummer provozierte einen medialen Aufruhr, als im Jahr 2000 bekannt wurde, dass seine hochgelobten kleinen Novellen zu Begegnungen mit Stars wie Brad Pitt oder Sharon Stone tatsächlich nur Fiktionen und Collagen waren. Ebenso groß war das Aufsehen, als „die tageszeitung“ 2003 die übliche und eigentliche bekannte Praxis zum Thema machte, dass Interviews nachträglich autorisiert und nicht unwesentlich verändert werden.

Im zweiten Teil ruft Ruchatz in impressionistischer Manier einige Momente aus der Geschichte des Interviews in Erinnerung und fragt dabei, wie unter den jeweils neuen medialen Bedingungen das zentrale Versprechen des Interviews, Unmittelbarkeit herzustellen und Privates auszustellen, umgesetzt wird. Für die Weimarer Republik analysiert er drei Radiozeitschriften, kann aber keine Hinweise auf Interviews im eigentlichen Sinne finden, da der staatlich kontrollierte Rundfunk bekanntlich dialogische Formen verbannte, um nicht die politische Diskussion anzuheizen. Ruchatz verfolgt dann den Einsatz des Interviews im Fernsehen. Er stützt sich dabei auf einige Artikel aus dem „Spiegel“, der „systematisch vom Beginn des Fernsehens bis ins Zeitalter der Talkshows ausgewertet wurde“ (S. 558). Ergänzend zieht er die Fachzeitschrift „Medium“ hinzu, findet aber zwischen 1971 und 1980 nur zwei kurze Beiträge zum Thema. Ruchatz kann feststellen, dass eine funktionale Entsprechung – das Fernsehen und das Interview suchten nach dem Menschen hinter der Fassade und versprächen seine authentische Darstellung – dazu geführt habe, dass die Form trotz allen Wandels lebendig geblieben sei. Zumindest aber in der Kunst und Philosophie lasse sich mit der Zeit auch eine „Reflexivierung“ feststellen: Andy Warhol und Jaques Derrida machten die Bedingungen des Interviews im Interview selbst zum Thema.

Das Interview gewinne also mit dem Medienwandel im 20. Jahrhundert stetig an Bedeutung, so dass wir uns inzwischen in der erwähnten „interview society“ befänden, die dann gleichzeitig eine „Celebritykultur“ sei. Denn im Interview müssen und dürfen sich die „celebrities“ in ihrem wahren Wesen präsentieren. Man mag sich von Ruchatz’ Pointe überraschen lassen, dass wir keine „wirklichen“ Einblicke in das Leben der „celebrity“ gewinnen, sondern dass das Authentische durch die Interviews erst hergestellt wird und dass das Interview Teil der Inszenierung ist. Auch Charlotte Roche hat das schon geahnt: „Ich bin erst nach dem sechsten Bier authentisch.“ (zit. nach S. 256)

Nach Ruchatz besaß das „Celebrity“-Interview eine erstaunliche „kulturelle Produktivität“ (S. 26), die seine zentrale Funktion in der pluralistischen und zerrissenen modernen Gesellschaft ausmacht. Die Leserinnen und Leser, die Zuschauerinnen und Zuschauer lernten am Vorbild, wie sie trotz allem Individualität auf- und ausbauen können – oder in Ruchatz’ Worten: „Celebrities stellen konkretisierte Formen einer allgemeinen Semantik von Individualität dar, die als Folien der Individualisierung exemplarisch Möglichkeiten vorführen, die Bestimmungslosigkeit des Individuums in eine sozial prozessierbare Bestimmtheit zu transferieren.“ (S. 540)

Um zu diesen Pointen zu gelangen, müssen die Leserin und der Leser sich durch wort- und exkursreiche Textstrecken arbeiten. Sie gewinnen Einblicke in unterschiedliche Formen, die ein Interview annehmen kann, vor allem aber in das Interview mit dem Star. Ruchatz schließt mit der Mahnung, dass man es sich mit dieser Form nicht zu einfach machen dürfe. Denn im Interview kämen Interview, Celebrity und Individualität in einem „harmonischen Dreiklang“ zusammen. Diese Drei bildeten die zentralen „Größen“, „Bereiche“ „Felder“, „Komplexe“, „Faktoren“ oder auch „Funktionen“ des Interviews (S. 12, 536). Ohne Celebrity kein Interview, ohne Interview keine Individualität, ohne Individualität keine Celebrity.

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